Bürgergefühle (Kommunalwahl 2014)

„Als das Bürgertum seine Fähigkeiten erkannte, war es entsetzt
– und flüchtete in die Restauration.“
Friedrich Engels

Einer, schrieb in einem Internetforum:
„Nichtwählen und ungültig wählen ist Verrat an der Demokratie. Wer sich dem Votum verweigert, verwirkt das Recht auf Kritik und Mitwirkung. Und weil diese Verwirkung von Rechten mit dem Demokratieprinzip unvereinbar ist, gefährdet jeder Nicht- oder Ungültigwähler die Stabilität der Demokratie. Wer soll denn ein Wahlergebnis respektieren, das von einer kleinen Minderheit gestaltet wurde? Wählen bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und auch Kompromisse einzugehen. Wem ‚die Parteien‘ nicht passen, der darf gern eine eigene gründen. Aber Parteien sind keine Dienstleistungsbetriebe für gelangweilte und selbstsüchtige Konsummenschen, die von der Politik das bequeme Ausschütteln ihres gesellschaftlichen Ruhekissens erwarten. ‚Die Politik‘, ‚die da oben‘ und ‚was kann ich schon tun?‘ sind die Floskeln derer, die weder die Lust noch den Verstand haben, sich ihrer originären Verantwortung als Bürger eines Landes zu stellen. Ja, es sind diejenigen, die sich eine politikfreie Wohlfühldiktatur wünschen, wo ein starker Staat ihnen abnimmt, sich über das Leben an sich Gedanken zu machen. Hauptsache nicht denken müssen. ‚Ich habe nichts gewußt‘ ist die Ausrede derer, die nichts wissen wollten, weil denken belastet. Und wer nicht wählen geht oder ungültig wählt, der befreit sich vermeintlich vom Ballast der Verantwortung und hofft auf störungsfreies Konsumieren demokratischer Früchte.“

Auch wenn das Plädoyer für die Nutzung des Stimmrechts nicht ganz abwegig ist, so ist es doch bedenklich, wenn auch hier wieder die Demokratie dargestellt wird als eine Verpflichtung, die der Einzelne der Allgemeinheit gegenüber zu erfüllen hat. Man sollte doch besser nicht danach fragen, was du für das Land tun kannst, sondern was das Land für dich tut.
Für die Konservativen ist die Demokratie ohnehin nichts anderes als der Preis der Macht.
Und wer – allein schon durch fundamentale Unkenntnis – den Wahlschein ausfüllt wie einen Lottoschein, der hat durch das Lotto jahrelang die Schule der Niederlage besucht; bloß mit dem Unterschied, daß die erwartete Erkenntnis „Widder nix“ sich bei der Bundestagswahl nicht schon am nächsten Samstagabend einstellt.
Der Versuch, mit der „Anti-Parteien-Partei“ das politische Spektrum umzugestalten, ist gescheitert. Eine Stimme für die Grünen ist eine Stimme für das, wofür auch die anderen etablierten Parteien stehen: Marktwirtschaft, NATO, Bundeswehreinsätze. Neben den Linkswählern sind es doch gerade die Nichtwähler, die die politische Landschaft verändern. Der Nichtwähler kann sagen: „Seitdem ich nicht mehr wähle, werde ich wahrgenommen.“ Die Nichtwähler haben ihren Teil dazu beigetragen, die „Volksparteien“, dieses Pubertätsphänomen einer Demokratie, die sich nicht traut, eine zu sein, zu demontieren, und dafür sei ihnen gedankt. Daß davon die SPD mehr betroffen ist als die CDU, mag manchem fatal vorkommen. Ungerecht ist es nicht.
Auf den Ratschlag, daß die, denen „es nicht paßt“ doch selbst eine Partei gründen könnten, möchte man antworten: „Haa haa haa!“ Allerdings ist das Gründen von Parteien derzeit ein weitverbreitetes Hobby, besonders in Duisburg, wo es ja bekanntlich noch mehr Verrückte gibt als anderswo. Bei der Kommunalwahl traten sie dutzendweise an mit Namen wie „Bürgerunion“, „Freie Bürger“, „Bürgerliche Liberale“, „Bürgerliche Mitte“ etc. pp., um „es“ „denen da oben“ „mal zu zeigen“. Und was haben die, die sich durch die etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen, zu bieten? „Bürgernähe“, „Bürgerwille“, „Leistung“, „gegen Verschwendung“, „Bürgerwille statt Bevormundung“, „gegen Korruption“, „für unsere Kinder“, „gegen Bürokratie“, „Zukunft“ – kurzum: dieselben Phrasen wie die Parteien, von denen sie sich enttäuscht abgewendet haben. „Für das Gute, gegen das Schlechte“ lautet ihr gemeinsames Programm. Daß bei ihnen der „Mittelstand“ stets hervorgehoben wird, drückt nicht ein wirtschaftspolitisches Konzept aus, sondern ihren Hang zur Mittelmäßigkeit. Zur Rede gestellt, was sich denn nun ändern müsse, lautet die Antwort, daß „die Politiker“ sich nicht nur dauernd die Taschen vollstopfen, sondern sich endlich mal um die wirklichen Probleme kümmern sollen, zum Beispiel, daß die Arbeitslosen nicht mehr dauernd ihre Kippen auf den Bürgersteig werfen.
Das Aufwallen solcher Bürgergefühle ist von Grund auf antidemokratisch. Dem Bürger graust es vor den Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters, vor Aufklärung und Egalität, und die Freiheit erfüllt ihn mit Angst. Der Bürger mag den bürgerlichen Staat nicht leiden, weil das – seinem Empfinden nach – eben ein Staat der Beamten, der Bürokraten, der milden Richter, der Egalitären, der Weicheier ist, ein Staat ohne Kraft und Herrlichkeit, ohne wirkliche Autorität.
Die Bürokratie ist ein Charakteristikum des bürgerlichen Staates. Sie ist ein Übel, das ein größeres Übel ablöste. Der Stempel und die Bewilligung traten an die Stelle feudaler Gunst und Gnade. Das will dem bürgerlichen Sozialisationstypen aber nicht einleuchten. Es paßt ihm nicht, daß er für den bürokratischen Entscheidungsträger Nachweise erbringen muß, wohingegen eingeübte Unterwürfigkeit ihm nichts nutzt. Der Gunst und Gnade des Feudalherrn wähnt er sich hingegen sicher, weil er ja brav und fleißig ist.
Der Bürger, dessen Bürgerlichkeit nicht bloß ein rechtlicher Status ist, sondern eine Weltanschauung, nimmt dem bürgerlichen Staat übel, was er einem absolutistischen Monarchen nicht übel nehmen würde. Der bürgerliche Staat zieht ihm das Geld aus der Tasche und wirft es zum Fenster hinaus, findet er. Einem König Ludwig II würde er bereitwillig den letzten Groschen hinterherwerfen, damit er Prachtschlösser zum Sich-drin-Langweilen bauen kann.
„Bürgerwille statt Bevormundung“ lautet der Slogan. Was aber will der Bürger denn? Eigentlich gar nichts anderes als bevormundet zu werden – dann aber bitte richtig und von den Richtigen. Er will einen starken Staat, der durchgreift, kontrolliert, vollstreckt, herrscht, befehligt, lenkt. Dazu sind unsere Politiker heutzutage eben nicht mehr imstande.

(Diese Glosse schrieb ich anläßlich der Kommunalwahl 2009. Inzwischen hat sich natürlich alles von Grund auf geändert).

3 Gedanken zu „Bürgergefühle (Kommunalwahl 2014)

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