11. September: Der Terror & die Leute

— Diese Gelegenheit mußte genutzt werden: Wenn da Krieg ist, wollen wir mitsiegen. — Zehn Jahre zuvor waren die Religionskrieger der EU noch willkommen als „Freiheitskämpfer“, und die „Apartheid der Geschlechter“ hieß damals ganz apart: „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ — Wenn deutsche Anti-Deutsche zu Bellizisten werden, dann wollen sie auch gleich den totalen Krieg. Dumme Jungen sind das, die nicht wissen, was Krieg ist. — Der Feind meines Feindes ist mein Feind, wenn er Antisemit ist.

Bericht zum Attentat in New York am 11. September 2001, geschrieben im November 2001, erschienen in DER METZGER Nr. 63 (2001) leicht gekürzt.

Die Katastrophe, mit der nach Ansicht mancher Leute das soeben begonnene Jahrtausend auch schon gelaufen ist, wurde mir schonend beigebracht. Ich kam kurz vor 8 nach Hause (kein Mensch auf der Straße hatte sich irgendwie anders verhalten als sonst), schaltete den Fernsehkasten ein, um zu sehen, was es gibt, und sah den Wickert zu ungewohnter Zeit. Im Hintergrund ein Hochhaus mit Qualm und eine Schlagzeile „Terror in New York“. Terror in New York? Dafür eine Sondersendung? Um 8 Uhr auch kein Gong, Wickert redete weiter. Und nach und nach erfuhr ich: In einem Wolkenkratzer gab es eine Explosion. Der Wolkenkratzer war einer der beiden Türme des World Trade Center. Ein Flugzeug ist hineingeflogen. Es war ein entführtes Flugzeug mit Passagieren darin. In den anderen Turm ist auch ein Flugzeug hineingeflogen. Eingestürzt sind die Türme dann auch noch. Zwischendurch erfuhr ich noch, daá auch auf das Pentagon in Washington ein Flugzeug gestürzt ist und ein viertes, ebenfalls entführtes mit Passagieren, irgendwo abgestürzt war, bevor es auf ein Ziel gelenkt werden konnte.
Auf allen TV-Kanälen Sondersendungen, bestehend aus der unentwegten Wiederholung des Bildes von einem Flugzeug, das in einen Wolkenkratzer gleitet, und zwischendurch kamen Leute zu Wort, die schon mal auf der Landkarte mit dem Finger auf New York getippt hatten, also Experten waren. Nicht nur wie man mit zehn Sekunden Bildmaterial und Korrespondenten, die nix genaues auch nicht wissen, zehn Stunden Sondersendung ausfüllt, hat mich erstaunt. Der zuständige Geheimdienst war nicht in der Lage, ein Ereignis vorherzusagen, das über lange Zeit an vielen Orten von vielen Leuten vorbereitet wurde, konnte aber schon nach zehn Minuten genau mitteilen, wer die Hintermänner des Attentats waren. Noch erstaunlicher ist, daß keine Organisation sich zu diesem Attentat bekannte und dazu eine Erklärung abgab.

Wogegen die Rote Armee kämpfte
Die Regierung der USA hat sich viel vorgenommen. Als ginge es jetzt ums Ganze, holt sie zum entscheidenden Schlag aus gegen die Mächte des Bösen, die in Osama bin Laden verkörpert sind, und sie verlangt von aller Welt Ergebenheit. „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, der wird – so US-Präsident Bush – als Feind angesehen. Die rotgrüne Bundesregierung meldet sich zur Stelle. Als würde sie einem Hilfeersuchen der USA entsprechen, schickt sie gegen alle Gewissenspein 3.900 Soldaten. Dabei mußte sie das Kanonenfutter geradezu aufdrängen: „Bitte bitte nehmt sie doch!“ Die Koalition brach daran beinahe auseinander. Aber diese Gelegenheit mußte genutzt werden: Wenn da Krieg ist, wollen wir mitsiegen.
Der Kreuzzug gegen das Böse sei natürlich nicht ein Kampf der Kulturen, wird betont. Aber was soll es denn sonst sein, wenn der Präsident der USA in seinem Manichäertum wie das christlich-abendländische Spiegelbild der islamisch-morgenländischen Schreckensvision erscheint? Wieviel die Beteuerung wert ist, ist daran zu messen, um wieviel es Menschen mit morgenländischem Appeal leichter oder schwerer gemacht wird, eine Wohnung zu finden.
Die Zivilisation wehrt sich gegen den internationalen Terrorismus. Die Zivilisation, das sind „wir“, und die Zivilisation ist so, wie „wir“ sind, genauer: wie „wir uns“ sehen. Wenn die Zivilisation mit „uns“ gleichsetzt wird, dann sind ihre Feinde die anderen. Im Kampf gegen das Böse ist Gefolgschaft die Parole. Nieder mit dem Unterschied! Das ist es, was man heute unter Zivilisation versteht.
Und der internationale Terrorismus – was soll das sein? Es gibt ihn nicht. Ein weltumspannendes Netz des Terrors, dessen Fäden in Afghanistan zusammenlaufen, ist eine propagandistische Projektion. Terror ist eine Methode der politischen Auseinandersetzung. Er wurde und wird angewandt von progressiven und reaktionären, von herrschenden und oppositionellen Kräften, von Revolutionären und Konterrevolutionären, von Staaten und von nichtstaatlichen Bewegungen, gegen die USA und im Bündnis mit den USA und von den USA selbst. Er wurde und wird angewandt gegen legitime und illegitime Macht, und zuweilen kämpfen Terroristen gegen Terroristen. Wie auch immer über einen Politiker, eine Partei, eine Bewegung, einen Staat zu urteilen ist: die Maßstäbe, nach denen heute die Welt in Zivilisation und Terrorismus aufgeteilt wird, dürfen nicht gelten.
Ob jemand als Freund der USA oder als das Böse der Welt präsentiert wird, ist eine Frage des Datums oder des Zufalls. Noch nicht lang ist’s her, daß die USA bin Laden nebst Taliban als gute Freunde an ihre Brust drückten. So war es auch mit Saddam Hussein und Noriega: Figuren, von den USA aufgebaut gegen den Kommunismus. Kettenhunde, die dann zu bösen Buben werden, wenn sie nicht mehr bei Fuß gehen. Nur den Pol Pot haben sie gleichzeitig öffentlich verdammt und ebenso öffentlich gefördert. Nützlich war er ihnen als realer Antikommunist und als fiktives Schreckgespenst des Kommunismus.
Die USA haben nun dem Taliban-Regime den Krieg erklärt. Das Taliban-Regime in Afghanistan ist eines der grauenhaftesten Regime, die das Zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat. Die Menschen sind rechtlos, das Leben unter diesem Regime ist freudlos, die Menschen hungern, das Elend ist unbeschreiblich. Die Unterdrückung der Frauen ist eine Schande.
Gegen die herrschenden Taliban wird die sogenannte Nordallianz aufgerüstet. Die in der Nordallianz vereinigten Kräfte regierten in Afghanistan, bevor sie von den Taliban verdrängt wurden. Unter deren Regime ging es den Menschen des Landes, vor allem den Frauen, kaum einen Deut besser. Nordallianz und Taliban: das sind konkurrierende Fraktionen der afghanischen Reaktion, die, mal mehr oder weniger vereint, mal mehr oder weniger getrennt, gegen die frühere sozialistische Regierung kämpften. So sehr sie miteinander konkurrieren, ist ihnen ihr ultrareaktionärer Charakter gemeinsam. Nordallianz contra Taliban: das ist wie Pest gegen Cholera. Das ist kein Gegensatz, das sind zwei Varianten der Unterdrückung.
Die sozialistische Regierung kam im April 1978 ans Ruder und begann, das Land zu modernisieren, die Landwirtschaft zu reformieren, die Bevölkerung zu alphabetisieren und die gesellschaftliche Stellung der Frau zu verbessern. Dagegen erhob sich der Widerstand der Islamisten, die die feudalen und vorfeudalen Strukturen fanatisch verteidigten. Sie erfreuten sich der besonderen Wertschätzung durch die USA. Denn den USA war daran gelegen, an der Südflanke der Sowjetunion Spannung zu erzeugen. Die Gotteskrieger waren für die USA natürliche Verbündete, von ihnen wurden sie reichlich mit Kriegsgerät versorgt. Das gemeinsame Ziel: jeden Anflug von Fortschritt und Emanzipation im Keim zu ersticken. Im Dezember 1979 beanspruchte die Regierung den militärischen Schutz der Roten Armee. Das änderte nichts daran, daß in weiten Gebieten des Landes die Macht faktisch in den Händen der Contras lag. Das Operationsgebiet der linken Regierung war, unter dem Schutz sowjetischer Truppen, auf Teile des Landes beschränkt. Aber dort waren jene Jahre die beste Zeit, die das Land je erlebte. Der Sturz der linken Regierung durch den Sieg der Gotteskrieger war das größte Unglück, das das Land treffen konnte. Das findet auch Thomas Ebermann: „Das sowjetische Imperium … hat für die Menschen in Afghanistan die relativ besten Lebensbedingungen unter der Herrschaft aufgeklärter, nationaler Modernisierer zu stabilisieren versucht. Nicht ohne Eigennutz, aber leider erfolglos.“
Und das geschah, als Afghanistan von „Fremdherrschaft“ und „von sowjetischer Besatzung befreit“ war: Das Tugend-Ministerium verfügte: Frauen dürfen in Krankenhäusern keine männlichen Patienten besuchen. Frauen, die vergewaltigt wurden, werden nicht als Opfer behandelt, sondern wegen Unzucht bzw. Ehebruch angeklagt und mit der Todesstrafe bedroht. Frauen dürfen nur im Medizin-Sektor arbeiten. Dazu brauchen sie eine Genehmigung des Tugend-Ministeriums. In keinem Fall dürfen Frauen einen Vorgesetzten-Posten besetzen. Jede andere Erwerbstätigkeit ist Frauen untersagt. Sie dürfen kein Geld verdienen und auch keinen Tauschhandel betreiben. Viele Frauen sind durch den Krieg Witwen geworden und müssen Kinder versorgen. Ihnen bleibt keine Möglichkeit, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Frauen dürfen in keinem Fall Hilfe von karitativen Organisationen annehmen. Den internationalen Hilfsorganisationen, die in Afghanistan tätig sind, wurde von der Regierung untersagt, den Kriegswitwen zu helfen.
Daß nach dem Sturz der linken Regierung und dem Abzug der sowjetischen Truppen solche Zustände einkehren würden, war abzusehen. Daß nach dem Abzug der sowjetischen Truppen das Gemetzel erst richtig losgehen konnte, das konnte hierzulande jeder wissen. (Siehe DER METZGER 51 und 54).
Zum Internationalen Frauentag 1997 startete eine EU-Kampagne, die „die Apartheid der Geschlechter“ der Taliban anprangerte. Leider ein paar Jährchen zu spät! Zehn Jahre zuvor waren die Religionskrieger der EU noch willkommen als „Freiheitskämpfer“, und die „Apartheid der Geschlechter“ hieß damals ganz apart: „Selbstbestimmungsrecht der Völker“.
Die Front gegen den Terror gab es also schon damals, nur war es damals eine Front für den Terror: weil der Terror gegen den Kommunismus gerichtet war. Und diese Front war breit. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der hiesigen Linken meinte auch: „Russen raus aus Afghanistan“ – als ob sie nicht hätten ahnen können, wohin das führt. Auf die Contras in Nicaragua waren sie nicht so gut zu sprechen, aber die Contras in Afghanistan haben sie – gelinde gesagt – ein wenig falsch eingeschätzt. Dabei waren die Nicaragua-Contras Waisenknaben im Vergleich zu ihren afghanischen Kollegen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der hiesigen Linken verwechselte die brutalste Variante der Konterrevolution mit „Widerstand gegen Fremdherrschaft“, beziehungsweise, wenn man ganz bekloppt ist, mit „Kampf der Volksmassen gegen den sowjetischen Sozialimperialismus“.
Unter geistiger Komplizenschaft pseudolinker Moralisten fand eine Entwicklung statt, die dazu führte, daß „ja tatsächlich so etwas wie aufgeklärte Vernunft oder auch ’nur‘ ein menschenfreundlicher Standpunkt aus ganzen Weltregionen verschwunden, richtiger: extrem marginalisiert (ist)“ (Thomas Ebermann).

Vatis Argumente: Scharfsinn ist blöd. Stumpfsinn ist schlau
„Hunderte in den eigenen Selbstmord hineinzureißen, damit tausende an ihrem Arbeitsplatz verbrennen – das ist beispiellos“, fand Matthias Küntzel. Das ist eine simple Tatsache und eine Übertreibung zugleich. Das Attentat von New York ist mit anderen historischen Ereignissen vergleichbar, etwa mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo 1914, durch das – wie heute – ein Krieg ausgelöst wurde, der – wie es jetzt geschehen kann – sich flächenbrandartig ausbreitete. Das Attentat von New York ruft auch die Erinnerung wach an den japanischen Luftangriff auf die US-Kriegsflotte in Pearl Harbour, der – mit militärischen Maßstäben gemessen – für die USA eine schwerere Attacke war als das Attentat vom 11. September 2001. Hawaii war damals noch kein Bundesstaat der USA, und somit wurden die USA jetzt erstmals auf eigenem Territorium angegriffen. Die Methode, mit der die Attentäter von New York vorgegangen sind, mag beispiellos sein. Die schlimmste Wunde wurde den USA aber in Vietnam geschlagen. Verglichen damit ist das Attentat von New York ein Nadelstich. In der Bilanz der Kriege und des Elends der Epoche nach 1945 ragt das, was am 11. September in New York geschehen ist, nicht weit heraus. Diese Feststellung wird manchem Zeitgenossen zynisch vorkommen. Aber es liegt ein viel größerer Zynismus darin, daß das – verständliche – Entsetzen über das Leid, das über tausende Menschen gekommen ist, so viel Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid enthält, dem unzählige Menschen ihr ganzes Leben lang ausgesetzt sind.
„Die Opfer der deutschen und der US-Außenpolitik in Chile oder Afrika … oder in Jugoslawien sind gleichgültig, sind kapitalistische Normalität“, beklagt Jutta Ditfurth in Konkret. „Wie anläßlich von ‚Wiedervereinigung“…, Golfkrieg … und Jugoslawienkrieg … nutzen einige Linke die Zäsur und wechseln, wie manch ein Autor von ‚Jungle World‘, iz3w‘ oder ‚Taz‘ tränenselig auf die Regierungsseite.“
Dort ist Michael Rutschky längst angekommen. Sein Manifest der überheblichen Gleichgültigkeit (Taz vom 24.10.2001) ist so exemplarisch, daß es ausführlich zitiert werden darf.
„Was man zu hören bekommt, sind in der Regel kindliche, womöglich kindische Schimpf- und Klagereden gegen die USA.“ Rutschky bezieht das auf Bernard Cassen, Präsident von Attac, der bemerkt hatte: „In den USA gab es durch den Anschlag 7.000 Tote. Aber an jedem Tag sterben 30.000 Kinder unter fünf Jahren an Hunger… Wenn man das nicht in Betracht zieht, hat man nichts verstanden.“ Rutschky weiß darauf zu reagieren: „Was der Präsident dieser … Vereinigung … über die WTC-Toten zu sagen wußte, entspricht dem Genre der kindlichen Schimpf- und Klagerede besonders prägnant. … Über die läppische Zahl der WTC-Toten machen sie ein solches Gewese, von patriotischen Erweckungsfeiern daheim bis zum Krieg in Afghanistan – die 30.000 toten Kinder täglich ignoriert George W. Bush dagegen. Das ist doch wieder typisch für die USA! Der Präsident Cassen verrät nicht, was das für eine Zahl ist, wie sie sich zusammensetzt. Es geht ja weniger um ein statistisches Datum denn“ (denn!) „um eine rhetorische Geste. Es könnten auch 51.000 oder 17.000 tote Kinder sein, die Bush täglich ignoriert. Hauptsache, die Zahl übertrifft die der WTC-Toten ordentlich.“
Wirr ist seiner Rede Sinn. Übrig bleibt: Michael Rutschky feilscht um Tote. „Präsident Cassen“ hat sehr wohl „verraten“, „was das für eine Zahl ist“. Sich dumm stellen, wenn Ungerechtigkeit angeklagt wird, ist das Abwehrritual des Spießbürgers.
Nicht daß Menschen täglich an Hunger sterben in einer größeren Zahl als an einem Tag einem Attentat zum Opfer fielen, ist für Rutschky der Skandal, sondern daß dies ausgesprochen wird. Daß es neben der offenen auch eine strukturelle Gewalt gibt, daß nicht durch den Zwischenfall, sondern durch die Normalität die meisten Opfer gefordert werden, nicht durch die Ausnahme, sondern durch die Regel, ist die Erkenntnis, mit der die linken Störenfriede seit je den Spießbürgern das Leben zur Hölle machen. Daß auf skandalöse Zustände aufmerksam gemacht wird, wird seit je als störend empfunden und weckt bei Zeitgenossen, die sich in diesen Zuständen eingerichtet haben, bissige Aggressivität. Rutschky: „Wahrscheinlich herrscht auch irgendwo in Afrika gerade wieder eine Hungersnot, die viele Kinder tötet. Sie alle ignoriert der amerikanische Präsident – im Unterschied zu Präsident Cassen, der auf seine Einsicht in die Zusammenhänge mächtig stolz ist.“
Genau! Der will sich nur wichtig machen! In dieser Welt und in dieser Zeit sterben Menschen an Hunger? Wie viele sind es täglich? Lauter Fragen, die nur einer hören will, der stören will. Hunger findet Michael Rutschky nicht so schlimm (er hat schon gegessen). Über Hunger reden ist eine Belästigung. Der Taz-Kolumnist wimmelt sie ab mit rhetorischer Geste. Das hat er geübt: „Mit kindlichem, aber deshalb auch ein wenig blödem Scharfsinn sucht man allüberall die USA als Verursacher. Haben sie, bevor sie ihn bekämpften, Saddam nicht überhaupt erst groß und stark gemacht? Gilt nicht dasselbe auch für die Taliban und Ussama bin Laden? Waren sie den USA doch lieb und wert, als es gegen die UdSSR ging! Warum unterstützen die USA in Afrika die Kleptokratien, statt Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu erzwingen, an denen ihnen, höhöhö, angeblich doch so viel liegt!?“
Da ihm auf solche lästigen Fragen keine Antwort einfällt, die nicht zugleich auch sein Arrangement denunzieren würde, zitiert er sie angewidert, mit gerümpfter Nase und schief gezogener Fresse, und er ärgert sich kaputt über den entlarvenden Spott der Canaille: „Höhöhö!“ Wenn ich schwarz auf weiß vor mir habe, wie ein arrivierter Schwätzer sich mit der Formel „Scharfsinn ist blöd, Stumpfsinn ist weise“ selbst desavouiert, dann sage ich auch: „Höhöhö!“ Bei so viel Albernheit sage ich sogar: „Hähähä!“. Mit eloquentem Stumpfsinn und blöd wie er ist versucht er, sich mit Vatis Argumenten über die Fakten zu erheben, in einer Rubrik, die „Schlagloch“ heißt und besser „Arschloch“ hieße. Wer ohne Rückgrat und ohne Charakter nichts geworden ist, dem bleibt als einzige Perspektive der Aufstieg, und er kann sich mit Dummschwätzerei an die Mächtigen anschleimen und sich und seine ebenso stumpfsinnigen Leser über seine Bedeutungslosigkeit hinwegtäuschen, indem er die ganze Weltpolitik zu Kinderkram erklärt. „Das Volk hat kein Brot? Dann soll es doch Kuchen essen!“ Wäre dieser Satz nicht schon historisch, hätte er in Rutschkys Kolumne das Licht der Welt erblicken können. Er paßt zu dieser Mentalität. Die Rubrik sollte noch besser „Knallcharge“ heißen.

Bahamas: Pazifisten sind Mörder
Während Taz-Rutschky die Realität noch als Belästigung wahrnimmt, ist sie dem Paranoya-Blatt Bahamas vollends abhanden gekommen. Bahamas lesen heißt die Welt ganz neu erleben.
Die Bahamas-Redaktion wertet den „islamistischen Terrorangriff auf das World-Trade-Center“ als „das fürchterlichste nur denkbare Ereignis“. Warum? Das World-Trade-Center, so Bahamas, sei „das Symbol von Urbanität und Naturbeherrschung“. Zum Symbol der Urbanität wurde das Gebäude allerdings erst nach seiner Zerstörung. Bis zum 10. September 2001 galt es vielen New Yorkern eher als Symbol phantasieloser Architektur und als Verschandelung des Stadtbilds. In dem Moment, als es zum Symbol der Urbanität wurde, hörte es auf, Symbol der Naturbeherrschung zu sein, als es nämlich, dem Gesetz der Schwerkraft erliegend, in sich zusammenstürzte. Symbol könnte es dann eher dafür sein, daß die Beherrschung der Natur ein Wahn ist, der sich rächt. Der Mensch täte besser daran, die Naturgesetze zu erkennen, um sie anwenden zu können, anstatt von der Beherrschung der Natur zu spintisieren. Aber „Naturbeherrschung“ wurde ja nur deshalb in den Satz hineingeschrieben, weil die Bahamas die Öckos nicht leiden kann.
Um nichts anderes geht es. Bahamas ist mit Eifer darum bemüht, sich gegenüber dem Rest des Universums zu positionieren, wozu das New Yorker Attentat – als nützlichstes nur denkbares Ereignis – als Vorwand herangezogen wird. Günther Jacob hat (in Konkret) Bahamas „den Wahn der Identifizierung“ attestiert. So kommt mir das auch vor. Während Rutschkys Kriegskommentar Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ entstiegen sein könnte, ist der Platz von Bahamas eher in der „Pension Schöller“. Beim Nesen der naunigen Artiken von Senent, Wertmünner, Nene etc. werden nauter abenteuerniche Identifikationen vorgestennt: Die Went ans Winne und Vorstennung.
„Die komplette Identität“ (na?) „zwischen den islamischen Volkstumskriegern und ihren deutschen Eichmann-Freunden“ (damit sind die deutschen Linken gemeint) „gründet auf einem gemeinsamen, vollkommen verinnerlichten Krisenlösungsreflex: der Synthetisierung und Exterritorialisierung der gesellschaftlichen Widersprüche und des höchsteigenen verkorksten Lebens“ (hörthört!) „in einen selbstmörderischen Amoklauf gegen die bösen Mächte des Abstrakten, den Ami, den Juden, die Banken, die Sittenstrolche, den individualistischen Bürger, den vom Fron sich drückenden Sozialschmarotzer.“ Mit dem Fron ist übrigens die Fron gemeint (vielleicht heißt es bei Bahamas demnächst „der Messer, die Radio, das Zeitung, die Speicher, das Löffel“). Wenn Sie das mit dem exterritorialen Verinnerlichung und der synthetischen Krisenlösungsreflex nicht verstanden haben, liegt das daran, daß es keinen Sinn hat, sondern nur dazu dient, die komplette Identität mit viel Geschepper zu servieren. Der Bahamas-Redakteur kommt mir vor wie ein Kellner, der die Suppe im Stechschritt heranträgt. Deutsche Linke sind islamischen Glaubens und mit Eichmann befreundet. Darum sind das auch die Bösen. Auf der anderen Seite die Guten: der Ami, der Jude, die Bank, der Sittenstrolch als Macht des Abstrakten, der Sozialschmarotzer ohne seinen Fron und der lange in der Versenkung verschwundene und jetzt wieder hervorgeholte konsumfreudige Citoyen. Na, wenn die sich mal vertragen! Wie beliebt der Sozialschmarotzer bei den Banken ist, habe ich erst durch Bahamas erfahren. Und wie gut der Ami auf den Sittenstrolch zu sprechen ist, erkennt man an den Wahlergebnissen. Mal ehrlich: Wer sich solche Abstraktmächte zusammenfantasiert, muß ja wohl vor den Schrubber gesaust sein.
„Auf nahezu jeder Seite von Taz und junge Welt“ wird die „offene Identifikation mit dem selbstmörderisch-völkischen Angriff“ entdeckt. Wenn Johannes Rau davon gesprochen haben soll („besonders demonstrativ beklatscht von Grergor Gysi“), Unterdrückung und Not hätten die Attentäter getrieben, meint Bahamas, er würde damit Massenmord rechtfertigen. Wenn Claudia Roth leise weinend „die USA belehrt“, das Völkerrecht kenne „kein Recht auf Rache“, behauptet Bahamas, sie hätte damit verneint, daß „das Massaker selbst ein Verbrechen außerhalb völkerrechtlicher Normen“ sei. Wenn Jutta Ditfurth das Attentat in einen Kontext mit anderen Gewaltereignissen stellt, wirft Bahamas ihr vor, sie verniedliche den Massenmord. Und wenn Joschka Fischer sich mit Arafat traf, dann „nicht obwohl, sondern weil dessen Rede so hetzerisch war“. Fischer entschuldigte sich für deutsche Kolonialverbrechen. Bahamas weiß warum: um „den Schulterschluß mit den ehemaligen Kolonien gegen Israel und seine Schutzmacht, die USA“ zu proben.
In der realen Welt ist Außenminister Fischer – koste es was es wolle, und sei es die Existenz seiner Partei – um den Schulterschluß mit den USA bemüht, ganz im Sinne des Kanzler-Wortes von der „uneingeschränkten Solidarität“. Fehlt nur noch, daß Bahamas dieses Bekenntnis des Bundeskanzlers als Kriegserklärung an die USA entlarvt. Jutta Ditfurth ist viel zu optimistisch, wenn sie meint, daß „einige Linke tränenselig auf die Regierungsseite wechseln“. Bei Bahamas sind es keine Tränen, sondern es ist Schaum vor’m Mund. Und wenn die Regierung Soldaten zur Verfügung stellt und „uneingeschränkte Solidarität“ anbietet, dann ist das für Bahamas zu wenig. Günther Jacob in Konkret: „Die Zeitschrift ‚Bahamas‘ fordert von den USA nicht weniger als die ‚militärische Beseitigung islamischer Herrschaft‘ und das Ende des ‚moslemischen Götzendienstes‘, was einem Ruf nach Kriegsverbrechen gleichkommt, weil dieses Ziel nur durch Massenmord zu erreichen wäre. Außerdem würde ein solcher Krieg eine maximale Gefährdung Israels bedeuten.“
Dieser Hinweis wird Bahamas wohl kaum beeindrucken.
Vor einigen Monaten sagte ich mal in einem Gespräch, daß die Pro-Israel-Fraktion der deutschen Linken nicht bloß pro Israel ist, sondern pro Sharon. Ich hielt das für überspitzt. Nach der Lektüre von Bahamas muß ich diese Einschätzung revidieren. In der nächsten Bahamas wird wohl stehen, Sharon sei ein Weichei, und er solle endlich mal Härte zeigen. Deutsche Linke, die sich als anti-deutsch aufplustern: deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu übertreiben. Wenn deutsche Anti-Deutsche zu Bellizisten werden, dann wollen sie auch gleich den totalen Krieg. Dumme Jungen sind das, die nicht wissen, was Krieg ist.
In Israel wird man sich wohl kaum für die Ergüsse dieser „Israel-Freunde“ interessieren, und wenn sich doch ein Exemplar der Bahamas dorthin verirrt und sogar aufgeschlagen wird, wird man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: „Seit Jahrzehnten müssen wir uns mit Feinden herumschlagen, und jetzt haben wir auch noch solche Freunde auf dem Hals.“
Auch das hab ich noch gelesen: Daß „der Antisemit auch Antirassist sein kann“. Womit gesagt sein soll, daß der Kampf gegen den Rassismus auch nichts anderes ist als Antisemitismus. Na klar! Wenn Antikapitalismus, Antimilitarismus, Antifaschismus in jeder Form als „antisemitisch“ entlarvt wurden, ist auch der Widerstand gegen Rassismus eine Verschwörung gegen Israel. Sie glauben mir nicht? Dann lesen Sie doch mal das Idiotenblättchen! Wenn man es mit Idioten zu tun hat, kann man nichts anderes erwarten als Idiotie, zum Beispiel sowas: „Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mörder“. Hinter dieser Schlagzeile verschanzen sich die Bekloppten.

Gute Nacht, Charly!
Was machen Bahamas-Leser, die von Bahamas entzückt sind? Ebenfalls Papier voll.
Eine „Antideutsche Gruppe Wuppertal“ formulierte „Kritische Fragen an den friedensbewegten Protest„, die allerdings nicht an die wirkliche, sondern an eine imaginierte Friedensbewegung gerichtet sind. Außerdem sind es keine Fragen, sondern in Frageform formulierte apodiktische Sentenzen, mit denen die antideutschen Tünnesse beweisen wollen, daß sie auch brav nachplappern können, was ihnen in Bahamas vorgeplappert wird. Darum verdienen diese „Fragen“ auch keine Antwort, sondern eine Abfuhr. In ihnen kehrt der längst vergessen geglaubte inquisitorische Ton der Revolutionswächter ohne Revolution zurück. Sie sollen den Befragten denunzieren, denunzieren aber den Fragesteller selbst:
„Trägt das Objekt antisemitischer Projektionen (sei es die Stadt New York als Verkörperung des Kosmopolitischen, die USA oder die hinter allem vermuteten Juden selbst) eine Verantwortung für diese? Analog dazu: Sind Juden in Israel selber schuld, wenn sie von palästinensischen Selbstmordkommandos in die Luft gesprengt werden?“
Die Leutchen sollten sich mal lieber um ihre eigenen Projektionen kümmern. Diese neuentdeckte Liebe zu den USA, die diese Frischbekehrten anderen Leuten einreden wollen, weil sie sie sich selbst einreden müssen! Diese Naivität, in New York die „Verkörperung des Kosmopolitischen“ entdeckt zu haben!
Das Dorf Hollywood, so berichtete aus Hollywood Bertolt Brecht, sei nach Vorstellungen entworfen, die man „hierorts vom Himmel hat“, und er fügte hinzu, daß es einer Hölle dann nicht mehr bedarf, weil für den Mittellosen dieser Himmel die Hölle ist. In dem Dorf Hollywood samt seiner gesamten Umgebung zwischen Atlantik und Pazifik ist es ein Verbrechen, ein Habenichts zu sein, und gewählt wird nur, wer die Kürzung der Sozialleistungen verspricht und sich als leidenschaftlicher Befürworter der Todesstrafe ausweist. Wie es um die „Weltoffenheit“ von New York bestellt ist, kann man bei Egon Erwin Kisch nachlesen. Um Bürgermeister der „Hauptstadt der Toleranz“ zu werden, mußte der Kandidat der New Yorker Schill-Partei, Rudolph Giuliani, „Null Toleranz“ versprechen. Wer der Justiz der USA auf die Finger schaut, wendet sich ab mit Grausen und weiß von Zivilisationsdefiziten zu erzählen. Wo Minderjährige zum Tode verurteilt werden, hat das 20. Jahrhundert noch nicht begonnen.
In Israel/Palästina sind nur die Juden Opfer von Gewalt? Palästinenser nicht? Wenn doch, sind sie es wohl „selber schuld“.
A propos „selber schuld“: Daß die antiamerikanische Terroristen einst, wie gesagt, von den USA selbst hochgepäppelt wurden, verleiht dieser Fragestellung eine gewisse Pikanterie.
„Ist es nicht … so, daß die Zivilisation durch Herrschaft und Ausbeutung zwar beständig Haß hervorbringt, die Leidenden aber immer noch die Entscheidung treffen müssen, ob sie diesen mit in der Tat barbarischen Ideologien wie dem klerikalfaschistischen Islamismus antisemitisch wenden oder aber emanzipatorisch gegen die Grundlage des Leidens, die Vergesellschaftung durch Kapital und Staat, richten?“
„Vergesellschaftung durch Kapital und Staat“ ist Schaumsprache, die Theorie vortäuscht. Haß macht immer blind. Wer glaubt, Haß „emanzipatorisch“ gegen die Grundlage des Leidens richten zu können, hat selber nie etwas anderes gekonnt als hassen. Nett, daß den „Leidenden“ – wenigstens scheinbar – noch eine eigene Entscheidung überlassen wird. Ihnen wäre zu raten, auf der Suche nach einer emanzipatorischen Strategie das Gefasel antideutscher Knallköppe zu ignorieren.
„Wenn das Leiden an der Zivilisation keine Rechtfertigung für antisemitische Mordtaten sein kann, weshalb wird in der Antikriegsbewegung dann fast durchgängig die ‚Politik der USA, Europa, des IWF usw.‘ als ‚Ursache‘ … für die Anschläge ausgemacht?“
Wo kein Deutsch ist, ist auch keine Logik. Wenn durch das Ignorieren von Ursachen, durch das Verschweigen imperialistischer Verbrechen, durch den Freispruch für die Politik der USA, des IWF usw. antisemitische Mordtaten verhindert werden sollen, dann gute Nacht, Charly! Als ob das Suchen nach Ursachen antisemitische Mordtaten rechtfertigen würde! An der Zivilisation leidet kein Mensch, außer ein paar deutsche Dichter, und das auch mehr „innerlich“. Jedenfalls leidet man an Aspirin weniger als an Migräne, an einem Autobus weniger als an einem Ochsenkarren, an einem Supermarkt weniger als an einem steinigen Acker, an Impfung weniger als an Kinderlähmung.
„Weshalb wird der Anschlag nicht als das denunziert, was er ist: nämlich ein faschistisches Massaker von eliminatorischen Antisemiten, welche die Juden, die USA und die westliche Zivilisation als Einheit betrachten und vernichten wollen? Würde diese Charakterisierung zum eigenen Antiamerikanismus nicht passen?“
„Antiamerikanismus“ als Vorwurf von Leuten, die sich stolz „antideutsch“ nennen, ist ein bißchen komisch.
„Wenn es stimmt, daß die barbarischen Anschläge … irgendwie im Zusammenhang mit globalen Vereledungsprozessen stehen, mithin einen ‚verzweifelten Ausdruck von Unterdrückung‘ … darstellen, heißt das dann, daß die Verelendeten und Ohnmächtigen dann automatisch zu antisemitischen Amokläufern werden müssen?“
Es heißt nicht, daß sie es „automatisch“ werden müssen, sondern daß sie es werden können. Präziser gesagt: Wo Elend herrscht, kann reaktionäre Demagogie auf fruchtbaren Boden fallen.
„Erzwingt die Tatsache, daß von islamistischer Seite nach dem gleichen Ursache-Wirkung-Schema der Anschlag vom 11.9. … rationalisiert wird, nicht notwendig den Schluß, daß Antikriegsbewegung und die expliziten Apologeten des islamistischen Terrors geistig miteinander verwandt sind?“
Ach, leckt mich doch am Arsch!
„Was spricht prinzipiell dagegen, klerikalfaschistische Terrorregime wie die Taliban zu beseitigen und damit den ihnen (noch) Unterworfenen ein erträgliches Leben zu ermöglichen und zudem die Gefährdung von Juden im Nahen Osten durch den Islamismus zu mindern? Wäre im gegenwärtigen Konflikt die Verteidigung der westlichen Zivilisation und des ihr immanenten Glücksversprechens von Emanzipation und Wohlstand nicht die Voraussetzung dafür, eben dieses in kommunistischer Absicht gegen die kapitalistischen Verhältnisse selbst zu wenden und damit auch ihre barbarische Kehrseite, den Antisemitismus jedweder Provenienz, pespektivisch durch Revolution zu beseitigen?“
Das ist eine Frage, die in ihrer Gestelztheit und Verdrehtheit immer dann Heiterkeit erzeugt, wenn man sie jemandem vorliest. Nachtigall, ick hör dir trapsen. Wie sagte Jutta Ditfurth noch? „… nutzen einige Linke die Zäsur und wechseln tränenselig auf die Regierungsseite.“ „Wortselig“ wäre wohl in diesem Falle treffender. „Perspektivisch“ ist die Proklamationsversion von „irgendwie“. Irgendwie perspektivisch. Irgendwie auf die lange Bank geschoben. (Anti-)deutsche Autonome wollen sich auch endlich mal einen Schlips umbinden. „Perspektivische Revolution“ und „kommunistische Absicht“ wird man auch nicht mehr lange in ihren Stellungnahmen lesen.
Die Zivilisation, sei sie nun westlich, östlich, nördlich oder südlich, ist in der Tat zu verteidigen, und das bringt einen in Konflikt mit denen, die sie gepachtet haben. Soviel sollte man aus dem Vietnamkrieg gelernt haben, von dem aber in letzter Zeit verdächtig wenig die Rede ist.
Nichts spricht „prinzipiell“ dagegen, den Menschen in Afghanistan ein erträgliches Leben und – mehr noch – eine Perspektive für die Zukunft zu ermöglichen, und nichts spricht dagegen, islamistische Terrorregime zu beseitigen, und nichts sprach dagegen, als die Rote Armee genau dieses versuchte, zu Zeiten, als „Russen raus aus Afghanistan“ noch die Parole in jenen Kreisen war, aus denen die „Antideutsche Gruppe Wuppertal“ hervorgegangen sein dürfte.
Eben diese „Antideutsche Gruppe Wuppertal“ hat in einer anderen wirren Stellungnahme verkündet, daß „Antiimperialismus aller politischen Lager schon immer bedeutete: Antisemitismus“. Klar doch! Lumumba, Allende, Castro, Che Guevara, Ho Tschi-minh, Sandino, Fanon, Marti, Neto, Samora Machel: alles Antisemiten, Eichmanns Brüder! Der Mord an Lumumba, die Invasion in der Schweinebucht, die Folterkeller der OAS im Algerienkrieg, der Putsch in Chile, der Mord an Allende, der Terror der Contras in Nicaragua: alles Maßnahmen zum Schutz der Juden! Pinochet als Rächer für Auschwitz! Das ist das Bild von der Welt in den Köpfen von Leuten, die in inquisitorischer Selbstgefälligkeit ein Urteil sprechen über Menschen, die – sogar in diesen Tagen – den Krieg ächten. Die Bombenteppiche auf Vietnam werden dann wieder zu dem, als was sie uns schon einmal verkauft wurden: Verteidigung der westlichen Zivilisation.
Nehme ich die Statements „antideutscher“ Sekten zu wichtig? Die Weltpolitik wird von ihnen nicht gelenkt. Aber was immer in diesem Lande in den letzten Jahrzehnten zu den weltpolitischen Themen gesagt und geschrieben wurde: im Grunde genommen ging es bei all diesen Auseinandersetzungen um die Zustände in diesem Land, in dieser Gesellschaft. Jedes Gespräch über Vietnam, Chile, Nicaragua, Kuba und Palästina war ein Gespräch über Deutschland. Ein Gespräch über Palästina ändert in Palästina wenig, aber die Frontlinien der Auseinandersetzungen in dieser Gesellschaft ändern sich dadurch umso nachhaltiger. Wenn der Pazifist als Mörder angeprangert wird, mag der Ankläger ein Irrer sein: der Widerstand gegen den Krieg wird paralysiert, der Krieg wird diskutabel, der Krieg wird zur Option, der Krieg wird verharmlost. Mit ihrer Verwirrungsstrategie tragen die „antideutschen“ Sekten ihren Teil dazu bei, dieses Land, diese Gesellschaft, dieses Volk kriegsbereit zu machen.

Queimada
Daß der Krieg der USA in Mittelasien ein Krieg der Zivilisation gegen den Terrorismus sei, ein Feldzug der Guten gegen die Bösen, ist eine wacklige Konstruktion. Dem Terror, so wird gesagt, sei mit militärischen Mitteln nicht beizukommen, dies zu versuchen sei töricht. Die Strategen, die diesen Krieg führen, sind allerdings keine Toren. Sie sind Imperialisten. Und die verstanden es stets und verstehen es auch jetzt, die Herrschaft des Imperialismus aufrechtzuerhalten. Sie führen in Afghanistan einen anderen Krieg.
Auf der Karibikinsel Queimada erhebt sich Anfang des 19. Jahrhunderts eine Unabhängigkeitsbewegung gegen die portugiesischen Kolonialherren. Der Unabhängigkeitskampf wird von britischen Geheimdienst unterstützt und zum Erfolg geführt. Queimada wird „unabhängig“, die Zuckerplantagen werden nicht mehr von Portugal, sondern von einem britischen Trust ausgebeutet. Nach wenigen Jahren bricht eine Hungerrevolte aus. Die Landarbeiter, unter der Führung der ehemaligen Unabhängigkeitsbewegung, revoltieren mit Waffen gegen die Regierung und den britischen Trust. Zur Niederschlagung der Revolte führt Großbritannien einen brutalen Krieg gegen seine früheren Verbündeten, in dessen Verlauf die Plantagen vernichtet werden. Ihr Wiederaufbau wird 15 Jahre dauern. Der General erklärt dem Trustdirektor: „Ihr Pachtvertrag läuft über 99 Jahre. Also bleiben Ihnen immer noch 84 Jahre, um die Insel auszubeuten.“
„Queimada“ ist ein Film. Eine Insel dieses Namens gibt es nicht. Die Geschichte ist erfunden. Afghanistan ist nicht Queimada. Dort ist alles anders. Nur eins ist genauso: die Strategie des Imperialismus.
Der Krieg wirft das rückständige Land in seiner Entwicklung noch weiter zurück. Der Krieg zerstört, er kann und soll nichts aufbauen. Wenn die imperialistische Großmacht gegen ein rückständiges Land Krieg führt, zerbombt sie den Markt, den sie ausbeuten will. Aber sie schafft Rückständigkeit, sie schafft Abhängigkeit. Wenn man ein Land zerstören muß, um es kontrollieren zu können, muß man es zerstören. Die Zerstörung ist der Umweg, der, vielleicht viel später, zur ungestörten Ausbeutung führt. So funktioniert Imperialismus.
Als die USA Vietnam in die Knie zwingen wollten, verkündete ein US-General: „Wir werden Vietnam in die Steinzeit zurückbombardieren.“ Dies war keine diabolische Demagogie, es war ein Konzept. Der Krieg in unserer Epoche ist ein Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung. Der „Kollateralschaden“ ist nicht seine unvermeidliche Nebenwirkung, sondern sein Zweck.

Antiimperialismus der dummen Kerls
Nun hat es also endlich mal die Richtigen getroffen? Der Tod aus der Luft ist in die USA zurückgekehrt? Die Gewalt, die von den USA ausgeht, hat nun, wie ein Bumerang, die USA selbst getroffen? Jetzt haben sie am eigenen Leibe erlebt, was sie anderen antun?
Vorsicht!
Nicht nur wer getroffen wurde, ist zu fragen, sondern auch, wer traf. Da es zweifellos die Falschen waren, die trafen, waren es auch nicht die Richtigen, die getroffen wurden.
Das World Trade Center, das manchen nachträglich als Symbol von Urbanität und sonstwas aufgeht, war auch eine Stätte, in der Entscheidungen getroffen wurden, die Hungersnöte zur Folge hatten. Aber ich halte dafür, daß kein Mensch so erbärmlich ist, daß er dafür den Tod verdient hätte. Die Unterdrückten haben das Recht, sich zu wehren, auch mit Gewalt, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Was aber am 11. September in New York geschah, war kein Akt der Notwehr, sondern Massenmord.
Dreijährige Kinder, die an diesem Tag darauf warteten, aus dem Kindergarten abgeholt zu werden, aber nie mehr werden ihre Eltern sie aus dem Kindergarten abholen. Wen ließe das unberührt? Menschen, die weinend durch die Stadt rennen, mit einem Foto in der Hand jeden ansprechen: „Hat jemand diesen Mann gesehen? Hat jemand diese Frau gesehen?“ Die Verzweiflung dieser Menschen wurde für die der Weltöffentlichkeit sichtbar. Gegen das tägliche Elend, das aus der Normalität kommt, hat sich die Weltöffentlichkeit immunisiert. Das macht das gezeigte Elend nicht weniger entsetzlich, schon gar nicht deshalb, weil es gezeigt wurde. Will man dreijährigen Kindern sagen: „Das habt ihr jetzt von eurem Vietnamkrieg“?
Hier handelten nicht die Unterdrückten, sondern Unterdrücker. Die Mörder wollten nichts Besseres als das, dem sie den Krieg erklärten.
Das Sprichwort, daß der Feind meines Feindes mein Freund ist, gilt nicht immer. In diesem Fall gilt es bestimmt nicht. In New York leben mehr Juden als in jeder Stadt außerhalb Israels. Die Attentäter wählten New York als Ziel, um mit einem Schlag Amerika und die Juden zu treffen. Der antisemitische Hintergrund des Attentats ist unübersehbar. Der Feind meines Feindes ist mein Feind, wenn er Antisemit ist.
Der Feind der Unterdrücker und Ausbeuter muß nicht ein Feind der Unterdrückung und Ausbeutung sein. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie ist so alt wie die Arbeiterbewegung. Im Kommunistischen Manifest von 1848 ist den reaktionären Gegnern des Kapitalismus ein ganzes Kapitel gewidmet.
In der Arbeiterbewegung hat es immer auch antisemitische Strömungen gegeben. Friedrich Engels hat sich dazu sehr unzweideutig geäußert. Von August Bebel stammt der Satz, der Antisemitismus (in der Arbeiterbewegung) sei der „Sozialismus der dummen Kerls“. Gemessen an den antisemitischen Verbrechen des Naziregimes klingt diese Formulierung verharmlosend – weil Dummheit noch kein Verbrechen ist und weil der Satz so verstanden werden könnte, daß durch Aufklärung und Richtigstellung der Antisemitismus aufgehoben werden könnte. Aber der Satz ist richtig, wenn man ihn so versteht, daß der Kapitalismus reaktionäre Gegner hat, und daß die reaktionären Gegner des Kapitalismus bekämpft werden müssen. Man hat sich nicht zwischen Bush und bin Laden zu entscheiden, sondern gegen beide.

Lebensglück
Die reaktionären Islamisten, die in Amerika den Teufel am Werk sehen, kämpften auch gegen die Sowjetunion. Aus ihrem Blickwinkel sind Kapitalismus und Sozialismus die zwei Seiten einer Medaille, so wie aus unserem Blickwinkel beide Phasen der Geschichte sind, denen die Überwindung des Feudalismus gemeinsam ist. Die reaktionären Islamisten sehen im Kapitalismus vor allem Modernität, Profanität und Egalität. Dagegen richtet sich ihr Hass. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ist dargelegt, daß alle Menschen gleich geboren sind und daß jeder Mensch, allein aufgrund seiner Geburt, Rechte besitzt. Eine kühne Idee! Bis dahin hatte nämlich die Vorstellung geherrscht, daß Rechte eine Gnade sind, die von der Obrigkeit huldvoll gewährt wird. Die Unabhängigkeitserklärung fordert nicht nur Gleichheit und Menschenrecht, sondern auch das Lebensglück für jeden einzelnen Menschen. Sie war bis dahin das fortschrittlichste und humanste Manifest, sie leitete hin zur Französischen Revolution. Das ihr zugrundeliegende Menschenbild ist auch das moralische Fundament des Marxismus.
Ein amerikanischer Präsident hat einmal gesagt, die Sowjetunion sei das Reich des Bösen. Falsch daran ist ja nicht, daß er die Länder verwechselte, sondern, daß er überhaupt das Reich des Bösen auf der Landkarte markieren zu können glaubte. Vielleicht wird der Fluch, den Amerika nicht nur anderen, sondern auch sich selbst auferlegt hat, eines Tages verschwinden. Vielleicht wird die Idee wiedererwachen, daß die Verhältnisse, die das Geschehen der Welt bestimmen, durchbrochen werden können. Der Sieg über den US-Imperialismus muß eine Befreiung sein auch für Amerika selbst, und der enorme kulturelle Reichtum dieses Landes könnte ein Geschenk an die Welt sein. Amerika gibt zu Hoffnung Anlaß. Es ist ein Land, das von Menschen bewohnt ist.

2 Gedanken zu „11. September: Der Terror & die Leute

  1. Die Auseinandersetzung mit diesen „Antideutschen“ war vor 20 Jahren vielleicht noch akut. Aber heute spielt diese Sekte doch wohl keine Rolle mehr.

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