„Zum Verwechseln ähnlich“

„Das absurde Theater ist eine Richtung des Theaters des 20. Jahrhunderts, die die Sinnfreiheit der Welt und den darin orientierungslosen Menschen darstellen will.“ (Wikipedia). Einige der eindrucksvollsten Aufführungen fanden nicht auf Theaterbühnen, sondern in Gerichtssälen statt, wo die Sinnfreiheit von Anklageschriften orientierungsloser Staatsanwälte dargestellt wurde. So auch dieser Tage in Berlin.
Vor dem Amtsgericht Tiergarten sind seit dem 2. April Michael W. (39) und German L. (29) angeklagt, am 13. August 2012 bei einer Gedenkveranstaltung zum Tag des Mauerbaus in der Bernauer Straße mit FDJ-Hemden demonstriert zu haben. Das Emblem auf diesen Hemden war nach Ansicht der Staatsanwaltschaft dem Wappen der „FDJ in Westdeutschland“ zum Verwechseln ähnlich. Und diese Organisation sei 1951 als verfassungswidrige Organisation verboten worden.
Doch die Sache ist komplizierter.
Die Freie Deutsche Jugend, 1938 im Exil in Prag und Paris gegründet, dann bis 1946 in Großbritannien aktiv, war nach Zerschlagung des Hitler-Faschismus in den vier Besatzungszonen tätig – also vor der Gründung der beiden deutschen Staaten. In der DDR wurde die FDJ dann zur „Staatsjugend“ (wo sie mit einer eigenen Fraktion in der Volkskammer vertreten war), während sie in der BRD 1951 verboten wurde. Das Verbot wurde durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts 1954 rechtskräftig. An dieser Entscheidung waren – wie kann es anders sein – ehemalige Nazirichter beteiligt. Grund des Verbotes war der Widerstand der FDJ gegen die Remilitarisierung.
Im Neuen Deutschland wurde die komplizierte Lage so zusammengefaßt:
„Und dann gibt es da noch den feinen Unterschied zwischen FDJ-West und FDJ-Ost. Das FDJ-Verbot West gilt auch nach der Einheit bis ans Ende der Menschheit weiter, gilt aber nur für die alten Bundesländer, nicht für die hinzugekommenen. Was also zeigten die Angeklagten: das Emblem Ost oder das Emblem West, beide zum Verwechseln ähnlich. Das eine nicht erlaubt, das andere nicht verboten. Wo befanden sich die FDJler bei ihrer Aktion? In Ost oder West? Traten sie der verbotenen FDJ-West bei oder der nicht verbotenen FDJ-Ost? So richtig klar mit diesem bundesdeutschen Paragrafenwirrwarr schienen weder Staatsanwalt noch Richter zu kommen.“
Die Anwältin von Michael W. legte dem Richter drei FDJ-Symbole vor. Der Richter sollte sagen, welches Symbol zu der 1951 verbotenen westdeutschen FDJ, welches zu den nicht verbotenen Organisationen in Ostdeutschland und Westberlin gehören. Der Richter konnte das Rätsel auch nicht lösen. Denn alle drei Symbole ähneln sich nicht nur. Sie sind identisch.
Der Prozeß wird am 15.4. fortgesetzt.
Bei aller Komik sollte der ernste Hintergrund nicht unterschätzt werden. Michael W. und German L. erklärten dem Gericht, warum sie zur FDJ fanden und radikale Friedenspositionen einnehmen. Sie sehen die Gefahr, daß sich die Bundesrepublik immer tiefer in Kriegsabenteuer verstrickt und demokratische Strukturen immer weiter abgebaut werden. „Man mag ihre Auffassung teilen oder nicht, auf jeden Fall ist sie durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt.“ (Neues Deutschland). Der Staatsanwalt hat die bösen Geister des Kalten Krieges geweckt. Es ist – wieder einmal – sichtbar, daß die Schande der deutschen Justiz 1945 nicht endete.

P.S.: Der Mann, der sich am 13. August 2012 über das FDJ-Symbol echauffierte, die Polizei alarmierte und die ganze Posse in Gang setzte, trug übrigens einen „Schwerter-zu-Pflugscharen“-Button.
Freie_Deutsche_Jugend.svg
Wie auf den ersten Blick zu erkennen ist, handelt es sich bei diesem bei Amore e Rabbia sichtbar gemachten Emblem nicht um das Emblem der 1951 verbotenen FDJ.

„Die vernichtende Gewalt des Redlichen“

Zitat:
Thomas Fischer in der „Zeit“ (6. März 2014):

[…]
Das Strafrecht lebt – wie jede andere formelle oder informelle Sanktionierung abweichenden Verhaltens – davon, dass es klare gesetzliche Grenzen zieht zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten. Diese Grenzen sind nicht zu dem Zweck erfunden worden, Staatsanwälten Anhaltspunkte für den Start von Vorermittlungen oder für die Anberaumung von Pressekonferenzen zu geben, sondern allein um der Bürger willen. Die wollen nämlich, seit sie sich als Bürger und nicht als Untertanen verstehen, eine Staatsgewalt, die die Guten und die Bösen voneinander scheidet, ohne zu diesem Zweck zunächst alle des Bösen zu verdächtigen und auch so zu behandeln.
Wenn nun aber die, die das Erlaubte tun, „nach kriminalistischer Erfahrung“ stets auch das Unerlaubte tun und deshalb, gerade weil sie Erlaubtes tun, vorsorglich schon einmal mit Ermittlungsverfahren überzogen werden müssen, hat die Grenzziehung jeden praktischen Sinn verloren. Strafrechtspraktisch befinden wir uns dann wieder im Zustand von Tombstone zu Zeiten von Wyatt Earp und Konsorten, als die Frage, wer Staatsgewalt sei und wer Räuber, noch offen war: Der vernichtenden Gewalt des Redlichen kann nur entkommen, wer sie freudig begrüßt und aktiv unterstützt. Gerechtfertigt wird dies mit der goldenen Regel aller Stammtische: Wer nichts zu verbergen hat, muss auch nichts befürchten.
[…]
Vielleicht sollte sich der Rechtsstaat – jedenfalls vorläufig, bis zum Beweis des Gegenteils – bei dem Beschuldigten Sebastian Edathy einfach entschuldigen. Er hat, nach allem, was wir wissen, nichts Verbotenes getan. Vielleicht sollten diejenigen, die ihn gar nicht schnell genug in die Hölle schicken wollen, vorerst einmal die eigenen Wichsvorlagen zur Begutachtung an die Presse übersenden. Vielleicht sollten Staatsanwaltschaften weniger aufgeregt sein und sich ihrer Pflichten entsinnen. Vielleicht sollten Parteipolitiker ihren durch nichts gerechtfertigten herrschaftlichen Zugriff auf den Staat mindern. Vielleicht sollten aufgeklärte Bürger ernsthaft darüber nachdenken, wo sie die Grenze ziehen möchten zwischen Gut und Böse, zwischen dem Innen und Außen von Gedanken und Fantasien, zwischen legalem und illegalem Verhalten. Zwischen dem nackten Menschen und einer „Polizey“, die alles von ihm weiß.

Thomas Fischer ist Vorsitzender Richter des Zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs.

OscarWildeMoral..

Oskar Rothstein (90)

OskarRothsteinSein Lebenslauf, so sagte er, ähnelte in einer Phase dem von Stefan Heym. Als jüdischer Emigrant kam er mit den Alliierten Truppen in seine Heimat zurück – in das Land, das sich schwer damit tat, für einen wie ihn Heimat zu sein.
Wie ging es weiter im Leben des Mannes, der gegen Hitler gekämpft hatte?

Mit seinen Gesinnungsfreunden Willi Hendricks und Otto Henke wurde Oskar Rothstein am 14. Juni 1965 auf offener Straße in Duisburg-Hochfeld von Beamten des K 14 verhaftet.
Die Anschuldigung lautete u.a., Rädelsführer einer verfassungswidrigen, verbotenen Partei gewesen zu sein. (Gemeint war die KPD. H.L.)
Seine Wohnung wurde zweimal durchsucht, Broschüren, Notizen und andere Gegenstände beschlagnahmt.
Dreieinhalb Monate (vom 14. Juni bis 29. September 1965) wurde er in Untersuchungshaft in der Haftanstalt Dinslaken festgehalten. In dem Prozeß vor der 4. Großen Strafkammer in Düsseldorf (März/April 1968) gegen ihn und seinen Genossen Willi Hendricks (10 Monate) und Otto Henke wurde er zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt.
Otto Henke erhielt 21 Monate, das gleiche Strafmaß bekam er in einem vorausgegangenen Prozeß. (Insges. 42 Mon.).
Daß sie die hohen Strafen nicht mehr anzutreten brauchten, ist den damaligen Anstrengungen demokratischer Kräfte zu verdanken.
(aus der Dokumentation „Schicksale politisch Verfolgter aus Duisburg“).

Heute gratulieren wir Oskar Rothstein zu seinem 90. Geburtstag!

Der blaue Engel

Im Eschhaus wurden mittwochs Filme gezeigt. Kneipenkino ist eine interessante Sache. Ich kenne viele Filme teilweise, weil ich dort arbeitete und manchmal nur ab und zu einen Blick auf die Leinwand werfen konnte.
Eines mittwochsabends wurde „Der blaue Engel“ gezeigt, und das schuf eine ganz unwirkliche, geradezu psychedelische Atmosphäre. Man befand sich – sagen wir es ruhig – in einer Kaschemme, und auf der Leinwand zu sehen war eine Kaschemme. Es schien, als würde die Wand sich auftun. Der Film und die Wirklichkeit, in der er vorgeführt wurde, vermischten sich.
Marlene_Dietrich_in_The_Blue_AngelEs gab im Eschhaus einige politische Aktivisten, die jeden Mittwoch die Gelegenheit nutzten, vor dem versammelten Kinopublikum Proklamationen loszulassen, deren Schlußsatz stets begann mit: „Und wir fänden es gut, wenn möglichst viele Leute…“.
Im Anschluß an den „Blauen Engel“ ergriff also Michael van der Wielen (genannt Marinus) das Wort. Im selben Moment wurde ich von Wolfgang Esch angesprochen: „Ich bin mit‘m Auto hier. Ich fahr jetzt. Wenn ich dich nach Hause fahren soll, dann komm jetzt.“
Ich kriegte aber noch mit, was M-Punkt van der Wielen mitzuteilen hatte: In letzter Zeit, sagte er, wären immer wieder „Bullen in Zivil“ im Eschhaus gewesen. Die würden die Runde drehen und sich alles angucken. Dagegen müßten wir was unternehmen, und wir müßten überlegen, was.
Kaum hatte er seine Worte gesprochen, kamen auch promt zwei Herren von der Kriminalpolizei zur Tür herein. Das kriegte ich allerdings nicht mit, denn ich war damit beschäftigt, meine Siebensachen zusammenzuraffen, weil ich ja mit dem Auto mitgenommen werden sollte und der Fahrer auf mich wartete. Der hatte mich gedrängt: „Komm jetzt, sonst fahre ich ohne dich.“
Just in dem Moment, als ich mit der Tasche in der einen und dem Schlüssel in der anderen Hand aus dem Eschhaus-Buchladen gehen wollte, betraten die beiden Graumänner, von denen ich nicht wußte, daß sie Kripomänner waren, den Laden, den sie sicherlich nur allzu gern unter die Lupe genommen hätten. Wir stießen in der Tür fast zusammen.
„Wat? Nix! Nix! Nix! Feierabend. Raus!“ Die beiden Polizisten mußten rückwärts gehen, um nicht von mir über den Haufen gerannt zu werden. Auf Michael van der Wielens Gesicht regte sich der leise Anflug von einem Schmunzeln, was wahrscheinlich höchstens einmal im Jahr geschah.
Daß es sich bei den beiden Herren, die vor mir zur Seite springen mußten, um zwei Beamte der politischen Polizei handelte, habe ich, wie gesagt, erst danach erfahren. Aber das war in den nächsten Tagen im Eschhaus Gesprächsthema: „Hast du gesehen, wie der Loeven die Bullen verjagt hat?“

„Wir fordern die Einstellung des Verfahrens gegen Lothar König“

Pressemitteilung (17.6.2013) von NSU Watch zum NSU Prozeß – Solidarität mit Lothar König

Nebenkläger und ihre Anwälte erklären sich solidarisch mit dem angeklagten Jenaer Jugendpfarrer Lothar König

Derzeit findet vor dem OLG München das sog. NSU-Verfahren gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte statt. Der NSU hat sich selbst zu 10 Morden und zwei Sprengstoffanschlägen bekannt. Möglicherweise gab es jedoch noch mehr Anschläge, die durch den NSU und sein Umfeld verübt wurden.
Seit Beginn der Hauptverhandlung sitzen wir im Saal 101 des Justizzentrums München fünf Angeklagten gegenüber, denen vorgeworfen wird, Mitglieder oder Unterstützer des NSU gewesen zu sein. Vier von den Angeklagten stammen aus Jena, einer aus Sachsen. Allen ist gemeinsam, dass sie aus einer neonazistischen Szene stammen, die sich in den neunziger Jahren in Jena und an anderen Orten radikalisierte. Die Ideologie dieser  Szene war geprägt von einem gewalttätigen und mörderischen Rassismus, dem seit 1990 mehr als 150 Menschen zum Opfer fielen.
Parallel zum NSU-Verfahren findet vor dem Dresdner Amtsgericht ein Verfahren gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König statt. Lothar König ist seit den 1980er Jahren Jugendpfarrer in der Jungen Gemeinde in Jena. Er hat zu einer Zeit, zu der die Mehrheit noch weggesehen hat, wenn rassistische und rechtsextremistische Übergriffe stattgefunden haben, hingesehen, seine Stimme erhoben und Widerstand gegen die erstarkende neonazistische Szene geleistet. Die Junge Gemeinde Jena war und ist immer ein Zufluchtsort für diejenigen gewesen, die nicht in das Weltbild der Neonazis passen und die jederzeit mit gewalttätigen bis mörderischen Übergriffen rechnen mussten. Die Junge Gemeinde und Lothar König wurden mehrfach in den neunziger Jahren u.a. von der Kameradschaft Jena, zu der auch die Angeklagten und Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gehört haben sollen, massiv angegriffen. Carsten S. hat in der Verhandlung nun ebenfalls gezielte Aktionen gegen die JG in Jena und ihren Jugendpfarrer bestätigt.
Lothar König war auch im Februar 2011 in Dresden, um gegen den dort stattfindenden Neonaziaufmarsch zu protestieren. Nun wird ihm von der Staatsanwaltschaft Dresden aufwieglerischer Landfriedensbruch vorgeworfen.Über seinen Lautsprecherwagen soll Lother König angeblich zu Gewalt gegen Polizeibeamte aufgerufen haben. Alles was wir über das Verfahren bisher wissen, ist, dass die Anklage auf Unwahrheiten und Unterstellungen seitens Polizei und Staatsanwaltschaft basiert. Deshalb hat es für uns den Anschein, dass Lothar König eigentlich sein antifaschistisches Engagement vorgeworfen wird. Wir wissen, dass, wenn sich mehr Menschen wie Lothar König schon damals den Neonazis in den Weg gestellt hätten, die Morde und Anschläge des NSU hätten verhindert werden können.
So wie Lothar König damals und heute solidarisch war und ist mit denjenigen, die nicht in das rechtsextremistische und rassistische Weltbild der Neonazis passen, so erklären wir uns heute solidarisch mit Lothar König.
Wir fordern die sofortige Einstellung des Verfahrens gegen Lothar König.

Antonia von der Behrens, Thomas Bliwier, Yvonne Boulgarides, Christina Clemm (auch für ihre Mandantin) , Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler, Doris Dierbach, Carsten Illius, Alexander Kienzle, Edith Lunnebach, Yavuz Narin, Elif Kubasik, Ergün Kubasik, Gamze Kubasik, Angelika Lex, Ogün Parlayan, Eberhard Reinecke (auch für seine Mandanten), Sebastian Scharmer, Reinhard Schön (auch für seine  Mandanten), Peer Stolle, Angela Wierig

Wer nichts zu verbergen hat ist ein Idiot

In der Sendung von Anne Will ist immer einer dabei, der für das Quatschreden zuständig ist. Meistens nimmt man dafür Arnulf Baring. Der erfüllt diese Rolle zuverlässig, und nach spätestens 40 Minuten flippt er aus. Letztens, beim Thema Terrorgefahr, war es Don Jordan, Deutschlandkorrespondent, Deutschlandkenner, US-Amerikaner und Patriot. Als solcher hat er für den patriot act was übrig. Die Deutschen, so meinte er, bräuchten den patriot act ja nicht wortwörtlich zu übernehmen. Aber, so sagte er, „zu sozial ist unsozial und zu liberal ist auch unsozial“. Es wäre doch besser, mal auf ein paar Grundrechte zu verzichten als in die Luft zu fliegen. Und wer nichts zu verbergen hat…
Der Argwohn, daß Freiheit unsicher mache, begleitet die Patrioten ebenso durchs Leben wie die Idee, daß Sicherheit durch den Verzicht auf so ein paar lumpige Grundrechte zu erreichen sei und daß die Nation einem so viel wert sein müßte, daß man ihr seine persönliche Freiheit gern in den Rachen schmeißt. Es will mir allerdings nicht einleuchten, daß ich die Gefahr, in die Luft zu fliegen, dadurch heraufbeschwöre, daß ich in meinen vier Wänden mache was ich will, und daß die Gefahr, in die Luft zu fliegen, dadurch gebannt werden könnte, daß die Regierung weiß, mit wem ich wann und wie oft und wie lange telefoniert habe. Die Formel je-mehr-Freiheit -desto-weniger-Sicherheit-und-je-weniger-Freiheit-desto-mehr-Sicherheit ist nicht nur unsympathisch, sondern auch illusionär. Und wer nichts zu verbergen hat ist ein Idiot.
Freiheit und Demokratie sind nicht sehr beliebt beim deutschen Menschendurchschnitt. Denn die Freiheit stellt Ansprüche. Freiheit strengt beim Denken mehr an als Unfreiheit. Die Freiheit der Meinung schützt zwar vor der Zensur, aber nicht vor der Kritik. Die Freiheit der Meinung ist die Freiheit der Intelligenz, die als störend oft empfunden.
Der legendäre Kleine Mann hat an der Freiheit der Meinung keine rechte Freude, weil sie mir die Freiheit gibt, ihm das Herumschwadronieren seiner Gehässigkeiten übel zu nehmen. Dann mault er: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ Soll heißen: „Das wird man doch nicht kritisieren dürfen“.
Eine bestimmte Sorte Mensch, die im Inneren des Landes keineswegs eine kleine Randgruppe bildet, kann sich mangels besserer Einsicht unter der Freiheit der Meinung nichts anderes vorstellen als das Recht, Sauereien von sich zu lassen. Und dann wird dauernd gefragt, ob die Menschen, die den schnauzbärtigen Haßprediger verachten, sein Machwerk überhaupt gelesen haben. Nein. Ich habe das Buch von Thilo Sarrazin nicht gelesen. Ich muß es auch nicht lesen. Es ist viel daraus zitiert worden, und ich kann mich nicht entsinnen, daß der Autor jemals reklamiert hätte, seine Kernthesen seien falsch dargestellt worden. Darum bin ich befugt, das, was ich über das Buch von Hörensagen kenne, beim Wort zu nehmen.
Es ist auch Quatsch, wenn der Duisburger Museumsdirektor Raimund Stecker erzählt, man dürfe „diese Themen nicht totschweigen“ und dem Sarrazin im Lehmbruck-Museum ein Forum bietet (WAZ: „Bühne für Haß“). Über das Indiskutable nicht zu diskutieren hat nichts mit Totschweigen zu tun. Ich diskutiere auch nicht mit einem Handtaschenräuber darüber, wem die Handtasche gehört.
Die Phrasen des Stammtisches und solche Ansichten wie der Herr Sarrazin von sich gibt waren noch nie der Zensur unterworfen. Darum hat der legendäre Kleine Mann gegen Zensur nichts einzuwenden.
Viele sind bereit, auf Freiheit zu verzichten. Nicht weil sie mehr Sicherheit wollen, sondern weil sie weniger Freiheit wollen.

aus DER METZGER 93 (2011)

Chonique Scandaleuse

Mit der Einrichtung von Bundesamt und Landesämtern für Verfassungsschutz 1950 begann eine Chronik der Skandale und Merkwürdigkeiten. Eine Übersicht (Stand: Februar 2012).

1953: Die „ Vulkan-Affäre“. Aufgrund eines Dossiers des Verfassungsschutzes wurden in einer Operation mit dem Decknamen „Vulkan“ über dreißig Personen verhaftet, denen Wirtschaftsspionage für die DDR vorgeworfen wurde. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos. Einer der zu Unrecht Verdächtigten beging in der Haft Selbstmord.

1954: Die John-Affäre: Otto John,  erster Chef des Verfassungsschutzes, floh in die DDR. Johns Motive wurden nie geklärt. John kehrte in die BRD zurück und erklärte – wenig glaubhaft –, er sei entführt worden.
Sein Nachfolger, Hubert Schrübbers, wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, weil seine Verwicklung in die Terrorjustiz des Naziregimes herausgekommen war.

1956 ff: Das KPD-Verbot. Das vom Bundesverfassungsgericht erlassene Verbot der KPD wurde von herrschenden Kreisen in der BRD dazu genutzt, den Kalten Krieg im Inneren des Landes zu führen und alle oppositionellen fortschrittlichen Bestrebungen zu kriminalisieren (siehe DER METZGER 78 et al). Hunderttausende Ermittlungsverfahren wurden eröffnet, tausende Verhaftungen durchgeführt. Die Verfassungsschutzämter versorgten Polizei, Justiz und Presse mit „Informationen“.

1963: Die Telefon-Affäre. Das Kölner Amt hatte Weiterlesen

DER METZGER wird 100: Atmosphäre der Beobachtung (Beobachtung der Atmosphäre)

Ein weiterer Auszug aus „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“ in DER METZGER Nr. 100 (Mai 2012):

Foto: Hafenstaedter

Hafenstaedter: Im Verfassungsschutzbericht des Bundes über das Jahr 1973 wird in einer Collage linker Zeitschriften auch ein Ausschnitt des Titelblatts des METZGER Nr. 19 mit dem behördlichen Zusatz „Anarchistische Blätter“ abgebildet. Hast du eine Ahnung, wie es dazu kam? Hatte dieses staatliche Stigma damals irgendwelche Auswirkungen positiver oder negativer Art? Gab es unabhängig von diesem Ereignis später direkte staatliche Repressionen gegen den METZGER, z.B. im sogenannten deutschen Herbst?

Zunächst würde ich ja gerne mal erfahren: Wie ist eigentlich das Bundesamt für Verfassungsschutz in den Besitz dieses Heftes gekommen? Nun, in der Zeit war die Auflage hoch. Vielleicht haben die irgendwelche linken Buchhandlungen abgeklappert. Vielleicht war auch irgendein Abonnent Mitarbeiter des Bundesamtes. Und dann ist die Frage: Wie kommen die auf „anarchistisch“? Bei Wikipedia wird DER METZGER auch als eine Zeitschrift mit anarchistischer Tendenz geführt. Und ich war auch überrascht, daß die anarchistischen Archive wie z.B. von Stowasser und von Schmück in ihren Bibliografien und in ihren Sammlungen diese Zeitschrift auch führen. Ich hab den Stowasser auch gefragt: Wieso, ist das denn eine anarchistische Zeitschrift? Paßt das denn dazu? Und dann schrieb der mir zurück: Jaja, das lassen wir als anarchistisch gelten. Aber ich hab mich ja nie zum Anarchismus bekannt. Allein schon deshalb, weil die Gralshüter des Anarchismus mich erschrecken mit ihrem Dogmatismus. Ich bin ja nie Anarchist gewesen, ich war immer Stalinist.
Ich finde, Anarchismus ist als Lebenskonzept eine gute Sache. Daß man sich von keinem befehlen läßt und niemandem befiehlt. Das ist ein gutes Lebenskonzept, aber ein miserables Gesellschaftskonzept. Das ist ja nicht auszuhalten.
Die Frage ist auch, wie lange dauerte denn der Deutsche Herbst? Nicht so lange wie ein meteorologischer oder botanischer oder astronomischer Herbst, nicht drei Monate. Der dauerte eigentlich ein ganzes Jahrzehnt. Schon Anfang der 70er Jahre gab es eine Repressionswelle, und es gab eine sehr aggressive Tätigkeit der Polizei und der Sicherheitsbehörden. Und dann ist die Frage: Was bedeutet in dem Zusammenhang der Begriff „anarchistisch“? Ich erinnere daran, daß der erste Steckbrief, mit dem die RAF-Mitglieder gesucht wurden, die Überschrift hatte „anarchistische Gewalttäter“. Das waren ja gar keine Anarchisten. Die richtigen Anarchisten haben die RAF als „Leninisten mit Knarre“ bezeichnet, abfällig. Der Begriff „anarchistisch“ war kein geistesgeschichtlicher Begriff, sondern ein Kampfbegriff, nach dem Motto: Das sind die Allerschlimmsten. Und deshalb ist es dann schon sehr brisant, wenn man in diese Kategorie eingeordnet wird.
Ich wurde in den 70er Jahren vom Bundeskriminalamt beobachtet. Die haben sich auch nicht die geringste Mühe gegeben, ihre Beobachtung geheimzuhalten, die haben sich auffällig benommen, sind z.B. mit Fotoapparat in Nachbars Garten herumgestapft, um um mich herum eine Atmosphäre der Observation zu schaffen. Es gab auch die „Beobachtende Fahndung“, in Zeiten, in denen der Computer noch nicht eine so große Rolle spielte wie später, hat man da schon Methoden der Rasterfahndung entwickelt. Wer in der „Beobachtenden Fahndung“ war, das waren etliche tausend Leute, der konnte sicher sein, beim Grenzübertritt rausgewunken zu werden. Wir sind früher oft nach Holland gefahren, um da billig Tabak und billig Kaffee zu kriegen. Wenn man nicht durchgewunken wurde, sondern der Ausweis vorgezeigt werden mußte, dann wurden wir rausgewunken, und der Wagen wurde von oben bis unten durchsucht.
Die Herren vom Bundeskriminalamt haben sich mir auch vorgestellt. Weiterlesen