Anläßlich es 50. Jahrestages der Spiegel-Affäre
Alle Zuständigen haben ihren Nachruf auf Rudolf Augstein verfaßt. Ich – unzuständig – habe ihnen den Vortritt gelassen, hätte aber auch noch etwas zu bemerken.
Den Spiegel habe ich etwa 15 Jahre lang gelesen, mehr oder weniger regelmäßig. Angefangen habe ich damit, als ich 16 war. Eine Zeitlang hatten wir den Spiegel abonniert, er kam montags morgens mit der Post. Ich habe das Heft im Bett gelesen. Aber man kann doch nicht den ganzen Montag im Bett verbringen, und so blieb das Heft dann halb gelesen liegen, bis das neue kam. Und dann dachte ich immer: Hach, das neue Heft ist schon da, ich muß doch noch das vorige lesen. Und bald darauf: Ich muß doch noch das vorletzte lesen. Und dann kam eine Zeit, in der bei uns das Geld noch knapper war als sonst und noch mehr gespart werden mußte als sonst. Und da wurde das Spiegel-Abonnement abbestellt. Auf diese Weise sollte nicht nur das Konto geschont, sondern auch die permanente Papierzufuhr, die die Wohnqualität zu beeinträchtigen begann, gebremst werden. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob diese Entscheidung richtig war: Konnte ich es mir wirklich leisten, von der Hauptinformationsquelle der deutschen Öffentlichkeit abgeschnitten zu sein? Ich rechnete damit, wegen der in solchen Fällen üblichen Kündigungsfristen noch einige Monate lang die Hefte in Empfang nehmen zu müssen. Aber siehe da: Nach dem Kündigungsbrief kam kein Heft mehr. Das Abonnement war von einer Woche auf die nächste beendet. Und ich stellte fest: Mir fehlte nichts. Keine Umgewöhnung, keine Entzugserscheinungen. Ich konnte ohne Spiegel prima auskommen. Das letzte Heft hatte die Wahl von Ronald Reagan zum US-Präsidenten gemeldet. Und glauben Sie mir: Seit der Wahl von Reagan zum US-Präsidenten habe ich den Spiegel nur noch ganz selten in der Hand gehabt, und zwar im Wartezimmer des Zahnarztes. Aber da komme icg immer schnell dran. Kaum habe ich das Heft aufgeschlagen, ruft die Zahnarzthelferin: „Herr Loeven, kommen Sie bitte.“ Seither assoziiere ich den Spiegel mit dem Bohrgeräusch beim Zahnarzt.
Augstein ist durch sein Geschäft zu einem steinreichen Mann geworden. In Engelmanns „ABC des großen Geldes“ (1985) wird er als Milliardär eingestuft. Immer wenn ich das erzähle, staunen alle. Ich erzähle auch gern, daß ich mal ein Exemplar vom Time-Magazine durchgeblättert und dabei festgestellt habe, daß der Spiegel in seiner Gestaltung bis ins kleinste Detail eine Imitation des Time-Magazines ist (so wie auch Focus eine Imitation von Newsweek ist).
Als die Spiegel-Affäre die Nation erschütterte, war ich 13 Jahre alt. Diese Affäre hatte etwas mit der Bundeswehr zu tun. Was der Spiegel an der Bundeswehr kritikwürdig fand, war nicht ihre überflüssige Existenz, nicht ihre Funktion („Auftrag“), sondern, daß sie nur „bedingt abwehrbereit“ gewesen sei.
Löste die Spiegel-Affäre aus: Heft 41/1962
Selbst das ging zu weit. Was geschah ist bekannt: Augstein im Gefängnis (seine größte Leistung), Strauß abgemeldet (bis er mit Hilfe der SPD in der Großen Koalition wieder an den Kabinettstisch zurückkehren konnte), und aus dem „kritischen Nachrichtenmagazin“ wurde das „Sturmgeschütz der Demokratie“.
Spiegel-Ausgabe 45/1962
In der Tat, es ist nicht übertrieben: Die Spiegel-Affäre von 1962 war der Anfang vom Ende der Adenauer-Ära, oder, wie ich es letztens irgendwo gelesen habe, „der Anfang vom Ende der ersten Bonner Republik“. Aber dafür sollte man nicht dem Augstein einen Orden verleihen, sondern dem Strauß, oder dem Höcherl, und dem Adenauer.
Hermann Höcherl, CSU, damals Bundesinnenminister, war wohl der einzige in dem ganzen Clan, der die ganze Tragweite der Affäre einzuschätzen in der Lage war. Nicht zu beneiden war er, als er vor dem Bundestag Rede und Antwort stehen mußte und Worte sprach, die zu geflügelten Worten wurden: Man könne „nicht ständig mit dem Grundgesetz unterm Arm“ herumlaufen, und die Aktion gegen den Spiegel sei „etwas außerhalb der Legalität“ gewesen. Strauß war der nicht ganz irrigen Ansicht, daß man dem Parlament die Unwahrheit sagen kann, wenn sie einem nützt. Er übersah aber, daß man das dem Rheinländer Adenauer, nicht aber dem dicken Bayern Strauß verzeiht. Bei Adenauer sagte man: „Ja, ja, der alte Fuchs! Hat mal wieder geflunkert.“ Bei Strauß hieß es hingegen: „Der hat das Parlament belogen.“
Wirklich schön war, wie Adenauer sich vor dem Bundestag künstlich aufregte: „Wir haben einen Ab-Grund von Landesverrat in unserem Lande!“ – „Wer sagt das?“ – „Ich sare das!“
P.S.: Der Staatsanwalt, der die Durchsuchung der Spiegel-Redaktion und die Festnahme von Augstein und einigen anderen so bereitwillig leitete, war Siegfried Buback. Der hatte auch einen schönen Nachruf.
*
Dieser Artikel mit der Überschrift „Ich sare das!“ erschien als „Nachtrag zu den Nachrufen auf Rudolf Augstein“ 2003 in DER METZGER Nr. 66. Einige Angaben sind überholt, z.B. das Spiegel-Layout betreffend. Seitdem (mit Ausnahme der neueren Ausgaben) alle Spiegel-Hefte seit 1948 im Internet gelesen werden können, nutze ich das für das Quellenstudium.