„Kritik und Kriminalität“

Auszüge aus einem Text aus dem Jahre 2007 über einen Vorgang, der im Jahre 1968 ausgelöst wurde.
Hintergrund: Am 2. April 1968, heute vor 50 Jahren, brannte es in Frankfurt in zwei Kaufhäusern.

[…] Es ist oberflächlich und ungerecht, Ulrike Meinhof einzig und allein mit der RAF zu assoziieren. Sie hat eine Fülle von niedergeschriebenem Material hinterlassen, und fast alles stammt aus der Zeit bevor sie sich der Roten Armee Fraktion anschloß. Man könne von den zwei Leben der Ulrike Meinhof sprechen, oder, noch überspitzter, daß es zwei Personen namens Ulrike Meinhof gab: Die Journalistin, die für den Rundfunk arbeitete, Kolumnen in Konkret schrieb, zeitweise Chefredakteurin dieses Blattes war, deren Kommentare zu den scharfsinnigsten gehörten, die in den 60er Jahren geschrieben wurden, und die Teilnehmerin an bewaffneten Aktionen als Mitglied der RAF. Diese zweite Phase ist eine Verneinung der ersten.
[…] Indem ich Ulrike Meinhof zitiere, nehme ich für sie Partei. Ich mache sie wieder diskutabel. Ich beschütze sie – nicht vor denen, die sie kritisieren, aber vor denen, die sie verteufeln. Schließlich beschütze ich sie vor sich selbst, die eine vor der anderen, die Journalistin vor der „Terroristin“.
Die zwei Personen, als die Ulrike Meinhof uns Zeitgenossen entgegentrat, sind allerdings nicht scharf voneinander zu trennen. So sehr ihr Eintritt in die RAF überrascht haben mag, so erscheint er beim Studium ihrer Kolumnen im Nachhinein nicht ganz zufällig. Das, worin die Journalistin Vorzeichen für ihre spätere „terroristische“ Wendung erkennen ließ, hat seinerzeit nicht nur mich irritiert.
Ihren Namen las ich zum ersten Mal, als ich 16 Jahre alt war. Der Vorsprung der Autorin vor ihrem Leser war beträchtlich. Den Einfluß der meinhofschen Kommentierung auf den lernbereiten Leser überschätze ich nicht. Ich hing ihr nicht an den Lippen, ich habe ihre Texte nicht verschlungen, sondern mit Interesse gelesen. Da gab es was zu lernen über Zusammenhänge (etwa über das Verhältnis von „politisch“ und „privat“). Aber der Abstand verringerte sich kaum. Die radikale Kritikerin radikalisierte sich mit der zunehmenden Radikalisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen (die Rede ist von der Zeit zwischen 1966 und 1969). Ihre Radikalisierung verlief über Stationen, die nicht immer nachzuvollziehen waren:
Im Februar 1969 erschien in Konkret eine Kolumne, mit der sie ihre Arbeit und das Feld, auf dem sie ihre Arbeit leistete, in Frage stellte: „Kolumnismus“.
„Kolumnisten haben Entlastungsfunktionen… Seine eingezäunte Unabhängigkeit gibt der Zeitung den Geruch der Unabhängigkeit. Seine Extravaganz gibt ihr den Geruch von Extravaganz. Sein gelegentlicher Mut zu unpopulären Ansichten gibt ihr den Geruch von Mut zu unpopulären Ansichten… Davon kein Wort, daß der Kolumnist der beste Untertan des Verlegers ist, der Geld bringt, Prestige und regelmäßig so tut, als könnte man alle Themen der Welt auf immer der gleichen Länge abhandeln. Kolumnisten sind … Feigenblatt, Alibi, Ausrede… Kolumnismus ist Personalisierung. Die Linke Position z.B., erarbeitet von vielen … wird im Kolumnismus wieder zur Position Einzelner, Vereinzelter runtergespielt, auf den originellen, extravaganten, nonkonformistischen Einzelnen reduziert, der integrierbar, weil als Einzelner ganz ohnmächtig ist… Eingezäunte Spielwiesenfreiheit für den Kolumnisten … ist … marktkonformes Verhalten, … ein Leserbetrug, ein Selbstbetrug… Opportunismus ist, wenn man die Verhältnisse, die man theoretisch zu bekämpfen vorgibt, praktisch nur reproduziert… konkret ist weniger eine linke als eine opportunistische Zeitung.“
Inwieweit hier die Arbeits- und Produktionsbedingungen des von Röhl geleiteten Konkret treffend geschildert sind, ist nebensächlich. Man mußte kein Prophet sein, um in diesem Manifest den Abschiedsbrief der radikalen Kritikerin zu erkennen (wenngleich U.M. noch ein paar Monate lang für Konkret weiterschrieb). Diese rigorose Infragestellung aufklärender und politisch mobilisierender Journalistenarbeit mußte mich, der ich drei Monate zuvor mit der Herausgabe einer auf Aufklärung und politische Mobilisierung ausgerichteten Zeitschrift begonnen hatte, verwundern. Vor dem Hintergrund in Jahrzehnten gewonnener Erfahrung tritt die Unsinnigkeit ihres Abgesangs hervor.
Als Alternative deutet sie in ihrem Artikel zudem an, die Schilderung (und Analyse!) gesellschaftlicher Zustände müsse den Journalisten aus der Hand genommen und stattdessen von jenen geleistet werden, die „den Schritt von der Theorie zur Praxis“ vollzogen haben, am besten aber von denen, die durch die gesellschaftlichen Zustände unmittelbar betroffen sind. Über Fließbandarbeit könnten eigentlich nur Fließbandarbeiterinnen schreiben? Wenn man glaubt, Entfremdung dadurch aufzuheben, daß Stühle nicht mehr von Tischlern hergestellt werden, sondern von denen, die drauf sitzen, wird man mit Brennholz gut versorgt sein. Das Verhältnis von Theorie und Praxis sollte wohl anders verstanden werden als daß man zur Praxis gelangt, indem man die Theorie hinter sich läßt. Das Argumentationsmuster, daß man die Zustände, indem man sie bekämpft, im Grunde nur bestätigt, war und ist in linken Kreisen überaus populär und reduziert gesellschaftliche Analyse zur blasierten Besserwisserei. Aufklärung und Mobilisierung sind nicht deshalb vergebliche Liebesmüh, weil ihnen der Aufstand der Massen nicht unmittelbar folgt. Das Instrumentarium, das einem zur Verfügung steht, zu zerschlagen, wenn man gemerkt hat, daß es nicht der Hebel ist, mit dem man den unmittelbaren Erfolg herbeiführt, ist schlichtweg doof. Dieser „Schritt von der Theorie zur Praxis“ ist der Abstieg zur Dünnbrettbohrerei.
Gefährlich wird‘s, wenn sie auf den „Einzelnen“ zu sprechen kommt, der als „Vereinzelter“ „ganz ohnmächtig“ ist und „integrierbar“. Originalität, Extravaganz, Nonkonformismus beschreibt sie als Abstieg – damit sei der Weg in die Integrierbarkeit gepflastert. Das Dasein als unoriginelles, unextravagantes, konformistisches, ins Kollektiv integriertes enteinzeltes Individuum möchte man sich nicht vorstellen, geschweige denn erleben. Erlebt aber hat mancher in den 70er Jahren, daß er ins Kollektiv integriert sich „ganz ohnmächtig“ fühlte…
Eine zweite Kolumne, in der man den weiteren Weg vorgezeichnet findet, erschien in Konkret im November 1968 unter der Überschrift „Warenhausbandstiftung“.
Man muß etwas weiter ausholen. 1967 waren beim Brand eines Kaufhauses in Brüssel viele Menschen ums Leben gekommen. Die Kommune I verteilte in Berlin ein Flugblatt, in dem gefragt wurde: „Wann brennen in Berlin Kaufhäuser“. Berliner Staatsanwälte sahen darin die Aufforderung zu menschengefährdender Brandstiftung. Dieser Vorwurf war absurd, denn es war nicht ernsthaft zur Brandstiftung aufgefordert worden. In Wirklichkeit wurde in sarkastischer Weise darauf hingewiesen, daß das Verbrennen von Menschen täglich stattfand, nämlich in Vietnam. Dort geschah dies zudem mutwillig. Tatsächlich wurden die angeklagten Mitglieder der Kommune I freigesprochen.
Ein Jahr später wurden in Frankfurt in zwei Kaufhäusern Brände gelegt. Der Sachschaden war gering. Menschen wurden nicht gefährdet. Die Täter wurden schnell ermittelt. Unter ihnen waren Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Von ihnen waren Stellungnahmen zu hören, denen entnommen werden konnte, das Feuer in den Kaufhäusern sollte als symbolische Aktionen gegen das kapitalistische System verstanden werden.
Bei der Außerparlamentarischen Opposition, die zu jenem Zeitpunkt mehr Resonanz hatte als je zuvor, kam die Frankfurter Kaufhausbrandstiftung nicht gut an. Man reagierte verärgert und verständnislos. Die Aktion sei schädlich und dabei auch nicht gerade originell. Die Aktion sei – so wurde gesagt – „nicht vermittelbar“. Man hätte es auch einfacher sagen können: Die Aktion war dämlich. Die Auffassungen von Kaufhausbrandstiftung der Berliner Staatsanwälte und der Frankfurter Brandstifter unterschieden sich nur dadurch, daß die einen es schlecht, die anderen gut fanden.
Gewiß wird diese – sagen wir mal: fragwürdige Aktion da und dort Sympathie gefunden haben. Artikuliert wurde sie aber nur von Ulrike Meinhof: „Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt … in der Kriminalität der Tat.“ Da steht nicht „Regelverletzung“, nicht „Illegalität“. Da steht „Kriminalität“. Man darf unterstellen, daß Ulrike Meinhof genau überlegt hat, was sie da hinschrieb.
Ulrike Meinhof hat bei Konkret nicht einfach bloß aufgehört und sich auch nicht auf ein Statement beschränkt, in dem sie – ohne einen Hauch von Differenzierung – das Blatt als konterrevolutionär geißelte. Sie trommelte Leute zusammen, Politdesparados muß man sie nennen, die im Mai 1969 die Redaktion stürmen wollten und die Privatwohnung des Konkret-Chefs und Meinhofs Ex-Gatten Röhl verwüsteten.
[…] Der in Berlin einsitzende Kaufhausbrandstifter Andreas Baader durfte begleitet von zwei Justizbeamten im Mai 1970 das Berliner Zentralinstitut für Soziale Fragen aufsuchen, um dort mit Ulrike Meinhof für eine gemeinsame Publikation Archivalien einzusehen. Eine bewaffnete Gruppe stürmte das Institut, um Baader zu befreien. Mit ihm und den Befreiern sprang auch Ulrike Meinhof aus dem Fenster und entschwand. […] Möglich ist […], daß sie – spontan, also ohne Überlegung – sich erst in diesem Moment der Gruppe anschloß, deren Aktion der Beginn der Roten Armee Fraktion war, die mal als „Baader-Meinhof-Gruppe“, mal als „Baader-Meinhof-Bande“ tituliert wurde. Diese Namensgebungen sind unzutreffend, denn Ulrike Meinhof kann kaum als Anführerin dieser Organisation gelten. Sicher ist nur, daß durch diese Aktion – ob geplant oder nicht – Ulrike Meinhof von einem auf den anderen Moment ihre Existenz vernichtete.
Aber: für was? Was war so wichtig, so wertvoll, so vorrangig, daß dafür aller Verlust gerechtfertigt gewesen wäre? Andreas Baader wäre […] vorzeitig aus der Haft entlassen worden. […] Er hätte nach ein paar Wochen als freier Mann aus dem Gefängnis spazieren können. Und er hätte, wenn er partout vorgehabt hätte, aus dem Untergrund gewaltsame Aktionen gegen den Staat zu unternehmen, nach einer regulären Entlassung dafür bessere Bedingungen gehabt. Aber nein! Eine Heldentat mußte getan werden! Ein Fanal! Mit Tusch! Ein paar Wochen vor der Entlassung ausbrechen – das ist so, als würde man mit einem Schießeisen in der Hand in der Bank Geld von seinem Sparbuch abheben. Sowas gibt es sonst nur in italienischen Filmkomödien. Bloß daß italienische Filmkomödien sich auf die Komik des Erstaunlichen beschränken und keiner zu Schaden kommt. Bei der kuriosen „Befreiung“ erlitten ein Archivmitarbeiter und zwei Justizbeamte Schußverletzungen.
Erstaunlich, aber nicht komisch war die Verlautbarung, die der Baader-Befreiung folgte. „Daß die Befreiung Baaders nur ein Anfang ist! Daß ein Ende der Bullenherrschaft abzusehen ist! … Was heißt: Die Konflikte auf die Spitze treiben? Das heißt: Sich nicht abschlachten lassen. Deshalb bauen wir die Rote Armee auf.“
Gewiß, das Leben im Konflikt mit der gesellschaftlichen Herrschaft ist nicht ungefährlich. Aber in der Bundesrepublik war die Gefahr, abgeschlachtet zu werden, nie so groß, daß man sie nur noch mit dem Aufbau der Roten Armee hätte abwenden können. Den Namen der Roten Armee, die Hitlers Wehrmacht zerschlagen hatte, für sich zu beanspruchen, war anmaßend; sich zudem „RAF“ zu nennen, war kurios. Bis dahin war das die Abkürzung der britischen Royal Air Force gewesen. Ein Glück, daß sie sich keinen Namen gaben, der mit „AOK“ oder „JWD“ abgekürzt worden wäre!
Ulrike Meinhof und die führenden RAF-Leute Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Holger Meins wurden 1972 binnen weniger Wochen verhaftet (sie alle starben im Gefängnis eines unnatürlichen Todes). Die RAF aber überstand in der Illegalität – das Wort von der „Zweiten Generation“ wurde geprägt. Nicht die erste, sondern die „Zweite Generation“ war es, die die schwersten, blutigsten, am meisten gewaltsamen Aktionen durchführte. Inwieweit diese „Generationen“ der RAF miteinander konform oder voneinander unterschieden waren, ist ungeklärt. Daß die Inhaftierten aus ihren Zellen mittels eines Kommunikationsnetzes durch ihre Anwälte die Aktionen lenkten, wurde propagandistisch herumposaunt, aber nie bewiesen – trotz illegaler Verteidigerüberwachung. Für die Attentate von 1977 sind die in Stammheim angeklagten RAF-Gründer nicht verantwortlich zu machen.
„Die nachfolgenden ‚RAF-Generationen‘ entfernten sich … immer weiter von jeglichen kritischen Reflexionen und nahmen vor allem seit Mitte der 70er Jahre einzelne Führungspersonen des herrschenden Systems für das Ganze… Dabei wurde … nicht bedacht, daß Vorgehensweisen, die das Töten des ‚Klassengegners‘ mit einbeziehen, den Entwurf und die Hinwendung zu einer menschenfreundlichen, humanen Gesellschaft zwangsläufig zur blutigen Persiflage werden lassen“, schrieb Heiner Halberstadt […] in der Frankfurter Rundschau. Die RAF entführte 1977 den BDA-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer, hielt ihn wochenlang gefangen und tötete ihn.
Ich erinnere mich an das Foto, das Schleyer vor einem Plakat der RAF als Gefangenen abbildete, an die Videoaufnahme im Fernsehen, in der ihm die Gelegenheit gegeben war, an die Bundesregierung zu appellieren. Der da sprach, war als Arbeitgeberfunktionär, als besonders scharfer Vertreter der Kapitalinteressen nicht mehr wiederzuerkennen. Da sprach ein alter Mann, vor dem sich keiner mehr fürchten konnte, der der Gnade und Ungnade seiner Entführer ausgeliefert war, kein Gefährlicher, sondern ein Wehrloser, der Angst um sein Leben hatte.
Mit dieser Entführung sollte die Freilassung und Ausreise der noch lebenden, in Stammheim bereits verurteilten RAF-Mitglieder erreicht werden. Würde diese Forderung nicht erfüllt, würde Schleyer „hingerichtet“.
Schleyer war von der RAF (genauer gesagt: von dem Kommando, das ihn entführt hatte und gefangen hielt) zum Tode verurteilt worden. Würden die Gefangenen, wie gefordert, freigelassen, würde auf die „Hinrichtung“ verzichtet.
Wurde ihm der Prozeß gemacht? War es ein fairer Prozeß? Oder stand das „Urteil“ schon vorher fest? Hatte er einen Verteidiger?
War für uns, die wir uns zum Widerspruch gegen die kapitalistische Herrschaft entschlossen hatten, aus Überzeugung, daß der Schritt zu mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit möglich ist, die Todesstrafe nicht der krasseste Ausdruck jener Unmenschlichkeit, die wir überwinden wollten?
Die Schleyer-Entführung war akribisch vorbereitet worden, und alles lief ab wie geplant, aber sie verfehlte ihr Ziel. Als sich Schleyer noch in der Gewalt seiner Entführer befand, waren die, die befreit werden sollten, im Stammheimer Hochsicherheitstrakt auf ungeklärte Weise ums Leben gekommen. Die Tötung der in Stammheim einsitzenden RAF-Mitglieder war im sogenannten Krisenstab erörtert worden, und am 18. Oktober 1977 starben sie. Einen Tag später wurde Schleyer erschossen. Hatten seine Entführer überhaupt in Betracht gezogen, ihren Gefangenen, der nun als Geisel zur Freipressung ihrer Leute nicht mehr taugte, einfach laufen zu lassen? Was wurde dadurch erreicht, was wurde dadurch verhindert, wer wurde dadurch gerettet, daß man ihn tötete? Daß mit einer akribisch vorbereiteten, nach Plan abgelaufenen Aktion nichts erreicht worden war, hätte zum Innehalten veranlassen müssen, zum Überdenken einer ganzen Strategie, die zu einer Falle geworden war, die man sich selbst gestellt hatte. Wer sich berufen glaubt, zu urteilen und zu richten, dem sollte auch die Gnade nicht fremd sein. Wer Worte wie „Todesurteil“ und „Hinrichtung“ benutzt, sollte auch das Wort „Begnadigung“ kennen. Nehmen wir die Zweite Generation der RAF beim Wort, lassen wir es für einen Moment gelten, daß sie einen revolutionären Kampf führte, dann sehen wir vor uns eine Revolution, die keine Gnade kennt: ein Entsetzen für den, der mit der Revolution die Hoffnung verbindet, daß sie den Weg zu Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit öffnet.
Das Entsetzen wurde nicht von allen geteilt. Hier und da bildeten sich Gruppen und Grüppchen, die sich mit der RAF im Deutschen Herbst 1977 identifizierten. Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin ihnen begegnet: Es waren Leute, für die die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Ordnung nur ein Phrasengebäude war. Durch diese RAF repräsentiert sahen sie ihren Frust und ihren Haß.
Die RAF hat behauptet, eine kriegführende Armee zu sein. Darauf begründete sie ihre Forderung, Gefangene aus der RAF seien als Kriegsgefangene nach internationalem Recht zu behandeln. Nun gut, nehmen wir auch dies beim Wort und messen wir sie an diesem Maßstab. Dann wäre also auch Schleyer ein Kriegsgefangener zu betrachten. Er war in der Kriegsgefangenschaft wehrlos und ungefährlich, und er wurde getötet, ohne daß eine Notwehrsituation vorlag. Der in Frankfurt stationierter Soldat der US-Armee Edward Pimental wurde am 8. August 1985 gefangen und getötet, um seines Passierscheins für die Rhein-Main-Airbase habhaft zu werden. Ob Armee oder nicht Armee: Was sind das für Leute, die ein Menschenleben auslöschen, um durch eine Tür gehen zu können? Wer sich als kriegführende Armee ausgibt, muß sich vorhalten lassen: Gefangene sind human und fürsorglich zu behandeln. Das Töten von Gefangenen ist ein Kriegsverbrechen.
Auch auf Lenin hat sich die RAF berufen. Lenin aber sagte: Der erste Schuß wird abgegeben, wenn die Revolution beginnt. Das ist weniger als eine Lizenz zur Gewalt zu verstehen, sondern als ein Gebot zur Gewaltlosigkeit. Außer in Notwehr- und Nothilfesituationen gilt die Gewaltlosigkeit als Richtschnur für den Revolutionär in einer nichtrevolutionären Situation, also fast immer. Das beruhigt mich sehr.
Eins aber will ich der RAF zugute halten, und zwar ihrer „Ersten Generation“, der Original-RAF gewissermaßen. Als sie ihren bewaffneten Kampf begann, führten die USA den Krieg gegen Vietnam. Die in Deutschland stationierten US-Truppen waren in den Vietnam-Krieg involviert. Die RAF befand, daß Deutschland kein sicheres Hinterland im Vietnam-Krieg sein dürfe. Dagegen, daß die RAF Sprengstoffanschläge auf Einrichtungen der US-Army verübte, ist nichts einzuwenden.
1973 gründete ich mit ein paar Freunden in Duisburg eine Organisation mit dem Namen Rote Hilfe. Zweck dieser Organisation war, materielle Solidarität zu leisten für Personen und Gruppen, die wegen ihres Eintretens für fortschrittliche Ziele Repressionen ausgesetzt waren, insbesondere von der Justiz verfolgt wurden. Ein weiterer Gedanke spielte dabei eine Rolle: Die Rote Hilfe sah sich als interfraktionelle Organisation. Sie trat dem in der Linken der 70er Jahre grassierenden Fraktionismus entgegen. Rote-Hilfe-Gruppen gab es in vielen Städten. Manche nannten sich „Schwarze Hilfe“, weil ihnen rot nicht schwarz genug war. Manche nannten sich schwarzrot, weil sie sich nicht entscheiden konnten, ob schwarz oder rot. Die Gruppen waren unabhängig und miteinander vernetzt. Ab und zu fanden auf Landes- oder Bundesebene Treffen statt. Es dauerte nicht lange, da war die Rote Hilfe Duisburg bei den anderen Rote-Hilfe-Gruppen verschrien, denn sie galt als hedonistisch und ständig bekifft. Aber das ist eine andere Geschichte.
Jede linke Organisation war von der RAF betroffen, befand sich im Spannungsfeld zwischen RAF und Staatsschutz. Für die Rote Hilfe galt dies besonders, denn ihre Arbeit war Gefangenenbetreuung und Auseinandersetzung mit den Repressionsapparaten. Durch Korrespondenz mit JVA-Insassen war es unvermeidlich, daß die Sicherheitsorgane Einblick gewannen, Namen und Adressen sammelten. Manche Schwarze-Hilfe-Gruppen führten sich auf wie der legale Arm der RAF. In den bürgerlichen Medien wurde lanciert, durch die Rote-Hilfe-Gruppen rekrutierte die RAF neue Mitglieder. Mir sind keine Belege dafür bekannt. Wüßte ich etwas darüber, würde ich auch heute nichts dazu sagen. Wohl aber fand in der radikalen Linken ein Wettbewerb um die „radikalste“ Rhetorik statt.
In der Radiosendung „Echo des Tages“ hörte ich eines Abends, die Rote-Hilfe-Gruppen würden Mitglieder für die RAF werben, und eine solche Gruppe gäbe es in – Duisburg. Da hatte sich die hiesige Rote Hilfe aber schon aufgelöst, da ihre Mitglieder, bis auf mich, in andere Städte umgezogen waren. Ich wurde vom Bundeskriminalamt beobachtet. Die Herren des Morgengrauens gaben sich gar keine Mühe, dies zu verbergen. Sie wollten, daß ich wußte, daß sie mich beobachten – eine Methode, um Leute dazu zu provozieren, in die Illegalität zu gehen. In der Nacht nach der Schleyer-Entführung kam die Polizei mit Maschinenpistole in meine Wohnung. Ich hatte das befürchtet und verfängliches Material ausgelagert. Aber die wollten nichts durchsuchen, sondern nur wissen, ob ich ein Alibi habe. Das Alibi haben sie dann sorgfältig überprüft. Es ist durchaus möglich, daß das BKA ernsthaft vermutete, ich könnte an der Schleyer-Entführung als Mittäter beteiligt gewesen sein. Sie haben aber nicht im Kleiderschrank nachgeguckt, ob der Schleyer da drin ist.
Im Deutschen Herbst konnte man sich nicht darauf verlassen, daß die Sympathisantenverhetzung auf die Ebene der Propaganda beschränkt und für den, der kein unmittelbarer Mittäter war, ohne justitielle Folgen blieb. Es ging weder den bürgerlichen Medien, noch dem Bundeskriminalamt, noch der Justiz darum, die Mitglieder und Unterstützer der RAF einzukreisen. Das Projekt hieß: Kriminalisierung der Linken. Da war man per se verdächtig. Der Verdacht mag sich dadurch erhärtet haben, daß ich mich stets weigerte, mich zu „distanzieren“.
Ich habe mich noch nie von irgendetwas oder irgendwem „distanziert“, noch nicht einmal von meinen Irrtümern. Irrtümer kann man erkennen und sollte man korrigieren. Distanz zu anderen ergibt sich. Es ist nicht nötig, sie zu zelebrieren. Auf die Frage „Distanzieren Sie sich?“ reagiere ich wie auf alle Suggestivfragen: trotzig. Distanzierung ist etwas anderes als Kritik. Geht es darum, die RAF zu kritisieren, bin ich ihr schärfster Kritiker. Aber ich distanziere mich um keinen Millimeter. Die Distanzierung soll die Kritik ersetzen. Nichts war dem Staat und seinen Bütteln unwillkommener als Kritik an der RAF. Denn der Kritiker ist souverän. Distanzierung ist ein Ritual, bei der man von seiner Souveränität abschwört. Verlangt wurde, daß man sich von sich selbst distanziert (und man kriegt dafür noch nicht mal einen Teller Linsensuppe). Das Ritual der Distanzierung ist ein Zu-Kreuze-Kriechen, mit dem man sich dann ja doch nicht vom Verdacht reinwäscht. Es ist ein abgezwungenes Treuegelöbnis für „unsere“ freiheitliche Grundordnung, zu dem ich keinen Anlaß sehe. Wieso sollte meine Kritik an der RAF der anderen Seite recht geben?
Was der Staat von mir verlangen kann: daß ich Briefe ausreichend frankiere, bei Rot stehen bleibe und auf Grün warte, Waldfrevel und Steuerhinterziehung unterlasse und den Gerichtsvollzieher nicht beleidige. Was der Staat nicht von mir verlangen kann: Liebe, Treue, Ergebenheit, Unterwürfigkeit und Selbstverleugnung.
Ich leugne es nicht: Zwischen mir und denen, die den falschen Weg in den Terrorismus gegangen sind, gibt es Gemeinsamkeiten. Mag die Distanz noch so groß geworden sein: bevor wir uns trennten, gingen wir ein Stück gemeinsam. Es gibt einen Bereich, auf dem ich mich mit denen von der RAF besser verstehe als ich mich je mit den Apologeten dieser gesellschaftlichen Konventionen verstehen könnte. Wir werden von denselben gehaßt. Wir, die wir auf die genetische Verwandtschaft nicht viel geben und sie durch die Geistesverwandtschaft ersetzt haben, sind mit der RAF verwandt, ob wir wollen oder nicht. Irgendwann haben sie sich über dasselbe empört über das wir uns empören. Das ist der Grund, weshalb sie verfolgt wurden, und nicht, weil sie zur Waffe gegriffen haben (das war nur der selbst gelieferte Vorwand). Ihnen wird der Garaus gemacht, den man uns machen will. Wir, die wir mehr auf Komik, List, Zersetzung und Beharrlichkeit vertrauten als auf die Knarre, waren nur geschickter und hatten mehr Glück. Auch Wahlverwandtschaften sind unauflöslich. Die Verwandten wird man nicht los, auch wenn man sie am liebsten auf den Mond schießen möchte. Aber diese Art von Verwandtschaft verpflichtet zur Fürsorge. Mag sein, daß die RAF unsere Arbeit am Projekt einer menschlichen Gesellschaft erschwert hat. Aber diesem Staat, dieser Justiz, dieser Propaganda durften wir sie nicht schutzlos überlassen.
Denn es ist ja eine Legende, daß ein freiheitlicher, demokratischer Rechtsstaat, der seine Hände in Unschuld wusch, sich gegen die terroristische Herausforderung zur Wehr setzte und Sicherheit und Recht verteidigte. Im Krieg zwischen der RAF und dem zum Bürgerkrieg aufgerüsteten Staat gab es Tote auf beiden Seiten. Das Recht wurde suspendiert und durch „übergesetzlichen Notstand“ ersetzt, was ein anderes Wort für Willkür ist. Das geschah nicht aus Versehen, sondern wohlkalkuliert. Der Staat hat nicht politisch motivierten Straftätern den Krieg erklärt, sondern Andersdenkenden. Zu diesem Zweck schürte er, assistiert durch Medien, das Gesunde Volksempfinden. Er appellierte an die niedersten Instinkte, an den Mob. Schon vergessen?
Wer sich berufen fühlt, Schuld zu verteilen, wird der RAF nicht den größten Anteil zuschieben. Sie hat sich von den Idealen, die für sie wohl mal eine Rolle gespielt haben und irgendwann nicht mehr wiederzuerkennen waren, entfernt. Aber das haben andere auch. Die Grünen etwa, diese Virtuosen in der Kunst der Distanzierung. Der Jugoslawienkrieg der Grünen hat eine noch viel schrecklichere Blutspur hinterlassen als alle Attentate der RAF.
[…]

Auszüge aus „Kritik und Kriminalität“ in DER METZGER 79, April 2007

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