Schon in frühen Kindertagen stellte sich heraus, daß ich sehr musikalisch bin. Gerade des Sprechens fähig, schmetterte ich mit lauter Stimme, was ich im Radio gehört hatte: „Man müßte nochmal zwanzig sein“, „Der schönste Klatz ist immer an der Theke“ und „Das machen nur die Beine von Dolores, daß die Senores nicht schlafen gehen“. Unter einer Dolores konnte ich mir ebenso wenig vorstellen wie unter Senores,.
Meine Musikalität fiel auf. Ich mußte immer meine Tanten unterhalten mit „La Poloma ohé“ und „O Sohle mio“ und erntete Beifall dafür.
Das Radio war ein Zauberkasten. Die Radio-Fritzen setzten wohl jeden Tag eine Melodienfolge von Ralph Benatzky ins Programm. Hätten sie sich klar gemacht, daß der Komponist des „Weißen Rößl“ von den Nazis verfolgt worden war, hätten sie es vielleicht nicht getan. Aber so hörten wir immer wieder „Mein Mädel ist nur eine Verkäuferin in einem Schuhgeschäft mit 80 Franc Salair in der Woche, doch sie gibt mir für viele Millionen Glück“ beziehungsweise „Es muß was Wunderbares sein, von dir geliebt zu wärdän, denn meine Liebe die ist dein, solang ich leb‘ auf Ärdän. Ich kann nichts Schöneres mir dänkän, als dir mein Herz zu schänkän“ beziehungsweise „Ich lade Sie ein Fräulein zu einem Glas Wein Fräulein, zu einem Glas Sekt Fräulein, zu einem Glas Punsch“.
Ich stelle mir das gerade vor, was der Tenor mit dem Fräulein anstellt: Erst ein Glas Wein. Dann ein Glas Sekt. Dann ein Glas Punsch. Die muß alles durcheinander trinken, was man doch gar nicht soll.
„Dann kommt das Desseeeert.“ – „Und was kommt nachheeeeer?“ – „Dann lad ich Sie ein Fräulein zu einem Glas Wein Fräulein, zu einem Glas Sekt Fräulein, zu einem Glas Punsch“ – das ganze nochmal von vorn, ist der Mann denn bescheuert?
Ein Schlager, den man in den 50er Jahren oft hörte, zeigte die ganze Dramatik des Geschlechtslebens im Angestellenmilieu in Zeiten des Wirtschaftswunders:
„In einer kleinen Konditorei da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee. Du sprachst kein Wort kein einziges Wort, und ich wußte sofort, daß wir uns verstehn. Und das elektrische Klavier das klimpert leise eine Weise von Liebe Leid und Weh. In einer kleinen Konditorei da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee.“
Das muß man sich mal vorstellen: Die einzige Verständigungsbasis ist die Stummheit. Denn sie sprach kein Wort kein einziges Wort, und er wußte sofort, daß sie sich verstehen. Sobald sie ein Wort sagt, verstehen sie sich nicht mehr. Aber an diesen Sonntagnachmittag im weißen Hemd (er) und mit Hütchen auf dem Kopf (sie) werden sie sich ihr Leben lang erinnern – es war der Höhepunkt. Zum Kuchen trinken die Tee! Die halten auf sich und sind zu Opfern bereit. Gewöhnliche Proleten wie wir trinken ordinären Kaffee.
Zum Glück verstand ich damals nicht, was die sangen. Welcher Schaden hätte in der Kinderseele entstehen können, wenn sich dort die Vorstellung eingeschlichen hätte, die Liebe fände keinen besseren Platz als den in einer kleinen Konditorei, in der ein elektrisches Klavier eine Weise von Liebe Leid und Weh leise klimpert. Dem aufkommenden Rock and Roll begegnete Peter Alexander mit dem Vers: „Damit haben Sie kein Glück in der Bundesrepublik. Wir tanzen lieber Tango.“
Nein, ich blieb von dem verschont, was sie meinten. Mißverständnisse schützten meine Seele. Man spielte oft im Radio aus dem „Weißen Rössel“: „Im Salzkammergut da kann man gut lustig sein“. Vom Salzkammergut wußte ich nichts, und so verstand ich: „Im Salz kann man gut, da kann man gut lustig sein.“ Ich stellte mir Leute vor, die im Keller in mit Salz gefüllten Fässern sitzen, mit dem Kopf aus dem Salz rausragen und sich angeregt unterhalten. Was für eine Musik, die erst im falschen Verständnis ihre Sprengkraft entfaltet!
Man spielte im Radio auch oft den Schlager von Robert Stolz: „Leb wohl, mein kleiner Gardeoffizier, leb wohl, leb wohl und vergiß mich nicht und vergiß mich nicht!“ Unter einem Gardeoffizier konnte ich mir nichts vorstellen, und so verstand ich „Gartenoffizier“. Ich glaubte, es seien Gartenzwerge oder so etwas ähnliches gemeint. So war mir durch dieses Musikstück mehr klargeworden als es dem Urheber lieb sein konnte.