Äpfel, Pflaumen, Birnen (Erster Teil)

Man verliert Menschen aus den Augen, mit denen man mal viel zu tun hatte. Man hat lange nichts mehr von ihnen gehört. Und dann, nach langer Zeit, bekommt man eine traurige Nachricht. Manchmal aber ist diese Nachricht falsch. Das ist erleichternd, aber ein Rest von Verstörtheit bleibt.
Ich war in die Klassensprecherin verliebt. Sie war blond, sehr gescheit und sehr ordentlich. Ich wußte nicht, wie ich einem Mädchen sagen sollte, daß ich in sie verliebt war. Sie wußte also nichts davon. Meingott, wie alt war ich? Elf Jahre. Ich nenne ihren Namen nicht, sie könnte es lesen. Es wäre zu spät, würde sie es jetzt erfahren.
Sie wechselte zum Gymnasium, ein Jahr früher als ich. Weg war sie. Da blieb mir nichts anderes übrig, als mich in ihre Nachfolgerin zu verlieben. Das war Ingrid Ulmer. Sie hatte flammenrotes Haar, wirres, wildes Haar, das in alle Richtungen stand, und sie war sehr gescheit und sehr ordentlich. Sie hatte ein rundes Gesicht, und ein Vorderzahn stand ein bißchen schief. Sie hatte ein bißchen mehr Temperament als ihre Vorgängerin und lachte mehr. Ein paar Jungens in der Klasse sagten immer „jaa, jaa!“, wenn ich den Namen Ingrid aussprach. „Jaa, jaa! Du und die Ingrid!“ Die fanden, Ingrid und ich müßten ein Paar sein. Das würde sich so gehören, daß wir ein Paar sind.
Als wir dann auf „Höhere Schulen“ (wie man damals sagte) wechselten, auf verschiedene, denn es gab damals nur Jungens- und Mädchensgymnasien, waren wir getrennt. Ich zog auch noch in einen anderen Stadtteil, wir wußten nichts mehr voneinander. Aber dann begegneten wir uns wieder, ein paar Jahre später, und zwar auf einer Demonstration.
„He, du! Auch hier?“
Es war die Zeit gekommen, in der eine intelligente junge Frau, um ihre Intelligenz nicht zu verraten, demonstrieren mußte, und zwar für ein Ganzes gegen ein Ganzes. Da war ich dann manchmal wieder bei ihr zu Besuch. Da waren viele zu Besuch, die wenigsten kannte ich. Es wurde viel und schnell geredet. Manchmal waren außer mir nur ein oder zwei Besucher da. Da wurde weniger und langsamer geredet.

Buchholz01Sie hatte immer noch ihr Zimmer unter dem Dach des alten Hauses, wo wir auch schon mal Kindergeburtstag gefeiert hatten. Jetzt hatte das Zimmer eine weiß-rote Tapete mit großem Muster. An der Wand hing ein Plakat von Rudi Dutschke und ein Plakat von Che Guevara. Später hing da auch ein Plakat von Mao, neben einem Plakat von Juliette Gréco.
Bevor wir uns dann wieder aus den Augen verloren (ich nahm an, daß sie wohl in eine andere Stadt gezogen war, um zu studieren), sahen wir uns öfter auf der Straße, wenn etwas los war, bei Demonstrationen etwa oder sonstigen Happenings. Unsere Kommunikation war allerdings blockiert, denn wir hatten uns beide in die KPD/ML verirrt. Sie war eine fleißige und sehr ordentliche KPD/MLerin.
„He, du! Wann kommst du denn mal wieder mich besuchen?“ fragte sie. Das irritierte mich. Denn wir gehörten zu zwei verschiedenen Fraktionen der KPD/ML, waren also Feinde. Ihre Freundlichkeit konnte nichts Gutes verheißen, dachte ich (so ein Idiot war ich mal).
„Komm doch einfach mal vorbei. Es gibt Birnenkompott“, sagte sie mit etwas Spott in der Stimme.
Ich mußte mir wehmütig eingestehen, daß die bewundernswert war, wie sie immer da stand, alles überblickte, sich nie aus der Ruhe bringen ließ, manchmal überlegen lächelte. Ach, wäre sie doch bloß nicht in dem falschen Verein! Sondern bei uns! (Dann wäre sie in einem genauso falschen Verein gewesen).
Das alte Haus, in dem sie mit ihren Eltern wohnte, war typisch für dieses Viertel am südlichen Rand der Stadt. Da gab es nur alte Häuser und noch ein paar Bauernhöfe. Die Häuser hatten große Gärten mit Hühnerställen, Gemüsebeeten und Obstbäumen. Hinter Ingrids Haus war eine große Wiese mit hohem Gras und einige Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume, dazwischen Sträucher mit Himbeeren, Stachelbeeren, roten und schwarzen Johannisbeeren, ein Kirschbaum. Für die Äpfel mußte man in die Bäume klettern; die Birnen fielen herunter, und man mußte sie aufheben. Viele Birnen blieben im hohen Gras liegen, es war ein Überfluß an Früchten, aus denen alles gemacht wurde, was man sich nur vorstellen konnte: Apfelkuchen, Pflaumenkuchen, Birnenkompott, Marmeladen, Gelees, Pflaumenmus, sogar Liköre, Schnäpse und ein Birnenwein. Im Herbst und im Winter, wenn es schon nachmittags dunkel wurde, dann gab es was zu genießen: Pflaumenkuchen mit Sahne und schwarzem Kaffee, vorher ein Glas Birnenwein, danach ein Glas von dem Birnenschnaps, der einem für einen Moment die Stimme raubte. Der wurde im Keller schwarz gebrannt. Alle Nachbarn wußten das. Das Zollamt brauchte es nicht zu erfahren. Hinter dem Fenster wiegten sich die Zweige der kahlen Bäume in der Abenddämmerung, und wir waren selig von den Genüssen, die Gespräche wurden leiser und langsamer. manchmal wurde sogar geschwiegen.
„Die Ingrid Ulmer ist tot.“ Das sagte mir einer, und zwar unser Lehrer von damals, den ich zufällig getroffen hatte und der mir von denen berichtete, von denen er noch etwas wußte. „Die Ingrid Ulmer ist tot.“
Ich hörte es und sagte dann nichts. Man fragt dann immer: „Woran ist sie…“ Ich wollte es nicht erfahren. Ich erinnerte mich wieder daran, daß ich sie bewundert hatte, und daß ich in sie verliebt war, mit der Herzensglut eines zwölfjährigen Jungen. Ich erinnerte mich an den Schmerz einer Liebe, die sprachlos bleibt.
Ich erinnerte mich daran, daß ich in dem Zimmer unter dem Dach, von wo man die schwarzen Äste und Zweige der Bäume vor dem Abendhimmel sah, einen Frieden gespürt hatte, der so zerbrechlich und verletzlich war wie alle Kreatur.
Ich hätte gern gewußt, ob das alte Haus noch da steht, ob hinter dem Haus noch das Gras wächst und ob die Bäume noch in den Abendhimmel ragen.
In dem dörflichen Viertel am südlichen Rand der Stadt war ich lange nicht mehr gewesen. Ich fürchtete, hier könnten meine Erinnerungen beschädigt worden sein von Abrißbaggern und Baulanderschießern. Ich war wieder da und war beruhigt. Die Bauernhöfe gibt es zwar nicht mehr (wozu auch). Mehr Autos an den Straßenrändern, statt der Hühnerställe sind jetzt da Garagen, hinter den Häusern wächst kein Gemüse mehr. Aber sonst hat sich wenig verändert.
Vor einem der Häuser, mitten auf dem Gehweg, steht ein kleiner Tisch, darauf ein paar Stapel mit Büchern und ein Schild: „Bitte mitnehmen!“ Was sind das für Bücher? Lenin! Stalin! Dietz-Verlag!Aufbau-Verlag! Wer soll das hier mitnehmen?
„He, du! Die hab ich extra für dich da hingelegt, Helmut!“
Jetzt sehe ich, daß eine Frau hinter der wohl zwei Meter hohen Hecke steht. Flammenrotes Haar sehe ich zwischen den Zweigen, und ein rundes Gesicht, das mich angrinst.
„Ingrid! Ingrid! Ich dachte, du wärst…“ Ich breche den Satz rechtzeitig ab.
„Da bist du also doch noch! Komm rein!“ sagt sie. Sie dreht sich zu mir um: „Komm mit rein auf ein Glas Birnenwein. Du erinnerst dich.“
„Jaa. Äpfel, Pflaumen, Birnen.“
„Genau! Apfel! Pflaumen! Birnen!“

FORTSETZUNG FOLGT.

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