Steinbart-Gymnasium: Fragwürdige Traditionspflege (2)

Samstags nach der zweiten Stunde versammelte sich die „Schulgemeinde“ nebst stolzen Eltern, Ehemaligen, Löbenichtern, Jubilaren in der Aula zu einem würdevollen Spektakel mit Schulorchester.
Bei der traditionellen Abiturfeier fanden sich neben den Abiturienten und deren Eltern, dem Lehrerkollegium, den Schülern (ab Untertertia), den 25- und 50jährigen Abiturjubilaren und einigen Honoratioren auch die Löbenichter ein. Das Steinbart-Gymnasium unterhielt eine Schulpartnerschaft mit dem Löbenichter Realgymnasium in Königsberg.
Dieses Realgymnasium war eines allerdings nicht: real. Es war ein Erinnerungsposten. Aber die Verbundenheit wurde bei feierlichen Anlässen beschworen bzw. bekräftigt. In der Redaktion der Schulzeitung Steinbart-Blätter gab es ein Ressort „Löbenichter“. Der zuständige Redakteur hatte nichts zu tun. Was soll man schon über ein Irreal-Gymnasium berichten? Im Schulgebäude gab es sogar ein Löbenichter-Zimmer. Vielleicht gibt es das heute noch, und es wurde nur vergessen, wer den Schlüssel dafür hat. Vielleicht denkt man heute, das wäre früher das Extra-Lehrerzimmer für die Herren des Kollegiums gewesen, die nie gelobt haben.
Aber zu meiner Zeit durften die Löbenichter noch aufmarschieren. Jeder Abiturient wurde nach Überreichung des Abiturzeugnisses weitergereicht an den Löbenichter Ehrenpräsidenten, einen schon etwas hinfällig wirkenden Herrn, der den Abiturienten eine goldene Nadel, die sogenannte Alberte, an die Brust heftete. Der Mann war berüchtigt, weil er das An-die-Brust-Heften wohl wörtlich nahm.
Als ich zur Entgegennahme des Abiturzeugnisses schritt (1969), blieb mir das Erlebnis der unter die Haut gehenden Verbundenheit erspart. Das Zeugnis steckte in einer Klarsichthülle, und die Alberte war dem beigelegt. Ich war nur eine halbe Stunde lang Besitzer einer Alberte, von der ich mich leicht trennte, weil ich in ihr ein Symbol des Revanchismus sah. Beim anschließenden Empfang merkte mein Klassenkamerad Hartmut Pawlik, daß ihm die Alberte wohl aus der Hülle gefallen war, und ich sagte: „Da! Kannz meine haben.“

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