Wie eine Monstranz?


Ein etwa zehnjähriger Junge geht bei strömendem Regen die Straße entlang. Er trägt die offene Schultasche vor sich her, es regnet hinein. Er trägt die Schultasche, deren Inhalt vom Regen aufgeweicht wird, wie eine Monstranz. Warum er das tut, erfährt kein Mensch, und seine Absicht wird er auch nicht erklären können, auch nicht sich selbst.
Hans Schnier sieht diesen Vorgang vom Hotelzimmer aus. Er erzählt davon seiner Freundin Marie Derkum, und die glaubt ihm das nicht.
Bild aus dem Film „Ansichten eines Clowns“ von Vojtech Jasny, BRD 1976, nach dem Roman von Heinrich Böll (1963).
Das Buch habe ich ein paar mal gelesen, den Film nur zwei mal gesehen. Als ich diese Szene, die mich amüsierte, im Film sah, erinnerte ich mich nicht, sie im Buch gelesen zu haben.
Das Buch las ich zum ersten Mal mit 15 Jahren, und es war, ähnlich wie die Musik der Beatles ein Jahr zuvor, ein Schlüsselerlebnis. Es wurde mir bewußt gemacht, daß ein anderes Leben möglich ist als mir – im Einklang mit den Autoritäten – vorgezeichnet schien.
Werde ich der Szene gerecht, wenn ich sie lustig finde? Wo doch auch Tragik sich in ihr offenbart? Eine Frage, die ich mir längst beantwortet habe.
Das Buch könnte ich ja mal wieder lesen.

Leistungen und Bedürfnisse

Peter Kropotkin hat gesprochen:
Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842-1921) war ein kluger Mann. Darum hätte sein anarchistischer Fanclub ein geeigneteres Zitat einem Zusammenhang entnehmen können. Man könnte (falls böswillig) das so mißverstehen, die Predigt bürgerlicher Ökonomen nach „Lohnverzicht“ würde hier bis zur Totalität gesteigert. Oder so gesagt: Die „zukünftige Gesellschaft“ müßte schon SEHR zukünftig sein.
Der zweite Satz ist dafür umso eindeutiger zu bekräftigen!

P.S.: Diese Organisation „Die Plattform“ ist übrigens immer noch aktiv und im Netz zu finden.
P.P.S.: Daß in der Buchhandlung Weltbühne Bücher von Kropotkin zu kriegen sind ist Ehrensache.
P.P.P.S: Das Wort „Fanclub“ ist gar nicht so despektierlich gemeint wie manche es empfinden mögen.

Gegen Vergesslichkeit!

Vor wenigen Tagen habe ich verkauft: Ditte Menschenkind, das Buch von Martin Andersen Nexø. Dieses Buch des dänischen Schriftstellers war jahrzehntelang Standard-Titel in der Buchhandlung Weltbühne. Also hätte dieser Titel jetzt nachbestellt werden müssen.
Hätte! Aber:
Im VLB (dem Verzeichnis lieferbarer Bücher) ist dieser Titel nicht mehr aufgeführt. Keines von den zahlreichen ins Deutsche übersetzten Werken des Autors Martin Andersen Nexø ist in dem Katalog zu finden, für deutsche Verlage existiert er nicht mehr.
https://helmut-loeven.de/wp-content/uploads/2021/10/AndersenNexoe-1969-MiNr-1440.jpg
Generationen von Leserinnen und Lesern wurden von diesem Buch informiert, inspiriert und auch berührt, von dieser Literatur gewordenen Menschenfreundlichkeit! Ditte Menschenkind ist ein großes Werk der Weltliteratur.
Die Bedeutung von Martin Andersen Nexø ist auch belegt durch Werke wie Bornholmer Novellen und Pelle der Eroberer. Letzterer Titel wurde auch bekannt durch die Verfilmung von 1987 – ausgezeichnet mit der Goldenen Palme in Cannes und mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
Hier im Laden haben wir jetzt nur noch ein Stück von „Die Küsten der Kindheit – die schönsten Erzählungen“. Aber natürlich sind wir jedem, der sich für gute Bücher interessiert, bei der Suche in den Antiquariaten behilflich.

Das alte Lied. Wolf Biermann zum 65. Geburtstag.

Letztens war schon wieder der Biermann im Fernsehen. Einen Anlaß gibt es zwar immer für dieses Gesicht, aber diesmal waren es sogar zwei: 1. Biermann wurde 65, 2. vor 25 Jahren verließ er die DDR.
1976 war Biermann in die Bundesrepublik gekommen, um in Köln ein Konzert zu geben, das im Radio live übertragen wurde. Einen Tag später gab der Ministerrat der DDR bekannt, Biermann werde die Rückreise in die DDR verweigert. Das Kölner Konzert wurde daraufhin im Fernsehen gezeigt. Man sprach von „Ausbürgerung“. Die Sache machte Furore.
25 Jahre später erinnert sich Günter Wallraff: „Es war damals innerhalb der Linken ’ne ganz klare Trennungslinie: Sage mir, wie du zu Biermann stehst, und ich sage dir, ob du einen menschlichen Sozialismus anstrebst oder mehr oder weniger einem Regime angehörst, das die größten Verbrechen auch gegen die Menschheit verbringt. Nur, muß ich heute sagen: Es ist rückblickend auch beschämend, daß es erst dieser Ausbürgerung eines so prominenten, bekannten Kollegen, Freundes bedurfte, um so eine eindeutige Haltung einzunehmen.“
Das Erstaunliche an dieser Aussage Wallraffs: Er scheint die Sache heute noch genauso zu bewerten wie vor 25 Jahren. Seit jenen Tagen, in denen er sich über die „Ausbürgerung“ seines ebenso bekannten wie prominenten Kollegen & Freundes empörte, ist ihm nichts aufgefallen. Aber wie es damals „innerhalb der Linken“ zuging, das hat er ganz treffend wiedergegeben: Sag mir wie du zu diesem und zu jenem stehst, und ich sage dir, ob du auf dem falschen Dampfer bist. Es war damals einfach unerläßlich, Stellung zu beziehen, sich zu bekennen. Es wurde aufmerksam nachkontrolliert, ob man die „richtige“ Meinung vertrat. Hatte man die, stand man auf der „richtigen“ Seite, dann war’s in Ordnung. Mit Kritik, Theorie, Analyse brauchte man sich gar nicht mehr abzugeben. Wozu sich Gedanken machen, wenn man doch eine Meinung hat. šberhaupt bestand das ganze Leben der Linken im Wesentlichen darin, einer Meinung zu sein.
Das ist fatal. Da kann einem dies und das entgehen. Wer immerzu meint und wenig denkt, merkt nicht viel.
Dem Günter Wallraff scheinen all die Neuigkeiten entgangen zu sein, die ihn davon abhalten müßte, eine Beurteilung, die vor 25 Jahren noch nachvollziehbar gewesen sein mag, heute noch aufrechtzuerhalten.
In den 80er Jahren distanzierte sich Biermann von der Friedensbewegung. Die CDU verbreitete Biermanns Bild samt Zitat auf Plakaten, ohne daß Biermann dagegen einschritt (siehe DER METZGER 37). Biermanns Ausfälle gegen die Linke wurden immer aggressiver, immer maßloser, immer geschmackloser, immer fanatischer. Siehe DER METZGER 42, 48, 51. Biermann trat bei der CSU auf. Biermann wurde Kolumnist bei der Springer-Zeitung „Die Welt“. Mittlerweile hat Biermann seine Zuneigung zu dem „Richter Gnadenlos“ Ronald Schill bekanntgegeben (dpa-Meldung am 4.11.01: „Biermann stellt sich bei Kriminalitätsbekämpfung hinter Schill“).
So viel intellektuelle Redlichkeit – ach, was sage ich: so viel Auffassungsgabe darf man von einem Publizisten verlangen, daß er zur Kenntnis nimmt, wie die Geschichte mit Biermann seit 1976 weitergegangen ist. Der „kritische Kommunist“, der einen „menschlichen Sozialismus“ anstrebt, hat sich als Kalter Krieger erwiesen, der sich in der Rolle der verfolgenden Unschuld wohlfühlt. Spätestens bei „Springer“ hätte dem Wallraff, der bei „Bild“ Hans Esser war, aufgehen müssen, daß er einem Schwadroneur, einem Blender aufgesessen ist. Nicht dem ach so kritischen Herrn Wallraff, sondern der WAZ blieb es vorbehalten, der Selbstinszenierung Biermanns mit einer gewisse Skepsis zu begegnen („Ausgerechnet Wolf Biermann…“). „Den Marx’schen Idealen hat der letzte wahre Kommunist der DDR inzwischen abgeschworen“, wird Biermann in der WAZ ironisch demontiert. Der, der sich zum Gralshüter des einzig wahren Kommunismus aufgespielt hatte, findet heute: „Als Kommunisten bezeichnen sich nur noch Leute, die nie welche gewesen sind. Das sind die falschen Witwen, die nie mit Lust, nie mit Orgasmen mit dem Kommunismus im Bett gelegen haben.“ In dem Moment, in dem die Kommunistische Weltbewegung für Biermann nicht mehr einträglich ist, hört sie auf zu existieren. Biermann hängt ein Schild dran: „geschlossen“. Biermann erkannte, daß die Linken mit dem „Ex-“ davor, die Abschwörer ein stetig wachsender Markt sind.
Immer noch ist von „Ausbürgerung“ die Rede, obwohl diese Legende erschüttert ist. Biermann zog in den Westen, um sich dort einzurichten. Er wußte sehr wohl, daß er nicht zurückkehren würde und tat so, als fiele er aus allen Wolken. Das Kölner Konzert brachte ihm eine sechsstellige Summe ein, ein feines Begrüßungsgeld. Das sei ihm nicht mißgönnt. Aber daß er sich mit jenen verglich, die von den Nazis ausgebürgert wurden, die, anders als er, zu Staatenlosen wurden und für die die Flucht aus Deutschland die Vernichtung ihrer Existenz bedeutete und nicht Karrieresprung mit sechsstelligem Startgeld – das ist nicht bloß eine Frechheit, es ist geschmacklos.
Daß Biermann in der DDR 11 Jahre lang Auftritts- und Berufsverbot hatte, ist ebenfalls Legende. Daß er – etwa in Kirchengemeinden – vor Publikum auftrat, wurde mir berichtet, ich kann es nicht überprüfen. Während des „Berufsverbots“ erschienen mehrere Bücher und Schallplatten in erklecklicher Auflage und ein Theaterstück kam in Westdeutschland auf die Bühne, nebenbei brachten Abdrucke von Texten und Interviews in der Presse Geld ein, und die GEMA zahlte. Berufsverbot geht anders.
Manche Legenden sind einfach zu nützlich, um sie an den Evidenzen zerschellen zu lassen. Den Kommunismus hält Biermann zwar pflichtschuldigst für eine Irrlehre, läßt sich aber anläßlich des Jubiläums immer noch als dessen einzig wahrer Hüter (mit dem „menschlichen Antlitz“) in dem Kultursendungen feiern. Lieber nach Bautzen hätte er gewollt statt in den Westen, prahlt er. Wolfgang Neuss erinnerte sich, schon 1965 hätte Biermann ihm vorgesponnen, er wolle seine Verhaftung provozieren, dann sein Gefängnistagebuch veröffentlichen und den Nobelpreis kriegen.
Jetzt gab es erstmal ein Jubiläumskonzert mit Thierse und Eppelmann in der ersten Reihe und vor allerlei Bürgerrechtsbärten, die den Barden anhimmelten. Da sang er die alten Lieder: Röchelnd, jauchzend, quietschend, gurgelnd, jedes Wort eine Grimasse, jeder Ton eine Übertreibung. Wolf Biermann sagt nicht einfach „Bratwurst“. Er sagt: „Bratwurst. Haben Sie das gehört? Ich, Wolf Biermann, habe ‚Bratwurst‘ gesagt!!!“ Und er sagt, wie seit je, gleichzeitig verschiedene Meinungen. Er, der den Kriegseinsatz der Bundeswehr gutheißt und gesagt hatte, die „selbsternannten Friedenskämpfer“ seien nicht „in Besitz einer höheren Moral“, sie dürften nicht im Namen der deutschen Intellektuellen sprechen, sang er „Soldat Soldat in grauer Norm“ und ließ sich dafür von Thierse und Eppelmann beklatschen. Es war einfach nur noch widerlich. (Ob der „Welt“-Kolumnist auch noch sang „Die Kugel Nummer eins kam aus Springers Zeitungswald“, habe ich nicht mehr abgewartet).
Wenn die alten Lieder wieder klingen, darf der Günter Wallraff auch noch Inquisitor spielen: Sage mir, wie du zu Biermann stehst, und ich sage dir, ob du „einem Regime angehörst, das die größten Verbrechen auch gegen die Menschheit verbringt“. Verbrechen verbringen? Auch gegen die Menschheit? Einem Regime angehörst? Hätte ich damals die falsche Antwort gegeben, wäre ich vielleicht noch Minister geworden! Mit so einem menschlichen Sozialismus á la Wallraff möchte ich allerdings nichts zu tun haben. Der steht nämlich unter dem Motto: „Sage mir, daß du anderer Meinung bist als ich, und ich sage dir, daß du ein Verbrecher bist“. Ich frage lieber: „Sage mir, was für dich die größten Verbrechen sind, und ich finde heraus, ob du noch alle Tassen im Schrank hast“. Was der Richter Ronald Schill mit dem menschlichen Sozialismus zu tun hat, habe ich nicht verstanden.

Aus DER METZGER Nr. 63 (Dezember 2001)

11. September: Der Terror & die Leute

— Diese Gelegenheit mußte genutzt werden: Wenn da Krieg ist, wollen wir mitsiegen. — Zehn Jahre zuvor waren die Religionskrieger der EU noch willkommen als „Freiheitskämpfer“, und die „Apartheid der Geschlechter“ hieß damals ganz apart: „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ — Wenn deutsche Anti-Deutsche zu Bellizisten werden, dann wollen sie auch gleich den totalen Krieg. Dumme Jungen sind das, die nicht wissen, was Krieg ist. — Der Feind meines Feindes ist mein Feind, wenn er Antisemit ist.

Bericht zum Attentat in New York am 11. September 2001, geschrieben im November 2001, erschienen in DER METZGER Nr. 63 (2001) leicht gekürzt.

Die Katastrophe, mit der nach Ansicht mancher Leute das soeben begonnene Jahrtausend auch schon gelaufen ist, wurde mir schonend beigebracht. Ich kam kurz vor 8 nach Hause (kein Mensch auf der Straße hatte sich irgendwie anders verhalten als sonst), schaltete den Fernsehkasten ein, um zu sehen, was es gibt, und sah den Wickert zu ungewohnter Zeit. Im Hintergrund ein Hochhaus mit Qualm und eine Schlagzeile „Terror in New York“. Terror in New York? Dafür eine Sondersendung? Um 8 Uhr auch kein Gong, Wickert redete weiter. Und nach und nach erfuhr ich: In einem Wolkenkratzer gab es eine Explosion. Der Wolkenkratzer war einer der beiden Türme des World Trade Center. Ein Flugzeug ist hineingeflogen. Es war ein entführtes Flugzeug mit Passagieren darin. In den anderen Turm ist auch ein Flugzeug hineingeflogen. Eingestürzt sind die Türme dann auch noch. Zwischendurch erfuhr ich noch, daá auch auf das Pentagon in Washington ein Flugzeug gestürzt ist und ein viertes, ebenfalls entführtes mit Passagieren, irgendwo abgestürzt war, bevor es auf ein Ziel gelenkt werden konnte.
Auf allen TV-Kanälen Sondersendungen, bestehend aus der unentwegten Wiederholung des Bildes von einem Flugzeug, das in einen Wolkenkratzer gleitet, und zwischendurch kamen Leute zu Wort, die schon mal auf der Landkarte mit dem Finger auf New York getippt hatten, also Experten waren. Nicht nur wie man mit zehn Sekunden Bildmaterial und Korrespondenten, die nix genaues auch nicht wissen, zehn Stunden Sondersendung ausfüllt, hat mich erstaunt. Der zuständige Geheimdienst war nicht in der Lage, ein Ereignis vorherzusagen, das über lange Zeit an vielen Orten von vielen Leuten vorbereitet wurde, konnte aber schon nach zehn Minuten genau mitteilen, wer die Hintermänner des Attentats waren. Noch erstaunlicher ist, daß keine Organisation sich zu diesem Attentat bekannte und dazu eine Erklärung abgab.

Wogegen die Rote Armee kämpfte
Die Regierung der USA hat sich viel vorgenommen. Als ginge es jetzt ums Ganze, holt sie zum entscheidenden Schlag aus gegen die Mächte des Bösen, die in Osama bin Laden verkörpert sind, und sie verlangt von aller Welt Ergebenheit. „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, der wird – so US-Präsident Bush – als Feind angesehen. Die rotgrüne Bundesregierung meldet sich zur Stelle. Als würde sie einem Hilfeersuchen der USA entsprechen, schickt sie gegen alle Gewissenspein 3.900 Soldaten. Dabei mußte sie das Kanonenfutter geradezu aufdrängen: „Bitte bitte nehmt sie doch!“ Die Koalition brach daran beinahe auseinander. Aber diese Gelegenheit mußte genutzt werden: Wenn da Krieg ist, wollen wir mitsiegen.
Der Kreuzzug gegen das Böse sei natürlich nicht ein Kampf der Kulturen, wird betont. Aber was soll es denn sonst sein, wenn der Präsident der USA in seinem Manichäertum wie das christlich-abendländische Spiegelbild der islamisch-morgenländischen Schreckensvision erscheint? Wieviel die Beteuerung wert ist, ist daran zu messen, um wieviel es Menschen mit morgenländischem Appeal leichter oder schwerer gemacht wird, eine Wohnung zu finden. Weiterlesen

Wo waren Sie im Kriege, Herr -? (7)

Am 4. August 1931, heute vor 90 Jahren, erschien in der WELTBÜHNE Kurt Tucholskys Glosse Der bewachte Kriegsschauplatz mit der bekannt gewordenen Aussage „Soldaten sind Mörder“.

Der bewachte Kriegsschauplatz
Im nächsten letzten Krieg wird das ja anders sein . . . Aber der vorige Kriegsschauplatz war polizeilich abgesperrt, das vergißt man so häufig. Nämlich:
Hinter dem Gewirr der Ackergräben, in denen die Arbeiter und Angestellten sich abschossen, während ihre Chefs daran gut verdienten, stand und ritt ununterbrochen, auf allen Kriegsschauplätzen, eine Kette von Feldgendarmen. Sehr beliebt sind die Herren nicht gewesen; vorn waren sie nicht zu sehen, und hinten taten sie sich dicke. Der Soldat mochte sie nicht; sie erinnerten ihn an jenen bürgerlichen Drill, den er in falscher Hoffnung gegen den militärischen eingetauscht hatte.
Die Feldgendarmen sperrten den Kriegsschauplatz nicht nur von hinten nach vorn ab, das wäre ja noch verständlich gewesen; sie paßten keineswegs nur auf, daß niemand von den Zivilisten in einen Tod lief, der nicht für sie bestimmt war. Der Kriegsschauplatz war auch von vorn nach hinten abgesperrt.
„Von welchem Truppenteil sind Sie?“ fragte der Gendarm, wenn er auf einen einzelnen Soldaten stieß, der versprengt war. „Sie“, sagte er. Sonst war der Soldat ‘du’ und in der Menge ‘ihr’ – hier aber verwandelte er sich plötzlich in ein steuerzahlendes Subjekt, das der bürgerlichen Obrigkeit untertan war. Der Feldgendarm wachte darüber, daß vorn richtig gestorben wurde.
Für viele war das gar nicht nötig. Die Hammel trappelten mit der Herde mit, meist wußten sie gar keine Wege und Möglichkeiten, um nach hinten zu kommen, und was hätten sie da auch tun sollen! Sie wären ja doch geklappt worden, und dann: Untersuchungshaft, Kriegsgericht, Zuchthaus, oder, das schlimmste von allem: Strafkompanie. In diesen deutschen Strafkompanien sind Grausamkeiten vorgekommen, deren Schilderung, spielten sie in der französischen Fremdenlegion, gut und gern einen ganzen Verlag ernähren könnte. Manche Nationen jagten ihre Zwangsabonnenten auch mit den Maschinengewehren in die Maschinengewehre.
So kämpften sie.
Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.
Es ist ungemein bezeichnend, daß sich neulich ein sicherlich anständig empfindender protestantischer Geistlicher gegen den Vorwurf gewehrt hat, die Soldaten Mörder genannt zu haben, denn in seinen Kreisen gilt das als Vorwurf. Und die Hetze gegen den Professor Gumbel fußt darauf, daß er einmal die Abdeckerei des Krieges „das Feld der Unehre“ genannt hat. Ich weiß nicht, ob die randalierenden Studenten in Heidelberg lesen können. Wenn ja: vielleicht bemühen sie sich einmal in eine ihrer Bibliotheken und schlagen dort jene Exhortatio Benedikts XV. nach, der den Krieg „ein entehrendes Gemetzel“ genannt hat und das mitten im Kriege! […]
Die Gendarmen aller Länder hätten und haben Deserteure niedergeschossen. Sie mordeten also, weil einer sich weigerte, weiterhin zu morden. Und sperrten den Kriegsschauplatz ab, denn Ordnung muß sein, Ruhe, Ordnung und die Zivilisation der christlichen Staaten.
Ignaz Wrobel (i.e. Kurt Tucholsky) in der Weltbühne, 4.8.1931.

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Blicke ins Archiv (tief)

Auf der Hometage der Buchhandlung Weltbühne kann man ins METZGER-Archiv hineinschauen. Wußten Sie das?
Aus den sicherlich weit über tausend Textbeiträgen wurden (bisher!) 58 Beiträge aus zwei Jahrhunderten dort sichtbar gemacht.
Sie müssen auf
http://www.buchhandlung-weltbuehne.de/Metzger-Archiv.html
klicken, dann kriegen Sie das zu sehen und können sich dort umtun…
… und wenn Sie gern Liebesgeschichten lesen, fangen Sie oben in der Liste an.

Gestern sind zwei neue Texte eingeführt worden:
Jakop Heinns Kopfschütteln über die SPD (aus Nummer 128) und Linas Rat, sich daneben zu benehmen (aus Nummer 129).
Ha! Was sehe ich da? Statt „129“ steht da „120“. Ein Fehler. Werden wir korrigieren.

Jörg Fauser

Jörg Fauser habe ich ein paarmal gesehen, und zwar bei diesen Konferenzen der Underground-Zeitschriften und Underground-Literaten, die Anfang der 70er Jahre von Zeit zu Zeit stattfanden. Gesagt hat er nie etwas. Die beiden anderen Vertreter der Frankfurter Cutup- und Beat-Schule, Jürgen Ploog und Carl Weissner, waren gesprächiger.

Jörg Fauser begann, was für die Underground-Literatur nicht ungewöhnlich ist, in Zeitschriften. Solche hatten Anfang der 70er Jahre eine Blütezeit. Aus Frankfurt kamen zum Beispiel „Zoom“ (nur eine Ausgabe), dann, sehr vielversprechend, UFO unter der Federführung von Jürgen Ploog (auch nur eine Ausgabe), dann „Gasolin 23“, die einige Jahre durchgehalten wurde. Das war die frühe Heimat für Jörg Fauser.
Er wäre gestern 75 Jahre alt geworden. Heute vor 32 Jahren, einen Tag nach seinem 43. Geburtstag, kam er bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn bei München ums Leben.
Was ich sagen müßte, wenn ich etwas über Jörg Fauser erklären müßte für jemand, der den Namen zum ersten Mal hört, schreibe ich jetzt hier nicht hin. Jetzt steht viel in den Zeitungen. Dem sollte man mit der Skepsis begegnen, die Jörg Fauser wohl zueigen war.
Man ist des Lobes voll, daß bei Diogenes eine neue Werkausgabe erscheint. In Leinen. „Rohstoff“, der Roman kostet dann 25 Euro. Fauser für grünwählende Middle Class? Ich bin froh, daß ich noch die Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe habe (gebe ich nicht ab). Im Laden habe ich noch ein paar Taschenbuch-Ausgaben. Von der „Harry Gelb Story“ gibt es noch die Ausgabe aus dem Maro-Verlag.
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Wiglaf Droste 1961 – 2019

Wiglaf Droste ist gestern, am 15. Mai, nach kurzer schwerer Krankheit 57jährig gestorben.
Hier ein Zitat aus einem Artikel „Mit Nazis reden“, 1993 geschrieben für arranca, Ausgabe Nr. 3

“ … Alle Welt sucht das Gespräch mit Rechtsradikalen. Warum? Haben sie einem etwas zu sagen? Ist nicht hinlänglich bekannt, was sie denken, fordern und propagieren? … Muß man an jeder Mülltonne schnuppern? Niemand wählt Nazis oder wird einer, weil er sich über deren Ziele täuscht, – das Gegenteil ist der Fall; Nazis sind Nazis, weil sie welche sein wollen. Eine der unangenehmsten deutschen Eigenschaften, das triefende Mitleid mit sich selbst und den eigenen Landsleuten, aber macht aus solchen Irrläufern der Evolution arme Verführte, ihrem Wesen nach gut, nur eben ein bißchen labil etc., ‚Menschen‘ jedenfalls, … ‚um die wir kämpfen müssen‘.
Warum? Das Schicksal von Nazis ist mir komplett gleichgültig; ob sie hungern, frieren, bettnässen, schlecht träumen usw. geht mich nichts an. Was mich an ihnen interessiert, ist nur eins: daß man sie hindert, das zu tun, was sie eben tun, wenn man sie nicht hindert: die bedrohen und nach Möglichkeit umbringen, die nicht in ihre Zigarettenschachtelwelt passen. … Wer vom Lager (für andere) träumt, kann gerne selbst hinein. Dort, in der deutschen Baracke, dürfen dann Leute wie Rainer Langhans, Wolfgang Niedecken und Christine Ostrowski zu Besuch kommen und nach Herzenslust mit denen plaudern, zu denen es sie zieht.
Den Rest der Zeit werden die Berufsdeutschen ein wenig gequält: Verordneter Antifaschismus all night long! Fritz Teppisch spricht nicht unter drei Stunden! Aus den Lausprechern dröhnt verjüdelte Negermusik! Pflichtlektüre: die schlechtesten Satiren von Ephraim Kishon! Rechte Winkel und Viervierteltakt sind bei Strafe verboten, die Haare werden nicht mehr geschnitten. … Verbaler Antifaschismus ist Käse. Militant soll er sein, vor allem aber: erfolgreich. Wenn sich dabei herausstellen sollte, daß er sich gegen 50, 60, 70, 80 oder 90 Prozent des deutschen Volkes richtet, dann ist das eben so. Wo Nazis demokratisch gewählt werden können, muß man sie nicht demokratisch bekämpfen.“

Foto: wikimedia commons

Eine Überlegung aus einer Epoche der Überlegungen


Überlegt wird immer. Manchmal machen Überlegungen eine Epoche. Davon war in den letzten Monaten oft die Rede. Die Jahreszahl (1967) widerlegt, daß alles erst 1968 begonnen (und schon 1968) aufgehört hat.
Zitat aus dem ersten Band des Jahrbuchs „Tintenfisch“ (Verlag Klaus Wagenbach 1968).

Dieter Kunzelmann lebte 20 Jahre länger

Mißratene Gaudi oder Der Sündenfall.
„Palestina [sic] ist für die BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknax. […] Wenn wir endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie ‚Zionismus‘ zu begreifen, werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit AL FATAH, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von Gestern und Heute und seine Folgen aufgenommen hat.“ Dieter Kunzelmann

März


März

Es ist ein Schnee gefallen,
Denn es ist noch nicht Zeit,
Daß von den Blümlein allen
Wir werden hoch erfreut.

Der Sonnenblick betrüget
Mit mildem, falschem Schein,
Die Schwalbe selber lüget,
Warum? Sie kommt allein!

Sollt‘ ich mich einzeln freuen,
Wenn auch der Frühling nah?
Doch kommen wir zu zweien,
Gleich ist der Sommer da.

Goethe

Das hatten wir schon einmal.
Aber Schnee im März hatten wir ja auch schon einmal.

Wußtest Du schon, daß …

… Mike Nichols der Enkel von Gustav Landauer war?

Gustav Landauer, geboren am 7. April 1870 in Karlsruhe, ermordet von Freikorpsmännern am 2. Mai 1919 in München.
Der Todesprediger (1893)
Macht und Mächte (1903)
Die Revolution (1907)
Aufruf zum Sozialismus (1911)
Der werdende Mensch (posthum)

Mike Nichols, geboren am 6. November 1931 in Berlin als Michail Igor Peschkowsky, gestorben am 19. November 2014 in New York.
Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (1966)
Die Reifeprüfung (1967)
Catch 22 (1970)
Silkwood (1983)


..

Ne? Is klar.

Ist Ihnen auch klar, daß der Rosenmontag, beziehungsweise das ganze durch ihn verlängerte Wochenende, mancherorts als Zeit der Kontemplation gefeiert wird, zum Beispiel dort, wo die fast vollendete METZGER-Ausgabe Numero 121 ganz vollendet werden soll.
Ich will Ihnen gern zu ein paar (präzise gesagt: fünf) kontemplativen Inspirationen verhelfen – durch Recurse auf die ersten fünf Monate dieses Weblogs. Denn wisse: wer auf der Suche nach der Zukunft ist, muß in alten Papieren wühlen (hier: in alten Notaten herumstöbern).

Drum klicken Sie mal hier,
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Viel Freude (ohne Uniform, ohne Blaskapelle).

Vergesst mir den Disco-Meier nicht!

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Es gibt unter den Kulturschaffenden einige, die davon existieren, daß sie maßlos überschätzt werden (Wolf Biermann, Nina Hagen, Alice Schwanzer, Henryk M. Broder, Wolfgang Pohrt, Barbara Schöneberger – vor allem die!).
Zu den maßlos Unterschätzten unter den Kulturschaffenden gehört Disco-Meier (eigentlich: Maier). Da er im Eschhaus besonders den Jüngsten im Publikum was bieten wollte, wurde er von den Managern nicht für ganz voll genommen. Dabei hatte er wirklich gute Ideen. Ein denkender DJ! Er mußte um jedes bißchen Zugeständnis kämpfen. Der hatte es wirklich nicht leicht. Dauernd erzählte er von Ärger mit Vermietern, Ämtern etc.
Foto aus der Ausgabe März 1979 des Eschhaus-Heftes.
Was ist aus Disco-Meier geworden? Mögen sich wenigstens ein paar daran erinnern, daß der wirklich was drauf hatte. Und möge die Sonne auf seine Wege scheinen (und zwar dann, wenn er auf ihnen unterwegs ist).

Geheimproklamation?

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Hier noch ein Dokument, das ich bei der Durchsicht des Eschhaushefte (wieder-)entdeckte: Ein Inserat für den Eschhaus-Buchladen, das ohne mein Wissen und ohne mein zutun im Eschhausheft (Dezember 1979) veröffentlicht wurde.
Der Stil von Magda Gorny ist unverkennbar.
Der Slogan „literatur plakate wissenschaft“ ist genial.
Einen GEHEIMEN Piratensender mit einem Schild zu versehen – auf die Idee muß man erstmal kommen.

Albrecht Dürer: Der Sündenfall (1504)

DuererSuendenfall
Albrecht Dürer: Der Sündenfall. Kupferstich von 1504.
Auf den ersten Blick:
In den scholastischen Streit, ob Adam einen Bauchnabel hatte oder nicht, hat Albrecht Dürer Partei ergriffen.
(Die einen sagten: Adam hatte keinen Bauchnabel, weil er nicht geboren, folglich auch nicht abgenabelt wurde. Wer behauptet, Gott hätte etwas Sinnloses erschaffen, ist ein Ketzer. Die anderen sagten: Ein Mann ohne Bauchnabel ist unvollkommen. Wer behauptet, die Schöpfung Gottes sei unvollkommen, ist ein Ketzer. Ob ein scholastischer Streit darüber gefochten wurde, ob Eva einen Bauchnabel hatte, weiß ich nicht. Die war ja immerhin auch nicht geboten worden, sondern aus einer Rippe geformt, worauf man bei Betrachtung der weiblichen Anatomie nie käme).
Immerhin: Es scheint nach Dürers Auffassung im Paradies schon einen Rasierpinsel gegeben zu haben.
Auf dem Bild ist der Moment abgebildet, in dem Eva dem Adam eine Frucht überreicht. Der Betrachter sieht etwas, was weder Adam noch Eva gesehen haben kann, nämlich, daß die Schlange (Gestalt des Teufels) an dem Vorgehen beteiligt war, und man könnte meinen, daß die Schlange die Frucht am liebsten selber an sich genommen hätte. Noch hat Adam die Frucht nicht übernommen, noch muß die Maus sich vor der Katze nicht fürchten.
Adam und Eva sind mit Blättern bekleidet. Daß sie ihre Blöße bedeckten war allerdings Folge des Sündenfalls, der hier noch gar nicht beendet ist. Bei genauem Hinsehen merkt man, daß Dürer einen Trick anwandte: Die Blätter befinden sich noch an den Gewächsen und ragen dort hin, wo sie anschließend getragen werden sollten.
Dürer hat, als Vertreter einer fortschrittlichen Kunst, als Avantgardist in einer in Bewegung geratenen Zeit, auf diesem Bild ein GESCHEHEN dargestellt: Anfang und Ende, Ursache und Wirkung, Sichtbares und Verborgenes, in EINEM Bild. Es ist – salopp gesagt – ein Comic-Strip, der nur aus einem Bild besteht.