„… An dieser Stelle, vor vier Jahren, eröffnete Willy Brandt den ersten gesamtdeutschen Bundestag. Ich habe zur Vorbereitung der meinen seine Rede vor kurzem noch einmal gelesen und mit Bedauern festgestellt, daß sich nicht alles von dem, was ihm vorschwebte, erfüllt hat. Willy Brandt hat uns verlassen; doch wir stehen, meine ich, immer noch in seiner Pflicht…“
Stefan Heym als Alterspräsident des Deutschen Bundestages am 10. November.1994.
Sicherlich würde man Willy Brandt nicht gerecht, wenn man in ihm einen Schurken sähe (was manche taten). Für das linke Lager in der Bundesrepublik war es seinerzeit geboten, Brandts Reformpolitik und Ostpolitik gegen seine Gegner, die rechts standen, in Schutz zu nehmen, ohne daran Illusionen zu knüpfen. Was für Willy Brandt spricht, ist am wenigsten das, was ihm „vorschwebte“. Brandts Ostpolitik war von der Einsicht geleitet, daß das Lager der sozialistischen Staaten zu sehr konsolidiert war, um ihm gegenüber mit einer starren, aggressiven Stahlhelmpolitik etwas zu gewinnen. Er war und blieb ein Gegner der DDR, wußte aber einzuschätzen, daß eine Ostpolitik ohne gewisse Konzessionen nicht auskommen konnte. Er erkannte die Fesseln, die der Ostpolitik der BRD angelegt waren. Seine Politik konnte nur so lange nützlich sein, solange es diese Fesseln gab, solange die DDR sich konsolidieren konnte. Brandts Politik konnte nur so lange vernünftig sein, solange er daran gehindert war, zu verwirklichen, was ihm vorschwebte. Man kann sagen: Willy Brandt war so lange eine positive Gestalt der Zeitgeschichte, solange er unter dem Zwang handelte, der durch die Existenz und Stärke der DDR und der sozialistischen Staatengemeinschaft gegeben war. Als dieser Zwang entfiel, blieb von der Entspannungspolitik nichts mehr übrig. Der Kalte Krieg wurde innenpolitisch fortgesetzt.
Aus DER METZGER 48 (1995), hier überarbeitet. Der ganze Text, in dem es um den Kalten Krieg im Kulturleben der 90er Jahre geht, ist auch nachzulesen in „Streiten Sie nicht mit einem Deutschen, wenn Sie müde sind“.
Noch ein Zitat über Willy Brandt:
„Der Willy Brandt ist ein Versager. Aber als Versager ist der eine Kanone.“
Wolfgang Neuss