Abitur bestanden!



Hier handelt es sich um zwei Bilder, die ich 1969 gemalt habe. (Genauer gesagt: um Abbildungen/Reproduktionen dieser Bilder).
Im Jahre 1969 fand(en) meine Abiturprüfung(en) statt. Die beiden Bilder gehörten zu denen, die ich im Kunstunterricht eingereicht habe.
Das obere Bild hat die Bezeichnung „Kantpark“. Und da ist es auch entstanden. Die ganze Klasse verließ das Schulgelände und begab sich in den benachbarten Kantpark (und somit in die Nähe des ehrfurchteinflößenden Lehmbruck-Museums) und verwandelte sich in ein Team von Landschaftsmalern.
Ein älteres Ehepaar, offenbar kunstsinnig, betrachtete amüsiert die entstehenden Bilder. Bei mir angelangt sagte der Mann: „Aha! Ein Expressionist!“
Kunst verhilft zur Selbsterkenntnis. Ich wurde zu der Erkenntnis geführt, daß ich Expressionist bin.
Beachten Sie die Farbvarianten von Grün, kontrastierend mit der Komplementärfarbe Rot (nicht gediegen, sondern als Komponente von Violett und Orange enthalten). Ist doch nicht schlecht, oder?
Das untere Bild hat schlicht den Titel „Le Feu“ (das Feuer – und so sieht es auch aus).

Die beiden Bilder entstanden auf Din-A-2-Bögen, riesengroß! Richtige Arbeit!

Sie werden jetzt vielleicht voller Begeisterung ausrufen: „Sehr schön! Seeehr schön! Das müßte es als Kunstpostkarten geben!“

Gibt es!
Es handelt sich um zwei Motive der in diesen Wochen erweiterten Serie der Situationspostkarten, nämlich Nr. 177 (Kantpark) und 178 (Le Feu). Diese und all die anderen Postkarten werden am Sonntag (18. August, 11 bis 18 Uhr) auf unserem Stand auf dem Ruhrorter Kunstmarkt auf dem Neumarkt angeboten. Kommt dahin und freut euch, uns zu sehen.

Die Malerei habe ich, trotz des offensichtlichen Talents, nicht mehr weiter betrieben, weil ich nicht Unikate herstellen wollte, und mich einfacher reproduzierbarer Bildformen bedient. Ich ahnte ja noch nicht, daß es infolge technischen Fortschritts möglich werden würde, Farb-Werke in Serie zu reproduzieren. So wird also nach genau 50 Jahren die Vielfarbigkeit meines Schaffens sichtbar. Folglich haben beide Bilder den Untertitel „Für etwas muß es gut sein“.

Eigentlich könnte ich mich ja frohen Mutes der Malerei wieder zuwenden. Aber ob die Feuerkraft des Kantparks beziehungsweise die Kantparkkraft des Feuers noch in mir steckt, muß ich noch entdecken.

100 Jahre Woodstock (2)

Es mag auch zu den unvorhergesehenen Spätfolgen von Woodstock gehören, daß man in der bürgerlichen Presse heute zuweilen Vernünftigeres liest als in der linken Schrott-Presse.
Christopher Onkenbach schrieb in der WAZ (8.8.2009): „Allmählich, doch unwiderstehlich entstand vor 40 Jahren ein beinahe weltumspannendes Wir-Gefühl der Jugend, das es so später nie wieder gab. ‚Woodstock Nation‘ nannte sich die Generation, die nicht nur jene umfaßte, die dabei gewesen waren, sondern alle, die sich zugehörig fühlten. Woodstock war etwas anderes als die 68er-Bewegung, die vor allem in Deutschland und Frankreich dogmatische Züge annahm. Woodstock war romantisch, naiv und unpolitisch in dem Sinne, als diese Friedfertigkeit wiederum politisch war in Zeiten von Rassenunruhen, Vietnamkrieg und den Morden an Martin Luther King und Kennedy. Wie radikal dieser Gegenentwurf war, läßt sich daran ermessen, was diese Blumenkinder alles nicht sein wollten: stark, erfolgreich, hierarchisch, konform, uniformiert, kriegerisch. Der Fantasie sollte die Macht gehören. Indem sie auf Distanz gingen zu den Autoritäten, bewirkten sie am Ende doch die sanfte Erneuerung und Veränderung der Gesellschaft.“
Manches ist unpräzise an diesem Kommentar, z.B. die Gleichsetzung der „Woodstock Nation“ mit einer ganzen Generation. Ob die Woodstock Nation und die „68er“ (besser sollte man sagen „Neue Linke“) zwei Dinge waren oder zwei Seiten einer Sache, läßt sich nicht sagen, weil beides undefinierbar ist. Beides ist wohl zusammengeflossen wie Farben auf einem Aquarell.
Das ist sicher: Hätte die Neue Linke nicht den Törn mitgekriegt, wäre sie dogmatisch labernd in den Orkus marschiert.

aus DER METZGER Nr. 86, August 2009
Hier wird ab Nr. 2 gezählt?
Im Jahre 2009, als vielfach an den 40. Jahrestag des Woodstock-Festivals erinnert wurde (großzügig auf 100 aufgerundet), erschien in den METZGER-Ausgaben Nr. 86 und 87 der fünfteilige Zyklus „100 Jahre Woodstock“.
Nr. 1 war die Replik auf einen gar zu sehr danebengeratenen, gar zu inkompetenten Artikel in Konkret.
Nr. 2 siehe oben.
Nr. 3: Summer of (G)Love. Der WDR-Lokalzeit-Bericht über die Botschafter der Woodstock-Nation und Ur-Kommunarden Helmut Loeven, Peter und Marita Bursch – jedes Wort, jedes Bild.
Nr. 4: „Sin or Salvation“. Historischer Comic-Strip aus „Young Lust“ (1970) über die Hindernisse auf der Suche nach Abwegen.
Nr. 5: Chicago. Der „Summer of Love“ war auch ein Summer of Hate. Das Establishment schlug zurück. Dokumente und Informationen über einen Prozeß von 1969.

Die beiden METZGER-Ausgaben sind weiterhin erhältlich.

Sie können auf den Mond fliegen

In Erinnerung an den Menschheitspionier Neill Armstrong, der dieses Jahr hundert Jahre alt geworden wäre, wenn er 1919 geboren worden wäre.

Bekanntlich hat „der Mensch“ im Jahre 1969 den Mond betreten. Eigentlich waren es ja nur wenige Leute, die auf dem Mond beschwerlich herumgetappst sind, aber der erste von ihnen betrat den Mond mit einer in poetischen Worten formulierten Beteuerung, es stellvertretend für die ganze Menschheit zu tun. Kann es vielleicht sein, daß diese in poetischen Worten formulierte Beteuerung auch dazu diente, die Frage nach dem wissenschaftlichen Nutzen des Apollo-Programms gar nicht erst aufkommen zu lassen? Wenn Sie es wissen, brauchen Sie es mir nicht zu sagen. Ein Jahr vor der Mondlandung war der Film „2001 Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick in die Kinos gekommen. Das Jahr 2001 ist inzwischen vorbei, und wir haben wahrnehmen können: die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. 2001 wäre niemand auf die Idee gekommen, zu sagen: „Wir empfangen rätselhafte Signale vom Jupiter, da fahren wir mal hin und gucken uns das mal an.“ Denn im wirklichen Jahr 2001 waren die Reisekostenetats schon arg zusammengestrichen. So wissen wir also, was die Abkürzung NASA bedeutet: Nothing achieved since Apollo.
In Nordkorea, so höre ich, haben die Leute bis heute nicht erfahren, daß „der Mensch“ den Mond betreten hat. Anderswo hat man es fast schon vergessen. Aber in den Jahren nach 1969 war der moderne Mensch in erstaunlicher Weise fähig, die Mondlandung auf das eigene Leben zu beziehen. Sie diente ihm keineswegs als Symbol für den Fortschritt, sondern als Symbol für die Unvollkommenheiten des Daseins. „Auf den Mond können sie fliegen, aber…“ war eine gebräuchliche Redewendung. Wenn irgendwo ein Loch im Asphalt war, das nach anderthalb Jahren immer noch nicht ausgebessert war, wurde gesagt: „Auf den Mond können sie fliegen, aber die Straße ausbessern können sie nicht!“ Oder man hörte: „Auf den Mond können sie fliegen, aber mal dafür sorgen, daß die Papierkörbe im Stadtpark geleert werden, das können sie nicht!“ Dabei blieb unberücksichtigt, daß Weiterlesen

Dieter Kunzelmann lebte 20 Jahre länger

Mißratene Gaudi oder Der Sündenfall.
„Palestina [sic] ist für die BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknax. […] Wenn wir endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie ‚Zionismus‘ zu begreifen, werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit AL FATAH, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von Gestern und Heute und seine Folgen aufgenommen hat.“ Dieter Kunzelmann

„Kritik und Kriminalität“

Auszüge aus einem Text aus dem Jahre 2007 über einen Vorgang, der im Jahre 1968 ausgelöst wurde.
Hintergrund: Am 2. April 1968, heute vor 50 Jahren, brannte es in Frankfurt in zwei Kaufhäusern.

[…] Es ist oberflächlich und ungerecht, Ulrike Meinhof einzig und allein mit der RAF zu assoziieren. Sie hat eine Fülle von niedergeschriebenem Material hinterlassen, und fast alles stammt aus der Zeit bevor sie sich der Roten Armee Fraktion anschloß. Man könne von den zwei Leben der Ulrike Meinhof sprechen, oder, noch überspitzter, daß es zwei Personen namens Ulrike Meinhof gab: Die Journalistin, die für den Rundfunk arbeitete, Kolumnen in Konkret schrieb, zeitweise Chefredakteurin dieses Blattes war, deren Kommentare zu den scharfsinnigsten gehörten, die in den 60er Jahren geschrieben wurden, und die Teilnehmerin an bewaffneten Aktionen als Mitglied der RAF. Diese zweite Phase ist eine Verneinung der ersten.
[…] Indem ich Ulrike Meinhof zitiere, nehme ich für sie Partei. Ich mache sie wieder diskutabel. Ich beschütze sie – nicht vor denen, die sie kritisieren, aber vor denen, die sie verteufeln. Schließlich beschütze ich sie vor sich selbst, die eine vor der anderen, die Journalistin vor der „Terroristin“.
Die zwei Personen, als die Ulrike Meinhof uns Zeitgenossen entgegentrat, sind allerdings nicht scharf voneinander zu trennen. So sehr ihr Eintritt in die RAF überrascht haben mag, so erscheint er beim Studium ihrer Kolumnen im Nachhinein nicht ganz zufällig. Das, worin die Journalistin Vorzeichen für ihre spätere „terroristische“ Wendung erkennen ließ, hat seinerzeit nicht nur mich irritiert.
Ihren Namen las ich zum ersten Mal, als ich 16 Jahre alt war. Der Vorsprung der Autorin vor ihrem Leser war beträchtlich. Den Einfluß der meinhofschen Kommentierung auf den lernbereiten Leser überschätze ich nicht. Ich hing ihr nicht an den Lippen, ich habe ihre Texte nicht verschlungen, sondern mit Interesse gelesen. Da gab es was zu lernen über Zusammenhänge (etwa über das Verhältnis von „politisch“ und „privat“). Aber der Abstand verringerte sich kaum. Die radikale Kritikerin radikalisierte sich mit der zunehmenden Radikalisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen (die Rede ist von der Zeit zwischen 1966 und 1969). Ihre Radikalisierung verlief über Stationen, die nicht immer nachzuvollziehen waren:
Im Februar 1969 erschien in Konkret eine Kolumne, mit der sie ihre Arbeit und das Feld, auf dem sie ihre Arbeit leistete, in Frage stellte: „Kolumnismus“.
„Kolumnisten haben Entlastungsfunktionen… Seine eingezäunte Unabhängigkeit gibt der Zeitung den Geruch der Unabhängigkeit. Seine Extravaganz gibt ihr den Geruch von Extravaganz. Sein gelegentlicher Mut zu unpopulären Ansichten gibt ihr den Geruch von Mut zu unpopulären Ansichten… Davon kein Wort, daß der Kolumnist der beste Untertan des Verlegers ist, der Geld bringt, Prestige und regelmäßig so tut, als könnte man alle Themen der Welt auf immer der gleichen Länge abhandeln. Kolumnisten sind … Feigenblatt, Alibi, Ausrede… Kolumnismus ist Personalisierung. Die Linke Position z.B., erarbeitet von vielen … wird im Kolumnismus wieder zur Position Einzelner, Vereinzelter runtergespielt, auf den originellen, extravaganten, nonkonformistischen Einzelnen reduziert, der integrierbar, weil als Einzelner ganz ohnmächtig ist… Eingezäunte Spielwiesenfreiheit für den Kolumnisten … ist … marktkonformes Verhalten, … ein Leserbetrug, ein Selbstbetrug… Opportunismus ist, wenn man die Verhältnisse, die man theoretisch zu bekämpfen vorgibt, praktisch nur reproduziert… konkret ist weniger eine linke als eine opportunistische Zeitung.“
Inwieweit hier die Arbeits- und Produktionsbedingungen des von Röhl geleiteten Konkret treffend geschildert sind, ist nebensächlich. Man mußte kein Prophet sein, Weiterlesen

Jimi Hendrix


Das ist die Fender Stratocaster („The Queen of the Electric Guitars“, sagen manche), auf der Jimi Hendrix, geboren heute vor 75 Jahren, beim Woodstock-Festival (1969) The Star-Spangled Banner in ein Star-Strangled Banner verwandelte.
In welchem Museum die Gitarre ausgestellt wird, stand nicht dabei.

Foto: Wikimedia Commons

Bilder einer Vergewisserung (16-24)

pf2015-16Nachdem man die Häuser in Vordergrund passiert hat, dort hinter den sieben Platanen (oder acht. Oder neun):
Stand einst die Mülheimer Villa.
In DER METZGER Nr. 24 (Februar 1975) schrieb Rolf Menrath über das „selbstverwaltete Wohnprojekt“.
Da wohnten sie alle. Ich wohnte nicht da, war aber oft zu Besuch. (Was Kommune betrifft: Der Besucher ist stets besser dran).
Hinter dem Haus war eine große Veranda, von der aus man weit ins Tal blicken konnte. Ich erinnere mich an eine ganz große Sommernachts-Party. Mit der Zeit drang durch, daß hier die Verlobung von Che und Frauke gefeiert wurde – oder war es sogar die Hochzeitsfeier? Nein, ich spreche nicht von Che Guevara, sondern von Che Urselmann, der die Zeitschrift ZERO herausgab. Und Frauke managte die Theke im Eschhaus. Ich bewunderte sie, weil eine solche Arbeit angesichts einiger sehr schräger Vögel, die da ihre Schrägheit ventilierten, nur mit einem sehr hohen Maß an Souveränität zu bewältigen war.
Von der Mülheimer Villa – nach ihrem Abriß – ist nochmal in DER METZGER Nr. 39 die Rede. Heute steht an der Stelle irgendeine andere „Wohnbebauung“. Villen baut man stattdessen an Stellen, wo sie nicht hingehören.
Über ein etwas komisches Erlebnis in der Villa berichtete ich in meinem Buch „Der Gartenoffizier“ auf Seite 163f.

pf2015-17Die Landschaft hinter der Villa.

pf2015-18Ach, erzählen Sie ruhig, die Elektrizität wäre hier erfunden worden. Weil das so aussieht: in dem Häusken hinter den Häuskes. Das können Sie getrost erzählen, weil das sowieso keiner glaubt.
Bringen Sie die Oberleitung als Argument ins Spiel.

pf2015-19Das Haus habe ich Ihnen doch schon mal gezeigt und gesagt, daß ich Ihnen die Geschichte dazu vielleicht mal erzähle. Also:
In diesem schönen Haus wohnte eine, die ich kannte, Schülerin des Frau-Rat-Goethe-Mädchengymnasiums, die unserer kleinen und sehr agilen Radikal-Gruppe angehörte, die sich „Kommune“ nannte (und, das darf ich sagen, es besser machte als die meisten Gruppen, die sich so bezeichneten. Außer mir zwei Arbeiter, ein Lehrling, drei Schülerinnen, kein Student). Wir hatten gerade an den Weihnachtstagen (1968) auf dem Bahnhofsvorplatz einen Hungerstreik veranstaltet (wegen Vietnam). Der Vater der Villenbewohnerin, der Villenbesitzer also, zeigte Sympathie für unsere umstürzlerischen Konzepte und lud uns ein. Es ging wohl darum, uns finanziell unter die Arme zu greifen.
Die Genossin (Christiane hieß sie) hatte ein sehr großes Zimmer. Da stand auch ein Klavier, auf dem ich dann spielte – obwohl ich gar nicht klavierspielen kann. Aber mit einem Klavier funktioniert sowas, anders als – etwa – mit einer Klarinette. In einem Regal standen viele Bücher, und zwar alle aus der rororo-Taschenbuchreihe. (Vielleicht hat sie Bücher aus anderen Verlagen irgendwo verborgen aufbewahrt).
An der Wand hing ein großes pygophiles Poster, was meine Sympathie für die Zimmerbewohnerin weiter steigerte. Ich finde es gut, wenn Frauen auch einen Blick für sowas haben.
Das Gespräch mit ihrem Vater, der nach langem Zögern sein Lampenfieber überwand und sich uns Revoluzzern aussetzte, verlief eigentlich sehr harmonisch.
Viel hat er dann jedenfalls nicht springen lassen.
Nach der Rückfahrt mit der Straßenbahn nach Duisburg (Oberleitung siehe oben) brachte ich die Genossin Anne nach Hause. Es war ein Schnee gefallen. Der trockene Pulverschnee knirschte unter unseren Schritten. Wir waren schon auf dem Lith. Ich dachte: Nur noch da vorn die Ecke rum, dann ist sie zu Hause. Und ich dachte: Jetzt! Jetzt! Jetzt! werde ich sie einfach in’n Arm nehmen und küssen! Und dann stellte sich heraus, daß sie schon seit Monaten darauf gewartet hatte.
Pech für die Mädchen, die sich in so einen schüchternen Jungen verlieben. Da dauert das immer moo-naa-tee-laang.

pf2015-20Ich kann mir nicht helfen und ich weiß nicht warum. Immer wenn ich hier unterwegs bin, wo zwischen Radweg und Fahrbahn ein Parkstreifen angelegt ist, überkommt mich eine geheimnisvolle Melancholie. Da kann der Herr Nappenfeld noch so viel Metall gestalten.

pf2015-21pf2015-22Jetzt die Biege ins Gewerbegebiet, zur Ruhr? Nein, heute nicht.

pf2015-23In irgendeiner Nebenstraße – diese war’s wohl nicht, aber so ähnlich – bin ich mal mit dem Strähler gewesen. Das war Ende der 70er Jahre. Wir (Hut-Film) besuchten da den Dokumentar- und Experimental-Filmer Reinald Schnell. Der wohnte da mit seiner Mutter, der Frau des Schriftstellers Robert Wolfgang Schnell. Ich war froh, mal eine Wohnung zu betreten, in der es so aussah wie bei mir zu Hause. Überall Zeitungen und Bücher auf Tischen und Stühlen.
An der Wand hing ein Miró, ein Original.
Soll ich Ihnen mal was sagen: Der Schnell fand meine Filme nicht so gut. Der fand die Filme von dem Strähler besser! Aber seine Mutter war von dem, was ich sagte, sehr angetan.
Wir organisierten dann einen Filmabend mit Reinald Schnell im Eschhaus. Er hielt einen einführenden Vortrag, von dem mir ein Satz besonders in Erinnerung blieb. Ein Zitat von Mitscherlich: „Was wir heute bauen sind die Slums von morgen.“

KneipeMuelheimDer Wendepunkt eines Pfingst-Ausgangs zum Zwecke der Vergewisserung (woher kommen wir, wohin gehen wir, hier: wo machen wir kehrt).
Das Bild habe ich Ihnen doch auch schon mal gezeigt. In dem Lokal hatten wir mal Klassentreffen. Das muß im Dezember 1974 gewesen sein (kurz nachdem Sartre Baader in Stammheim besucht hatte).
Als ich nach Hause ging, Mitternacht war schon vorbei, da merkte ich, daß ich ohne Hausschlüssel unterwegs war.

Bilder einer Vergewisserung (8-15)

pf2015-08pf2015-09pf2015-10Das andere Fachwerkhaus, „die Monning“, war schon zur Kaiserzeit ein Ausflugslkokal, wo sich sonntags nachmittags die paarungswillige Jugend zum Tanz traf. Ich lernte als Kind diese Generation noch kennen zu Zeiten, als sie das Rentenalter erreicht hatte, und ich mußte mich anstrengen, mir diese Großonkel und Großtanten als jung und paarungswillig vorzustellen. Ich dachte: Sich sonntags nachmittags zum Tanz in der Monning zu treffen – das kann’s doch nicht sein! Da war es ein guter Rat, Kraft zu sammeln, um die Lebensabläufe nach ganz anderen Absichten zu gestalten! Folge dürfte auch sein, daß der Nachdruck, mit dem zum Einordnen aufgefordert wird, sehr nachlassen zu haben scheint.
Das Haus passierend verläßt man das Duisburger Stadtgebiet und befindet sich in Mülheim. Darum heißt die Straße ab hier nicht mehr Mülheimer Straße, sondern Duisburger Straße.

pf2015-11Das Fachwerkhaus ist nur der Eingangsbereich zu einem Komplex, in dem jetzt allerlei Firmen und Studios untergebracht sind. Zu dem Freizeitvergnügungs-Komplex gehörte dereinst der „Tanzpalast Okay“, den niemals zu betreten mein fester Vorsatz ist, an dem ich auch jetzt noch, da es ihn nicht mehr gibt, eisern festhalte.

pf2015-12DEN gibt’s aber eine Tür weiter immer noch: den „Ball“, der früher „Ball der einsamen Herzen“ hieß und nicht ohne Diskretion und Selbstironie als „Tanz für die reifere Jugend“ tituliert wird. Das ist ein Ort, an dem man sich mit einem der größten Übel aller Zeiten, der Einsamkeit, nicht abfinden will. Eine Schule des Verständnisses. Eine Subkultur gewissermaßen? Es sollte uns allen fernliegen, etwas Mokantes daran zu finden.

pf2015-13Was wäre Ihnen lieber: In diesem Hause zu wohnen oder dieses Haus zu besitzen. Wenn ich zu einer Entscheidung GEZWUNGEN WÄRE, würde ist sagen: beides.
Mir würden (für mich allein) die beiden oberen Stockwerke und der Dachboden reichen.

pf2015-14In diesem Haus war ich mal zu Besuch. Das war Anfang 1969. Das „Katholische Jugendamt“ (das man aber nicht für eine Behörde halten darf) hatte die Idee, in der Aula des Steinbart-Gymnasiums eine Podiumsdiskussion über das Thema „Kriegsdienstverweigerung“ zu veranstalten. Das war nämlich die Zeit, in der die Zahl der Kriegsdienstverweigerer rapide zunahm. Eine Podiumsdiskussion also mit einem Bundestagsabgeordneten der CDU, einem Bundestagsabgeordneten der SPD, einem Katholiken, einem Protestanten und einem Origanal-Kriegsdienstverweigerer. Das war ich, 19 Jahre, aktiv im Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK – später Bestandteil der DFG-VK) und last but not least Professor Nikolaus Koch.
In diesem Haus fand eine Art „Vorbesprechung“ statt, aber nicht mit einem Pastor und auch nicht mit einer Ordensschwester, sondern mit einer netten jungen Frau, die beim „Katholischen Jugendamt“ wohl einen Bürojob hatte, und mit der unterhielt ich mich den ganzen Abend über das Thema „Was denkt die APO?“.
Die Katholen haben mir ein großzügiges Honorar gezahlt.
Ein paar Monate später habe ich bei den Evangelen in Neudorf auch wieder einen Vortrag über Kriegsdienstverweigerung halten dürfen. Da war das Honorar ein bißchen bescheidener. Über diese etwas kuriose Veranstaltung berichtete ich in meinem Buch „Der Gartenoffizier“ auf Seite 82.

pf2015-15..

Alles war, nix is mehr (1)

Ach! Sieh an!

nixis01Ein Zeichen der Zeit! Muß nicht heißen: Zeichen der Gegenwart. Die Gegenwart ist nicht die einzige Zeit. Auch die Vergangenheit sendet Zeichen, die vergleichbar sind mit dem sprichwörtlichen Stein im Schuh.
„Oma Kohl“ war mal der INOFFIZIELLE Name dieser Kneipe auf der Börsenstraße. Offiziell hieß diese Kneipe anders, hatte irgendeinen nichtssagenden Kneipen-Namen wie Soundso-Stube oder Zum-Soundso. Die winzige Kneipe wurde von einem älteren Ehepaar betrieben. Die hießen Kohl. Darum ging man zu „Oma Kohl“.
Um die Mittagszeit, manchmal nachmittags, ging man da hin. Die antiautoritären, die radikalisierten und radikalisierenden APO-Schüler. Warum gerade da hin? Weiß ich nicht. Weiß wahrscheinlich kein Mensch. Die Kneipe hatte nicht besonderes. Sie war nicht schön, die war nicht originell, sie war nicht besonders gemütlich. Sie war einfach nur übriggeblieben. Das Wirts-Ehepaar Kohl (beide mindestens 70) müssen gedacht haben: „Wo kommen bloß die ganzen jungen Gäste her?“ Na, ihnen konnte es recht sein.
Vorne war die Theke, hinten paßten gerade mal zwei große Tische rein.
Ich ging da mal an einem Nachmittag hin, um den Dichter Willy Blassen zu treffen. Der schrieb existentialistische Gedichte, die nicht zum Lachen waren, richtig mit Reimen und Strophen. Und ich hatte mich entschlossen, eine Zeitschrift herauszugeben, und wollte Beiträge von dem kriegen. Meine Freundin Barbara begleitete mich. Die fand den Willy Blassen gar nicht gut, weil der so auf ernst und existentialistisch macht, so auf superlässig (heute würde man sagen, der „macht auf cool“). Die Barbara war eine ganz kühle, die bei jedem auf Anhieb die unangenehmen Seiten entdeckte. Aber mich liebte sie erstaunlicherweise.
Daß die Wirtsleute, die vielleicht gar nicht wußten, wie ihre Kneipe wirklich hieß, diese Nachfolgern überließen, habe ich nicht mehr mitgekriegt. Aber der Name hat sich anscheinend erhalten. Irgendwann haben sie da das Schild drüber gehängt und fanden das lustig, und wissen nicht was ich weiß.
Wenn man genau hinguckt, sieht man: Steht leer. Nachmieter gesucht.

nixis02Das Kellerlokal, das heute Djäzz heißt, gab es auch damals schon, hieß aber anders. Ich war da nie drin. In ein Etablissement, das sich „Börsenstreet“ nennt, gehe ich nicht.

nixis03Das war in der Zeit, von der hier die Rede ist, gewissermaßen das Gegenteil von Oma Kohl. In der Gaststätte mit dem bezeichnenden Namen „Fürstenkrone“ auf der Claubergstraße trafen sich die elitären Schnösel, deren Lebensleistung darin bestand, aus besseren Kreisen zu stammen.
Ich war da auch mal drin. Wenn man da mal drin ist, ist das wichtigste, zu wissen, wo der Ausgang ist.
Das Gebäude war dem Forum-Bombastikum im Weg. Die Fassade stand unter Denkmalschutz. Also hat man das Gebäude zwar abgerissen, die Fassade aber stehenlassen. Wo einst Fürstenkrone war, ist nur noch Fassade, dahinter Karstadt, C&A und das alles. Die Eliten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wenn ich die heutigen Zustände sehe, tröste ich mich mit dem, was es nicht mehr gibt.

nixis04
Ein paar Häuser weiter. Da war ich nie drin. Das war mal so eine richtige Nepp-Bar, mit Bardamen/Animierdamen. Muß auch sein. Piccolöchen für 85 Mark.
Und jetzt? „Bistro Café“ Noch nicht mal zu einen accent aigu reicht’s bei denen.
Gucken Sie mal diese Schlucht zwischen den Häusern!
Nächste Tage erzähle ich Ihnen mehr über meinen Samstags-Nachmittags-Straßen-Spaziergang von voriger Woche.
Früher war ich ja einer von denen, die von der Zukunft künden. Jetzt krame ich vor Ihnen im Vergangenheit herum. Ich nehme also inzwischen eine radikalere Haltung ein.

Blinde Empörung

BlindFaithHad To Cry Today; Can’t Find My Way Home; Well All Right; Presence Of The Lord; Sea Of Joy; Do What You Like. Eric Clapton (Gitarre), Ginger Baker (Schlagzeug), Steve Winwood (Orgel, Klavier und Gesang), Ric Grech (Bass, Violine). Blind Faith 1969
„Für das Cover der amerikanischen Ausgabe wurde daher stattdessen ein neutrales Foto verwendet.“

P.S.: Ist es nicht erstaunlich, daß Frau Alieze S. zum Edathy-Skandal ihren Senf nicht hat erschallen lassen? Was Steuerangelegenheiten doch manchmal für angenehme Wirkungen nach sich ziehen!

Das Foto zum Zwanzigsten

September-2011-IMG_8658Hüttenheim (Duisburger Süden), Hermann-Rinne-Straße, keine hundert Meter von Mannesmann entfernt.
Hier war ich mal Briefträger (offiziell: Zusteller), vier Monate lang. Dieses komische Haus gehörte zu meinem Revier. Und immer, wenn ich dieses Haus hinter mir hatte, wußte ich: Das meiste habe ich noch vor mir.

Praktische Philosophie

Philosophieunterricht hatten wir nur ein Jahr lang, in der Oberprima, und zwar samstags in den letzten beiden Stunden. Das traf sich gut. Es wäre nicht so gut gewesen, die Philosophie zwischen Mathematik und Französisch zu quetschen. Die letzten beiden Stunden vor der Entlassung ins freie Wochenende sind eine gute Zeit für die Philosophie, die, wie ich finde, am besten gedeiht in einer Atmosphäre der Entspanntheit.
Vor den beiden Philosophiestunden war die große Pause. Meine Mitschüler verließen den Klassenraum. An einem Samstag nutzte ich die Gelegenheit, die Utensilien meiner Mitschüler, die auf den Tischen herumlagen, zu vertauschen. Ich nahm das Heft von diesem Tisch und legte es auf jenen, das Buch entfernte ich dort und legte es dahin, wo ich den Füllfederhalter wegnahm. Die Schultaschen leerte ich zwar nicht aus, aber verteilte sie kreuz und quer im Raum. In fünf Minuten gelang es mir, ein enormes Tausch-Pensum zu schaffen, so daß jeder, dem drei oder vier Utensilien fehlten, sie auch an drei oder vier verschiedenen Stellen ausfindig machen mußte.
Die Unterrichtsstunde in Philosophie begann mit erheblicher Verzögerung. Der Klassenraum hatte sich vorerst in eine Börse für vermißte und vorgefundene Gegenstände verwandelt. Man hätte auch mit Fug sagen können: es fand eine Übung in praktischer Philosophie statt: Aus dem Chaos zur Ordnung mit den Mitteln der Kommunikation, oder so ähnlich.
Es hätte auffallen müssen, daß ich für diesen Zustand verantwortlich war, denn ich war der einzige, der das alles lustig fand. Und: meine Utensilien waren allesamt da, wo sie hingehörten. Ich wurde darauf nicht angesprochen, wahrscheinlich deshalb, weil ich mit Abstand der Beste im Fach Philosophie war – dies aber wohl deshalb, weil Herbert Marcuse durchgenommen wurde.

Herbert Marcuse (1955)

Herbert Marcuse (1955)

Im mündlichen Abitur wurde ich über Herbert Marcuse geprüft. Auf die Frage, wie man diesen Philosophen anhand der Textpassage, die mir vorgelegt worden war, politisch verorten könne, antwortete ich: Herbert Marcuse ist ein Linker.
Für diese enorme textanalytische Leistung bekam ich die Note Eins, und später erfuhr ich, ich sei im mündlichen Abitur der Jahrgangsbeste gewesen – aber nur, weil ich in Philosophie geprüft wurde. Wäre ich in Französisch geprüft worden, wäre ich vielleicht der Jahrgangsschlechteste gewesen.

Paul Hafemeister

Hafemeister3Er war der „Lesende Arbeiter“ in dem Gedicht von Brecht.
Ich sah ihn nicht zum ersten Mal, aber hörte ihn zum ersten Mal reden bei einer Veranstaltung in einer Schulaula im April 1969, zwei Tage vor dem Ostermarsch. Das war eine heftige Veranstaltung, auf der sich auch Gegner der Linken laut bemerkbar machten. Da hielt er eine spontane Rede, mit knappen, deutlichen Formulierungen und so aufgebaut und klar gegliedert, wie sie kein Redenschreiber besser hätte hinkriegen können. Es war ein knapper Abriß über die Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland im Zwanzigsten Jahrhundert, und: warum die Arbeiter die Mitbestimmung brauchen.
Ich dachte, wenn er so gut reden kann, dann ist er vielleicht Rechtsanwalt oder so etwas. Aber er war Lokführer bei der Werkseisenbahn, und überzeugter und überzeugender Gewerkschafter.
Ich spreche von einer Zeit, in der „die für uns“ bloß „Revisionisten“ und „wir für die“ bloß „Chaoten“ waren. Die nächste Begegnung war bei einem Infostand auf der Königstraße. Er sprach mit mir geduldig, unaufgeregt, interessiert daran, „wie ich das sehe“. „So verschieden sind wir doch gar nicht.“ Er war einer, der beim Diskutieren zuhörte, Antworten gab. Er nahm die ernst, mit denen er sprach. Er hat mir den Weg zur Partei gezeigt.
Wenn wir bei Veranstaltungen in Erscheinung traten, verließen wir uns einfach darauf: „Der Paul wird das schon machen.“ Er wird sich zu Wort melden und mit knappen, deutlichen, durchdachten Formulierungen die Zuhörenden – mindestens – zum Nachdenken bringen.
Auf ihn traf ein weiterer Vers aus einem Gedicht von Brecht zu: „Diese sind unentbehrlich.“
Am 23. Mai 2013 ist unser Genosse Paul Hafemeister 84jährig gestorben.

Fotos: DFG-VK

Fotos: DFG-VK

Das war Tradition, das ließ er sich nicht nehmen. Jedes Jahr trug er das Ostermarsch-Transparent voran. Nur in diesem Jahr, da konnte er nicht mehr.

Leichtes Spiel

Die evangelische Kirchengemeinde in Neudorf veranstaltete eine Diskussion zwischen einem Bundeswehrsoldaten und einem Kriegsdienstverweigerer. Das war 1969. Der Bundeswehrsoldat war Rainer Deters, Sohn des Pfarrers. Der Kriegsdienstverweigerer war ich.
Ich hatte kein gutes Gefühl. Würde ich in dieser Auseinandersetzung eine gute Figur machen? Würde ich in Form sein, um der Sache der Kriegsdienstverweigerer einen guten Dienst zu erweisen? Ich bereitete mich auf eine heiße Redeschlacht vor.
Als erster hatte mein Kontrahent, Rainer Deters, der Soldat, das Wort. Er begann seinen Vortrag mit den Worten:
„Die Bundeswehr. Dat is der größte Scheiß, den et gibt.“
Es wurde ein netter Abend.

Happening (1969)

Im März 1969, zwei Tage vor dem Ostermarsch, weilte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière, in Duisburg. Der Unternehmerverband Ruhr-Niederrhein hatte ihn eingeladen, im vornehmen Duisburger Hof einen Vortrag zu halten.
Wir fanden uns mit etwa 10 Leuten vor dem Duisburger Hof ein und veranstalteten ein Happening, mit dem wir gegen die Anwesenheit des Generals und gegen die Bundeswehr überhaupt unseren Protest zum Ausdruck zu bringen gedachten. Wir verteilten Flugblätter, trugen Papptafeln mit Slogans herum, einer trug einen Stahlhelm und eine Gasmaske. Bernhard Klaas trug ebenfalls einen Stahlhelm, an dem er zwei Haken angebracht hatte, mittels derer er ein Holzbrett an dem Helm befestigen konnte. Das war das „Brett vor dem Kopf des Bundeswehrsoldaten“.

APO-Happening 1969. 2. v.l.: ich. 3.v.l.: Anne! 4. v.l.: Baumeister. 2. v.r.: Hans Raßmes (mit Gasmaske). Rechts: Klaas (mit Brett vor’m Kopp).

Als der General im Mercedes vorgefahren kam, salutierte Klaas formvollendet. Der General – das muß man sagen – hatte Humor und lachte sich kaputt. Bernhard Klaas marschierte auf dem Bürgersteig hin und her, blieb vor dem Mercedes stehen, knallte die Hacken zusammen und salutierte, bis ich ihn darauf aufmerksam machte, daß der General längst ausgestiegen und ins Gebäude gegangen war.
„Wat?“ Klaas hob das Brett an und sah. „Ach so!“
Die Presse kam auch. Es gab damals noch die rasenden Reporter, die Happenings witterten. Der erste war ein Fotograf der UZ.
Auch einige Passanten blieben stehen und schauten sich das Treiben belustigt an. Mit der Zeit bildete sich das, was man eine „Menschentraube“ nennt. Diskutiert wurde auch. Die meisten Leute waren skeptisch, aber nicht ablehnend. Und wir versäumten es nicht, den Krieg der USA in Vietnam zu erwähnen.
Aus der Ansammlung der Zuschauer rief einer uns zu: „Warum geht ihr denn nicht bei Ulbricht demonstrieren?“
„Der Walter Ulbricht, ne“, rief ich zurück, „der ist nämlich auch gegen den Vietnamkrieg.“
Siegfried Baumeister, der bei uns als eine Art Wortführer galt, stand neben mir. Ihm war es eiskalt den Rücken runtergelaufen. „Bist du verrückt?“ zischelte er mir zu. „Das kannst du doch so nicht sagen!“
Aber das Publikum reagierte alles andere als „abgestoßen“. Heiterkeit breitete sich aus. „Wo er recht hat, da hat er recht“, rief einer. Die einen lachten, die anderen schmunzelten. Die Schlagfertigkeit meiner Antwort, die mir just eingefallen war, hatte beeindruckt.
Gewiß, das war nicht political correct gewesen. Ich hätte natürlich wortreich versichern müssen, daß wir ja auch was gegen Ulbricht haben, und ich hätte geflissentlich bekennen müssen, daß wir sowjetische Militärposten in Prag mindestens ebenso fürchterlich finden wie den Völkermord in Vietnam, und daß wir für Abrüstung in West uuund Ost sind, und ich hätte dieses Uuund uuunüberhörbar dem öffentlichen Bewußtsein zu Füßen legen müssen.
Das hatte ich aber nicht getan. Ich war 19 Jahre alt und von Politik, von Klassenkampf verstand ich noch sehr wenig. Mir fehlten noch viele Erfahrungen. Aber so viel verstand ich schon, daß ich – wenngleich auch uncorrect –, so doch – wie ich finde – richtig gehandelt habe.
Ich hatte die Lacher auf meiner Seite und habe somit Pluspunkte eingeheimst, und das hätte ich nicht geschafft, wenn ich gesagt hätte, was man von mir hören wollte.
Was hätte es denn gebracht, wenn ich mich wortreich in Beschwichtigungsritualen ergangen wäre? Das hätte man mir doch sowieso nicht abgenommen. Wer auf einen „wunden Punkt“ hingewiesen wird und sich dann windet wie ein Aal, überzeugt niemanden. Er steht dann da als einer, der sich ertappt fühlt und durch Distanzierung sich reinzuwaschen versucht. Dann doch lieber die Etiketten, die die Herrschenden uns ans Hemd kleben, stolz vorzeigen. Das imponiert mehr. Wer die Lacher auf seiner Seite hat, hat mehr erreicht als einer, der bei den Meinungsbegutachtern gerade noch eine Vierminus herausschindet.
„Seht her! So schlecht wie unser Ruf, so sind wir auch!“ Das ist das bessere Motto. Ich war 19 Jahre alt und von Politik, von Klassenkampf verstand ich noch sehr wenig. Mir fehlten noch viele Erfahrungen. Aber soviel verstand ich schon: Daß wir als „Everybody‘s Darling“ nichts gewinnen können, weil wir niemals „Everybody‘s Darling“ sein werden. Als kleine radikale Minderheit aber, als die stets unwillkommenen Störenfriede, als harter Kern haben wir vielleicht eine Chance. Als Alptraum der Spießer sind wir unübertroffen.
Und außerdem, das sollten Sie auch noch wissen: Die Aussage „Der Walter Ulbricht, ne, der ist nämlich auch gegen den Vietnamkrieg“ entsprach durchaus meiner Meinung. So sah ich die Dinge. In Walter Ulbricht und „seiner“ DDR sah ich einen Verbündeten unserer Sache. Wem hätte es genützt, wenn ich es verschämt verschwiegen hätte?
Bleibt noch zu erwähnen, daß Bernhard Klaas zwei Tage danach mit Stahlhelm auf dem Kopf als „Bundeswehrsoldat mit dem Brett vor dem Kopf“ den ganzen Ostermarsch mitgegangen ist.

aus Der Gartenoffizier. 124 komische Geschichten. Situationspresse 2008. 268 S. 16,50 Euro. ISBN 978-3-935673-24-2