Ne? Is klar.

Ist Ihnen auch klar, daß der Rosenmontag, beziehungsweise das ganze durch ihn verlängerte Wochenende, mancherorts als Zeit der Kontemplation gefeiert wird, zum Beispiel dort, wo die fast vollendete METZGER-Ausgabe Numero 121 ganz vollendet werden soll.
Ich will Ihnen gern zu ein paar (präzise gesagt: fünf) kontemplativen Inspirationen verhelfen – durch Recurse auf die ersten fünf Monate dieses Weblogs. Denn wisse: wer auf der Suche nach der Zukunft ist, muß in alten Papieren wühlen (hier: in alten Notaten herumstöbern).

Drum klicken Sie mal hier,
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Viel Freude (ohne Uniform, ohne Blaskapelle).

Erdenwunder

Heute, am 13. August, wurden in Berlin wieder Kränze niedergelegt und lange Gesichter gezogen: „Im Gedenken“.
Gedenken ist ja gut. Gedanken wären besser.
2011, vor 5 Jahren, anläßlich des 50. Jahrestages ihrer Grundsteinlegung, erschien in DER METZGER Nr. 94 der Aufsatz über die Berliner Mauer „Der Erdenwunder schönstes“.

M094Ein paar Zitate:

Die Bundesrepublik befand sich in keinem normalen Zustand. Es ist ohnehin fraglich, ob deutsche Zustände jemals das Prädikat der Normalität verdient haben.

Die Brandredner wollten (…) die „Ostgebiete“ zurück, sie wollten die Grenzen verschieben. Sie wollten Vertreibung. Sie wollten das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges revidieren. Sie wollten Atomwaffen für die Bundeswehr. Sie hatten keine Skrupel, die Flammen, die von deutschen Kriegsverbrechern angezündet worden waren und in denen das Deutsche Reich verbrannt war, wieder auflodern zu lassen. Der Springer-Kolumnist William S. Schlamm schlug gar vor, Westberlin zu evakuieren, um die DDR mit Atombomben auszulöschen. Berlin sei einen Krieg wert. Wer so etwas schreibt, ist ein Verbrecher.
Der NDR zitierte in einer Rundfunkreportage am 10. Oktober 1961 einen DDR-Bürger: „Was ist denn mit eurer Politik der Stärke? Warum habt ihr denn aufgerüstet, wenn ihr nicht mit der Armee von Ulbricht fertig werdet? Lieber im Atomkrieg zugrunde gehen als unter Ulbricht weiterleben.“ Wer so etwas sagt, ist ein Idiot.
Wer sich erinnert, wird nicht ruhigen Gemütes von der Hand weisen können, daß im Sommer 1961 der Frieden in Europa in Gefahr war.

„Unsere Staatsmänner in Bonn haben die Sowjets nicht für Menschen, sondern für entartete Teufel eingeschätzt. So waren sie nicht imstande, sich selbst in Gedanken an die Stelle des Gegners zu versetzen und sich zu fragen, was sie an seiner Stelle wohl tun würden… Das erste Erfordernis aber, um richtige Politik zu machen, besteht darin, in die Haut des Feindes zu schlüpfen“, schrieb Rudolf Augstein 1961 im Spiegel, und er fügte hinzu: „Spätestens 1965 würde die Bundeswehr potent genug sein, um bei fortdauernd umstrittenen Grenzen die westliche Koalition in spontane oder provozierte Konflikte zu verwickeln… Die Sowjets glauben nicht daran, daß den Deutschen die Verfügungsgewalt über Atomwaffen auf Dauer vorenthalten wird. Sie glauben nicht an Beteuerungen, solange sich das Potential auf deutschem Boden häuft. Sie haben, um ehrlich zu sein, auch wenig Grund, deutschen Beteuerungen zu glauben. Es drohte also eine Situation, in der die Sowjets von den Deutschen um die Früchte ihres Sieges über Hitler gebracht werden könnten. Es drohte eine gewaltsame Revision des Sieges von 1945, und zwar von Seiten des Besiegten.“

Durch die Berliner Mauer wurde zunächst eine brandgefährliche Situation entschärft, auf die Dauer zwang sie zu einer Mäßigung der westlichen Zurückdrängungspolitik. Die Phase der Entspannungspolitik war ohne die Berliner Mauer nicht denkbar. (…) Auch für die Menschen in der Bundesrepublik verbesserte sich die Lage. Sie konnten ruhiger schlafen, weil die Gefahr, daß von deutschem Boden Krieg ausgeht und auf deutschem Boden Krieg beginnt, verringert war. (…) Die, denen der Frieden den Schlaf raubte, waren in ihren Möglichkeiten eingeschränkt. Willy Brandt hätte nicht „mehr Demokratie wagen“ können, wenn die Ostlandreiter weiterhin so hätten wüten können wie bis zum 13. August 1961.

Anders als die BRD hat die DDR niemals Gebietsansprüche gestellt, keine faschistischen Organisationen geduldet, nie versucht, ein anderes Land zu regieren und zu annektieren, nie den Frieden gefährdet und nie Soldaten zum Kriegseinsatz in fremde Länder geschickt. Anders als die DDR hat die BRD dem Hauptfeind des Nazireiches weiterhin feindselig gegenübergestanden – die Regierung, mehr noch die Bevölkerung. Die Bundesrepublik und ihre Prokuristen hatten und haben keinen Grund, sich gegenüber der repressiven DDR dicke zu tun. Die Geschichte staatlicher und nichtstaatlicher Repression in der BRD ist noch aufzuarbeiten. Die haßerfüllte, vernichtungsgierige Hysterie, mit der der deutsche Untertan auf jede ihm fremde Lebensregung reagiert, ist die Perpetuierung des deutschen Faschismus in den Alltag.

Darf man, kann man, soll man, muß man (…) im Atomzeitalter der Unvernunft Freiheit gewähren? Dazu möge jeder sein Gewissen befragen.

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Den ganzen Aufsatz lesen: hier klicken.

Renate Rasp

Ich wußte gar nicht, daß die Schriftstellerin Renate Rasp (1935-2015) die Tochter des Schauspielers Fritz Rasp war. Ihr letztes Buch erschien 1979. Da könnte man meinen, es wäre nicht verwunderlich, daß man sie, sofern man sie erwähnt, bei den „Vergessenen“ einordnet.
Mitte der 60er Jahre als Debütantin erregte sie Aufsehen durch ein Erscheinen, das bis dahin als „nicht damenhaft“ angesehen wurde. Ihr Auftritt 1967 bei der Gruppe 47 war furios. Vielleicht erinnert sich noch jemand an ihren Auftritt bei der Buchmesse 1968 („ach, die war das?“), wo sie „ihre Lesung barbusig abhielt“, was von manchen von denen, die immer alles schon gewußt haben, als „billiger PR-Gag“ abgetan wurde. („Barbusig“ – was für ein Wort! Von „busig“ abgeleitet).
RaspSpiegelRenate Rasps Lyrik und Prosa war von einer brillanten Aggressivität. Darin war sie ihrer rasierklingenscharfen Kollegin Gisela Elsner (1937-1992) ähnlich.
Renate Rasps wohl am meisten verstörendes Buch war „Chinchilla“ (1973), das als Leitfaden zur praktischen Ausübung der Prostitution gelesen werden kann und eine völlig der Verwertung unterworfene Sexualität vorführt.
„Vergessen“ ist nicht nur eine psychische (Fehl?-)Funktion, sondern auch ein gesellschaftlicher Abwehrmechanismus.
VLBRaspFehlanzeigeDieses Bildschirmfoto zeigt die Trefferquote für die Suche nach „Renate Rasp“ in Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB).
Renate Rasp war mit dem Schriftsteller und Kabarett-Exporten und -Historiker Klaus Budzinski (geb. 1921) verheiratet. Auch von seinen Standardwerken über das Kabarett ist keines mehr lieferbar.
RaspChinchillaAls ich „Chinchilla“ las, hatte ich das meiste noch vor mir.

So ziemlich zuerst

Der Spiegel ist immer froh, wenn er berichten kann, das Ende einer Romanze so ziemlich zuerst gemerkt zu haben:

Spiegel-2015-29„Europa – Gegen die Wand […] Der Fall Griechenland bringt das romantische Europäertum an sein Ende. Gerade die Deutschen haben sich lange ein falsches, häufig verklärtes Bild von den Griechen gemacht. Das erklärt die Fallhöhe ihrer Enttäuschung.“

Die Deutschen sind also wieder mal „enttäuscht“.
Daß die Deutschen sich ein falsches Bild von den Griechen gemacht haben, stimmt allerdings. Die Deutschen halten die Griechen für ein Volk, dem sie keine Kriegsreparationen schulden.

Die Merkel ist auch eine Tasse

Wie der gestrigen WAZ zu entnehmen ist, geht der dogmatische 150-Prozent-Kurs der Bundesregierung (und der von der Bundesregierung geführten EU) einigen Fachleuten auf den Wecker:
„In den USA wird die Kritik am strengen Spar-Diktat der EU gegenüber Griechenland immer lauter. Auch Präsident Barack Obama schaltete sich in die Debatte ein.
Mit Nobelpreisen ausgezeichnete Wissenschaftler wie Paul Krugman und Josef Stiglitz sowie Leitmedien wie die ‚New York Times‘ werben seit Tagen für einen teilweisen Schuldenschnitt gegenüber Griechenland; bislang ein Tabu in EU-Kreisen. Die Geldgeber-Länder mit Deutschland an der Spitze hätten Griechenland auf einen Kurs gezwungen, der Wachstum verhindere, die Wirtschaft immer weiter in die Depression treibe und zur Verarmung beitrage, heißt es.
Mit Verweis auf ein Gutachten des Internationalen Währungsfonds (IWF) stellen die Ökonomen fest, dass Griechenland unter den herrschenden Bedingungen seine Schulden niemals zurückzahlen kann. Krugman vergleicht die von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble geprägte Politik mit „mittelalterlichen Ärzten, die darauf bestehen, ihre Patienten ausbluten zu lassen – und wenn ihre Heilmethode die Patienten kränker macht, dann verlangen sie noch mehr Aderlass.“

Für den Spiegel stellt sich die Sache ähnlich dar:
Spiegel-2015-28..

Alles war, nix is mehr (3)

Im vorigen Jahr bin ich nur einmal im Wald gewesen. Dann kam ein Sturm, und in den folgenden Monaten wurde wegen der Gefahr durch herunterstürzende Äste vom Betreten des Waldes (mehr oder weniger administrativ) dringend abgeraten. Erst im Spätherbst wurde der Wald wieder „freigegeben“, aber dann gehe ich kaum in den Wald, weil es dann so früh dunkel wird.
In diesem Jahr kam der Frühling wieder mit einem Sturm, der Äste zerbrach. Wieder hieß es: Meiden Sie erstmal den Wald.
Also verlegte ich meine Erkundungsgänge vollends in die besiedelten Teile meiner Heimatregion – ohne Bedauern, weil für mich seit je das Erkunden zwischen Mauern dem Erkunden zwischen Bäumen mindestens gleichrangig ist.
Allerdings birgt auch die Großstadt Ast-Gefahren (erinnern Sie sich an Ödön von Horváth).

nixis11Hohe Straße, also in „bester City-Lage“: Hinter den gelben Klinkersteinen war der erste (und eigentlich auch einzige jemalige) Head Shop, gegründet 1971 von Lutz Ringer (Bröselmaschine). Monatsmiete: 500 Mark. Zwei Räume. In den hinteren Raum drang nur die informelle Tee-Gesellschaft vor. Der Laden hieß „Knubbels Garten“, weil er Teil des Törn-Projekts „Knubbel Afa“ war. In der Zeit seines Bestehens an dieser Stelle (!) war Knubbels Garten einer meiner Lieblings-Aufenthaltsorte.

nixis12Gegenüber davon: Damals war das ein Pommes-Restaurant: Nix als eine Pommes-Bude, aber groß wie ein Restaurant. Hieß: „Pferdestall“ (wohl wegen der rustikalen Holz-Innenarchitektur) und war ein „Szene-Treff“ (wie man heute sagen würde). Ja: die „Freaks“ ernährten sich teilweise auch von Pommes Frites und Curry-Freakadellen und derlei. Da war man noch ganz unverkrampft.
Später war da drin dann ein Französisches Restaurant. Die hatten sogar einen Michelin-Stern.
Und jetzt ist das da. Kurz nachdem ich das Foto aufgenommen hatte, ging da so’n Kerl rein mit Kampfhund. Wenn der ohne den Hund gewesen wäre, hätte ich gedacht: Jetzt fehlt nur noch der Kampfhund.

nixis13Rudi Kalamees zog mit seinem einträglichen Schallplattenladen „Disc“ auch auf die Hohe Straße, in den Eck-Laden am Buchenbaum. Der hatte mehr Platz als er brauchte und einen zweiten Eingang. Also zog Knubbels Garten ein paar Häuser weiter als Rudis Untermieter (Monatsmiete jetzt 300 Mark). Knubbels Garten war, wo jetzt „Sun Express“ drüber steht.
Niedrigere Miete klang verführerisch. Und von dem viel frequentierten Plattenladen (nur Freak-Musik) kam man direkt in den Head Shop, ohne trennende Tür dazwischen. Aber so gut war das nicht. Man kam sich plötzlich vor wie in einer Kneipe, in der aber nichts richtig funktioniert. Außerdem: Nachbar zur Rechten war das berüchtigte Prosesse (was ein Anagramm von „Espresso“ ist) für Hardcore-Freaks. Da war es mit der Ruhe vorbei.
Und: Rudi Kalamees war ein Katastrophen-Mensch. Katastrophen Menschen leben nicht nur in der Katastrophe, sondern ventilieren sie auch.
Den Plattenladen machte er zu und stattdessen dort eine Kneipe auf mit dem phantasievollen Namen „Pub“. Da wurde er aber bald ausgebootet, nachdem er den Lutz und seinen Head Shop ausgebootet hatte. Die Frühgeschichte enthält nicht nur Ruhmestaten.
Der wohnte da auch nicht mehr über dem Laden. Da wohnte dann der Karl Hellbach (Bruder von dem Bröselmaschine-Schlagzeug-Tushita-Mike Hellbach). Der hatte sein Zimmer (Fenster über der Kneipentür) ganz schwarz tapeziert. Das machte nichts, denn ich mußte da ja nicht länger bleiben als ab und zu mal zu Besuch.

Knubbels Garten ging kaputt durch zu viel Kollektivität (jawohl!). Außerdem hatte Inhaber Lutz sich auf den Weg gemacht zu einem längeren Auslandsaufenthalt, ohne die Vertretung zu regeln. Ich war damals mit meinem Zivildienst noch nicht zu Ende und hatte tagsüber keine Gelegenheit, den Laden unter eigener strenger Regie zu leiten. Ich hätte erstmal die ganzen Schnorrer rausgeschmissen, die immer die Einnahmen des Vortages verfrühstückten.
Exkurs: Den Eschhaus-Buchladen habe ich als eine Chance gesehen, die kurze Tradition von Knubbels Garten wieder aufzugreifen. Aber da haben wir (Magda und ich) gesagt: Da lassen wir uns von keinem reinreden! Hier herrscht die Autokratie der Künstler! Das haben manche uns übelgenommen.

SpiegelAnneDer Spiegel berichtete sogar über das ins Chaos abgleitende Projekt. Aber darüber habe ich hier ja schon mal berichtet (ja! Klicken Sie!). Der türkise Pfeil zeigt auf Anne.

nixis14An der Ecke war ein Espressomaschinen-Café. Und was ist da heute drin? Ein Friseurladen. Natürlich.

nixis15In der Galerie Kugel sind Originale von Uecker ausgestellt. Echte Ueckere!

nixis16Wenn ein Flachdach-Gebäude im Kantpark steht, wird Karl Kraus zitiert.
Ganz früher war hier die Stadtbibliothek drin, später das „Heimatmuseum“ (heute: Stadt- und Kulturhistorisches Museum). Jetzt sind da Räume für die Bildende Kunst.

nixis17Gegenüber: Was ist jetzt eigentlich da drin, wo früher das Shalom drin war? Natüüürlich! Ein Friseurladen. Was sonst!

nixis18Eine Tür weiter. Das ist die Kneipe, in der im November 1972 die Eschhaus-Initiative gegründet wurde. Warum die Tür, die ursprünglich weiter rechts war, zugemauert wurde und eine neue Tür an der jetzigen Stelle eingerichtet wurde, verstehe ich nicht.

nixis19Alles war, nix is mehr. Man kann kaum noch schnell genug fotografieren, wo blinde Zerstörungswut tobt.
Oberbürgermeister Sören Link ist ein Gauch.
Da hätten wir den Sauerland ja gleich behalten können.

Ich habe die mit der Industrialisierung entschwundene Bezeichnung „Gauch“ genutzt. Ich wollte durchaus nicht „Gauck“ schreiben. Ich will ja niemanden beleidigen.

nixis20Ach! Sieh an!

Der Erdenwunder schönstes?

Die Krokodilstränentage werden über das Jahr verteilt: 17. Juni, 13. August, 3. Oktober, 9. November (die letzteren beiden für die Krokodilsfreudentränen).
Hier mein Kommentar zum morgigen 13. August (geschrieben 2011, zum 50jährigen).

Wer kann die Pyramiden überstrahlen?
Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower?
Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen
Der Erdenwunder schönstes war die Mauer.
Mit ihren schmucken Türmen, festen Toren.
Ich glaub, ich hab mein Herz an sie verloren.
Peter Hacks

Am 6. Oktober 1961 war in der Frankfurter Allgemeinen zu lesen: „Noch in ihrem bisher kräftigsten Unternehmen haben diese Schriftsteller nachdrücklich bewiesen, daß für viele von ihnen die Beschäftigung mit dem Zustand unserer Republik nichts anderes ist als der Drang, um sich zu schlagen und den Krieg Zuständen zu erklären, die sie selber so dämonisieren, daß man sich fragt, was für Vorteile diese Republik gegenüber der Ulbrichts noch habe. Wir sehen bei ihnen unsere Republik nicht mit den Augen der Kritik, sondern mit denen des Hasses betrachtet.“
Was war das bis dahin kräftigste Unternehmen dieser Schriftsteller gewesen, wodurch hatten sie sich das Attest eingehandelt, „unsere Republik“ mit den Augen des Hasses zu betrachten?
Zwanzig Autoren hatten in einem gemeinsamen Aufruf den Bürgern der Bundesrepublik empfohlen, bei der Bundestagswahl am 17. September 1961 ihre Stimme für die SPD abzugeben. Das war ein kräftiges Unternehmen. Ein starkes Stück! Sie konnten sich einen besseren „Zustand unserer Republik“ vorstellen als daß Adenauer Bundeskanzler bleibt. Ein Jahrzehnt nach der Einführung der zweiten bürgerlich-demokratischen Verfassung hatte diese Demokratie gerade das Niveau erreicht, daß die Aufforderung, eine nicht regierende Partei zu wählen, als Symptom des Hasses auf „unsere Republik“ gewertet wurde.
Tatsächlich ist dieser Kommentar der FAZ ein Symptom dafür, daß die Bundesrepublik sich in keinem normalen Zustand befand. Es ist ohnehin fraglich, ob deutsche Zustände jemals das Prädikat der Normalität verdient haben. Deutschland hat das Niveau einer normalen bürgerlich-liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts nie erreicht. Stattdessen waren immer Gesellschaftskonzepte mehrheitsfähig, die gegen Freiheit und Gleichheit gerichtet waren.

M094Die Abnormalität war besonders gesteigert in dem Jahr, in dem die Berliner Mauer gebaut wurde. Wer sich erinnert, der weiß noch, daß der 13. August nicht in eine stille Beschaulichkeit hineinplatzte. Es herrschte eine erhitzte, eine überhitzte Stimmung im Westen. Es war eine Saison der Brandreden. Die von „Wiedervereinigung“ sprachen, vom „unteilbaren Deutschland“ und von den Brüdernundschwestern, waren von dem Empfinden angetrieben, die Entscheidungsschlacht um die DDR wäre nun im Gange, die DDR wäre sturmreif, es wäre eine Sache von Wochen, bis die DDR der Bundesrepublik als Beute in die Hände fiele. Die Brandredner wollten mehr. Sie wollten die „Ostgebiete“ zurück, sie wollten die Grenzen verschieben. Sie wollten Vertreibung. Sie wollten das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges revidieren. Sie wollten Atomwaffen für die Bundeswehr. Sie hatten keine Skrupel, die Flammen, die von deutschen Kriegsverbrechern angezündet worden waren und in denen das Deutsche Reich verbrannt war, wieder auflodern zu lassen. Der Springer-Kolumnist William S. Schlamm schlug gar vor, Westberlin zu evakuieren, um die DDR mit Atombomben auszulöschen. Berlin sei einen Krieg wert. Wer so etwas schreibt, ist ein Verbrecher.
Der NDR zitierte in einer Rundfunkreportage am 10. Oktober 1961 einen DDR-Bürger: „Was ist denn mit eurer Politik der Stärke? Warum habt ihr denn aufgerüstet, wenn ihr nicht mit der Armee von Ulbricht fertig werdet? Lieber im Atomkrieg zugrunde gehen als unter Ulbricht weiterleben.“ Wer so etwas sagt, ist ein Idiot.
Wer sich erinnert, wird nicht ruhigen Gemütes von der Hand weisen können, daß im Sommer 1961 der Frieden in Europa in Gefahr war.
Auch daran ist zu erinnern: Nach dem 13. August prangerte die Bildzeitung in Riesenlettern „den Westen“ an: de Gaulle und MacMillan hatten am 13. August keinen Anlaß gesehen, ihren Sommerurlaub zu unterbrechen. Kennedy schickte seinen Vizepräsidenten Johnson, der auch nicht viel mehr von sich gab als Worte der Betroffenheit. Die Amerikaner ließen Panzer durch Berlin rollen, aber die stoppten vor der (nunmehr befestigten) Grenze zum sowjetischen Sektor.
Das hätte man mitkriegen können: Die USA hatten der Sowjetunion signalisiert, sie würden stillhalten, wenn Westberlin vom sowjetischen Sektor abgeriegelt würde. Der US-Außenpolitiker Senator Fulbright hatte in einem Interview Moskau geradezu gedrängt, die gefährliche Lage in Berlin doch endlich zu beenden. Er könne es gar nicht verstehen, daß Moskau da nicht einen Riegel vorschiebt. Ja, es stimmt, wenn gesagt wird: An der Berliner Mauer hat der Westen mitgebaut.
Zwar hat der Westen, wie sich erwiesen hat, Weiterlesen

Gedankenlos entschlossen

„Das starke Geschlecht sucht seine neue Rolle“, stand auf dem Cover vom Spiegel der letzten Woche. Muß es denn unbedingt eine Rolle sein?
„Männerdämmerung: Ist das männliche Geschlecht vom gesellschaftlichen Wandel überfordert? Jungen versagen in der Schule, Männer verlieren ihren Job, Kinder wachsen ohne Vater auf. Gesucht wird der moderne Mann.“ (Inhaltsverzeichnis).
Spiegel-1-2013Männerdämmerung? Ich habe viele Männer erlebt, denen nie was gedämmert hat.
In Kindertagen erschien mir die Aussicht, ein Mann zu werden, nicht sehr verheißungsvoll. Die Männer, die ich mit Kinderaugen beobachtete, taugten nicht als Vorbild. In der „jungen“ Bundesrepublik (die doch in Wirklichkeit eine Gerontrokratie war) waren die hauruckmäßigem Durchschnittsmänner unsensibel, empathielos, verständnislos, phantasielos, unerotisch, unmusikalisch, absichtsvoll begriffsstutzig, gedankenlos entschlossen, unfähig, sich leise auszudrücken. Die Fähigkeit zum Mitgefühl war bei denen – gelinde gesagt – unterentwickelt. (Mitfühlende Menschen sind weniger gut verwertbar). Mitgefühl galt als Schwäche, und Schwäche galt als Schande. Sie waren in der HJ und in der Wehrmacht erzogen worden.
„Gelobt sei, was hart macht“ hörte ich aus ihren Mündern oft. Sie lobten und liebten die Unannehmlichkeit. In der Sexualität waren sie verklemmt und grob zugleich, zotig und prüde.
Was mir in Aussicht gestellt war und was anscheinend von mir erwartet wurde, gefiel mir nicht. Auch ich sollte ein „richtiger Mann“ werden. Ich wollte kein „richtiger Mann“ werden, sondern ein echter. Ich sollte „groß und stark“ werden. Ich wollte lieber schlau werden.
In meiner Kinderzeit waren die meisten alten Frauen Witwen – und verängstigt. Sie meinten, es würden nachts immer irgendwelche „Kerle“ ums Haus schleichen. Ja, wenn doch ein Mann im Hause wäre!
Meingott! Sollte es eines Tages meine Aufgabe sein, fortwährend irgendwelche nachts ums Haus schleichenden „Kerle“ in die Flucht zu schlagen?
Zur völligen Verständnislosigkeit meiner Mitwelt machte ich mir nichts aus Schneeballschlachten, Lagerfeuern und gemeinsamen atonalen Gesängen. Die Bücher von Karl May, die ich unbedingt zu lesen hatte, fand ich langweilig. Ich mied jede Rauferei. Ich kletterte nicht auf Bäume, weil die Gefahr des Abstürzens mir bewußt war. Bewußtheit und Bewußtsein war nicht so sehr gefragt während des Wirtschaftswunders. Fassungslos mußte meine Mitwelt mit ansehen, daß ich mich gut mit mir selbst beschäftigen konnte und gern allein war.
Abstoßend erschien mir die Ouvertüre des Mann-Seins: das Militär. Es war ja wieder eine Armee aufgestellt worden. Die Nation mußte ja unbedingt der Welt beweisen, daß sie aus zwei Weltkriegen nichts gelernt hatte.
„Da muß man durch!“ Nein, da muß man nicht durch. Da muß man drumrumkommen. Die Unterbringung im Acht-Mann-Zimmer, diese dampfende „Männerkameradschaft“, und Leuten zu gehorchen, die dümmer sind als ich – das war nicht erstrebenswert.
Stellen wir also fest: Ein „richtiger Mann“ bin ich nicht geworden.
Allerdings: ein „anderer Mann“, einer von den „neuen Männern“, die „das Land braucht“, will ich auch nicht sein.

Anne im Spiegel

Eine Spiegel-Titelgeschichte im Jahr 1971 erregte Aufsehen und hatte langwährende Nachwirkungen. Noch heute werde ich gelegentlich darauf angesprochen, und ich muß zugeben, daß ich an ihrem Zustandekommen nicht ganz unschuldig war.
In dem Buch „Bürgersinn mit Weltgefühl – Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren“ (hg. von Habbo Knoch, Wallstein Verlag, Göttingen 2007) ist ein Beitrag enthalten mit dem Titel „Inszenierung und Authentizität“ von Sven Reichardt. Es geht da um die vom „Spiegel-Reporter Peter Brügge“ verfaßte Spiegel-Titelgeschichte vom 9. August 1971 über den Underground („Flucht aus der Gesellschaft“). Reichardt zitiert mich mehrmals, in den Anmerkungen steht: „Gespräch mit Helmut Loeven in der Duisburger ,Weltbühne‘, 4.11.2006“. In meinem Tagebuch habe ich vermerkt: „Im Laden: Ein Wissenschaftler aus Konstanz, der mich zu der Spiegel-Titelgeschichte von 1971 interviewt“, und ich erinnere mich, daß der sich keine Notizen machte und kein Tonband mitlaufen ließ, sondern sich alles so gemerkt hat – und dann in seinem Aufsatz (ganz anders als damals „Peter Brügge“) auch richtig zitierte.
Es steht dort: „Laut Auskunft von Helmut Loeven handelt es sich bei Peter Brügge um ein Pseudonym von Ernst Hess. Loeven (Jahrgang 1949) ist ehemaliges Mitglied der Duisburger Musikband ,Bröselmaschine‘, war aktiv in der ,Agentur für Alles‘ und ist seit 1968 Herausgeber der Duisburger Underground-Zeitschrift Metzger. Er stellte seinerzeit den Kontakt zum Spiegel-Redakteur her“ – und das war eine meiner schlimmsten Fehlleistungen.


Denn Hess/„Brügge“ hatte die Absicht oder den Auftrag, den kaum auf einen Nenner zu bringenden Underground als „Jugendbewegung 71“ zu banalisieren und als „Flucht aus der Gesellschaft“ umzuinterpretieren und so darzustellen, wie Kleinfritzchen ihn in sein Bild von der Welt hineinflicken kann: daß die Abkehr vom Welt-Bild der Großfritzchens ein illusionärer Wahn sei. So machte er sich auf die Socken, um seine Story mit Namen, Ortsangaben und frei erfundenen Zitaten zu verzieren. Der Kreativzone, in der ich damals zuhause war (informelle Sammelbezeichnung: „Knubbel Afa“) dichtete er einen Webstuhl und eine Töpferwerkstatt an, und die Nähmaschine der schönen Ulrike machte er zur „Hippie-Schneiderei“, und das ganze war dann eine (natürlich – hahaha – unpraktikable) Illusions-Ökonomie.
Der Spiegel-Reporter führte einige Interviews, aber nicht mit den Exponenten, die etwas hätten sagen können. Die meisten seiner Gesprächspartner waren „Randfiguren“. Sie hatten mit der ganzen Sache wenig zu tun. Auch mich zitierte er im Spiegel, ohne allerdings je ein Wort mit mir gewechselt zu haben.
Der „18jährigen Knubbel-Schönheit Anna Block“ (recte: 17 Jahre) legte er die Aussage in den Mund, an Politik nicht interessiert zu sein. Aus Enttäuschung über die Linken habe sie sich entschlossen, „eine Unpolitische zu werden“. Anne (so ihr richtiger Name) erinnert sich nicht, daß sie das gesagt hätte oder irgendetwas gesagt haben könnte, was so hätte interpretiert werden können. In den Jahren seit ihrer Spiegel-Erwähnung hat sie mir unentwegt beteuert: „Das habe ich nicht gesagt!“

Gar nicht unpolitisch: Anne B. (hier ausnahmsweise mal im Mini)

Der Reporter hatte einen Fotografen dabei. Es ging das Gerücht, daß der Anne und ein paar andere Mädchen dazu überredete, sich nackt fotografieren zu lassen. Der brauchte sie gar nicht groß zu überreden, die waren sofort dazu bereit. Das hätte man ja als „demonstrative Verweigerung der bürgerlichen Moral“ oder als „Überwindung falscher Scham“ titulieren können, oder einfach als „schön unanständig“ (Motto: Warum eigentlich nicht?). Ich fand eher, das war Ausbeutung. Die Einwilligung der Mädels war mir unbehaglich.
Demonstrative Verweigerung der bürgerlichen Moral oder Ausbeutung? Oder doch bloß Eifersucht?Daß jemals die Darbietung weiblicher Schönheit vor der Kamera bei mir Mißmut erzeugt haben konnte, lag wohl in dieser speziellen Situation. Anne war meine Freundin gewesen. Wir waren getrennt und hatten uns noch nicht wiedervereinigt. In dieser quälenden Phase meines Lebens war mir eine Gunst entzogen, für deren Erlangung der Fotoreporter nur mit dem Finger zu schnipsen brauchte.
Später, als wir wieder zusammen waren, hat Anne mir bestätigt, was ich hatte läuten hören: „Der Fotograf hat Bilder von mir gemacht. Von meinem nackten Hintern!“
Diese Fotos wurden aber nicht gedruckt. Der Fotograf hielt es noch nicht einmal für nötig, seinem Modell Abzüge der Bilder, die er von ihr gemacht hatte, zuzusenden. Sie werden jetzt wohl in einem Privatarchiv gehütet – als Beutestücke gewissermaßen.
Erstaunlicherweise besitze ich kein einziges Foto von Annes nacktem Hintern. Ich habe unverzeihlicherweise nie ein solches aufgenommen. Aber ich bezeuge: Das ist der schönste Hintern, der je fotografiert wurde!

„Ich sare das!“

Anläßlich es 50. Jahrestages der Spiegel-Affäre
Alle Zuständigen haben ihren Nachruf auf Rudolf Augstein verfaßt. Ich – unzuständig – habe ihnen den Vortritt gelassen, hätte aber auch noch etwas zu bemerken.
Den Spiegel habe ich etwa 15 Jahre lang gelesen, mehr oder weniger regelmäßig. Angefangen habe ich damit, als ich 16 war. Eine Zeitlang hatten wir den Spiegel abonniert, er kam montags morgens mit der Post. Ich habe das Heft im Bett gelesen. Aber man kann doch nicht den ganzen Montag im Bett verbringen, und so blieb das Heft dann halb gelesen liegen, bis das neue kam. Und dann dachte ich immer: Hach, das neue Heft ist schon da, ich muß doch noch das vorige lesen. Und bald darauf: Ich muß doch noch das vorletzte lesen. Und dann kam eine Zeit, in der bei uns das Geld noch knapper war als sonst und noch mehr gespart werden mußte als sonst. Und da wurde das Spiegel-Abonnement abbestellt. Auf diese Weise sollte nicht nur das Konto geschont, sondern auch die permanente Papierzufuhr, die die Wohnqualität zu beeinträchtigen begann, gebremst werden. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob diese Entscheidung richtig war: Konnte ich es mir wirklich leisten, von der Hauptinformationsquelle der deutschen Öffentlichkeit abgeschnitten zu sein? Ich rechnete damit, wegen der in solchen Fällen üblichen Kündigungsfristen noch einige Monate lang die Hefte in Empfang nehmen zu müssen. Aber siehe da: Nach dem Kündigungsbrief kam kein Heft mehr. Das Abonnement war von einer Woche auf die nächste beendet. Und ich stellte fest: Mir fehlte nichts. Keine Umgewöhnung, keine Entzugserscheinungen. Ich konnte ohne Spiegel prima auskommen. Das letzte Heft hatte die Wahl von Ronald Reagan zum US-Präsidenten gemeldet. Und glauben Sie mir: Seit der Wahl von Reagan zum US-Präsidenten habe ich den Spiegel nur noch ganz selten in der Hand gehabt, und zwar im Wartezimmer des Zahnarztes. Aber da komme icg immer schnell dran. Kaum habe ich das Heft aufgeschlagen, ruft die Zahnarzthelferin: „Herr Loeven, kommen Sie bitte.“ Seither assoziiere ich den Spiegel mit dem Bohrgeräusch beim Zahnarzt.
Augstein ist durch sein Geschäft zu einem steinreichen Mann geworden. In Engelmanns „ABC des großen Geldes“ (1985) wird er als Milliardär eingestuft. Immer wenn ich das erzähle, staunen alle. Ich erzähle auch gern, daß ich mal ein Exemplar vom Time-Magazine durchgeblättert und dabei festgestellt habe, daß der Spiegel in seiner Gestaltung bis ins kleinste Detail eine Imitation des Time-Magazines ist (so wie auch Focus eine Imitation von Newsweek ist).
Als die Spiegel-Affäre die Nation erschütterte, war ich 13 Jahre alt. Diese Affäre hatte etwas mit der Bundeswehr zu tun. Was der Spiegel an der Bundeswehr kritikwürdig fand, war nicht ihre überflüssige Existenz, nicht ihre Funktion („Auftrag“), sondern, daß sie nur „bedingt abwehrbereit“ gewesen sei.

Löste die Spiegel-Affäre aus: Heft 41/1962

Selbst das ging zu weit. Was geschah ist bekannt: Augstein im Gefängnis (seine größte Leistung), Strauß abgemeldet (bis er mit Hilfe der SPD in der Großen Koalition wieder an den Kabinettstisch zurückkehren konnte), und aus dem „kritischen Nachrichtenmagazin“ wurde das „Sturmgeschütz der Demokratie“.

Spiegel-Ausgabe 45/1962

In der Tat, es ist nicht übertrieben: Die Spiegel-Affäre von 1962 war der Anfang vom Ende der Adenauer-Ära, oder, wie ich es letztens irgendwo gelesen habe, „der Anfang vom Ende der ersten Bonner Republik“. Aber dafür sollte man nicht dem Augstein einen Orden verleihen, sondern dem Strauß, oder dem Höcherl, und dem Adenauer.
Hermann Höcherl, CSU, damals Bundesinnenminister, war wohl der einzige in dem ganzen Clan, der die ganze Tragweite der Affäre einzuschätzen in der Lage war. Nicht zu beneiden war er, als er vor dem Bundestag Rede und Antwort stehen mußte und Worte sprach, die zu geflügelten Worten wurden: Man könne „nicht ständig mit dem Grundgesetz unterm Arm“ herumlaufen, und die Aktion gegen den Spiegel sei „etwas außerhalb der Legalität“ gewesen. Strauß war der nicht ganz irrigen Ansicht, daß man dem Parlament die Unwahrheit sagen kann, wenn sie einem nützt. Er übersah aber, daß man das dem Rheinländer Adenauer, nicht aber dem dicken Bayern Strauß verzeiht. Bei Adenauer sagte man: „Ja, ja, der alte Fuchs! Hat mal wieder geflunkert.“ Bei Strauß hieß es hingegen: „Der hat das Parlament belogen.“
Wirklich schön war, wie Adenauer sich vor dem Bundestag künstlich aufregte: „Wir haben einen Ab-Grund von Landesverrat in unserem Lande!“ – „Wer sagt das?“  – „Ich sare das!“
P.S.: Der Staatsanwalt, der die Durchsuchung der Spiegel-Redaktion und die Festnahme von Augstein und einigen anderen so bereitwillig leitete, war Siegfried Buback. Der hatte auch einen schönen Nachruf.

*

Dieser Artikel mit der Überschrift „Ich sare das!“ erschien als „Nachtrag zu den Nachrufen auf Rudolf Augstein“ 2003 in DER METZGER Nr. 66. Einige Angaben sind überholt, z.B. das Spiegel-Layout betreffend. Seitdem (mit Ausnahme der neueren Ausgaben) alle Spiegel-Hefte seit 1948 im Internet gelesen werden können, nutze ich das für das Quellenstudium.

Leberwurst. Das Leben der Männer.

(Fortsetzung von gestern)

Daß der Mann immer im Mittelpunkt weiblichen Erlebens stehen muß, beklagte Christa Bernuth im Spiegel als Reduzierung der Handlungsmöglichkeiten in „Frauenromanen“ (siehe gestern). Ob nicht nur derlei Romane, sondern auch das wahre Leben derart reduziert ist, oder anders gesagt: ob Frauen eines gewissen Alters wirklich dauernd nur über Männer reden (über sie herziehen, von ihnen schwärmen oder beides gleichzeitig) weiß ich nicht. Daß der Umkehrschluß nicht zutrifft, weiß ich. Entgegen der weitverbreiteten Annahme von Frauen eines gewissen Alters reden Männer nicht dauernd über Frauen. Sie reden eigentlich nie über Frauen – und über Sex schon mal gar nicht (das tun nur den Mund vollnehmend pubertierende Knaben). Männer, die über Sex reden, gehen damit anderen Männern auf die Nerven. Männer reden auch nicht fortwährend über Fußball und über Autos. Über Autos wird nur geredet, wenn die Karre mal wieder in die Werkstatt mußte oder wenn eine Neuanschaffung ansteht. Über Fußball wird kaum mehr gesagt als etwa: „Kuxe heute abend auch Schalke gegen Intermailand?“ Mehr kaum.
Wenn über Politik geredet wird, wird meistens nicht mehr gesagt als daß „die dat Geld zum Fenster rauswerfen“.
Worüber reden Männer also, wenn sie unter sich sind?
Ein beliebtes Thema ist: der Beruf.
Ein weiteres beliebtes Thema ist: der Urlaub.
Das Thema, worüber Männer sich stundenlang unterhalten können, ist: die alten Bekannten.
„Weisse, wen ich getroffen hab? Den Heinz.“ – „Ach! Wat macht der denn? Is der noch bei Thyssen?“ – „Nä. Der is jetz auch in Rente.“ – „Weisse, wann ich den zum letzten Mal gesehen hab? Beim Geburtstag von dem Kurt. Da war der Herbert doch auch dabei. Der is jetz Oppa geworden.“
So – etwa – verläuft das Leben der Männer.

aus DER METZGER 92 (2010)

Leberwurst. Ein Kult-Seller tauchte mal wieder auf.

Jedes Jahrzehnt bringt seine eigenen Verrücktheiten hervor. Es war in den 80er Jahren, da stürmte ein Trüppchen junger Damen auf dem Sonnenwall in einen „Sex-Shop“, veranstaltete darin allerhand Remmidemmi, beschädigte wohl auch den einen oder anderen Gegenstand.
Ein paar Minuten später nahm die Polizei die Personalien auf.
Die Mädels hatten sich nämlich nicht etwa aus dem Staub gemacht, sondern sich in etwa 40 Metern Entfernung in einem Straßencafé niedergelassen und mit Ausgelassenheit und Lautstärke ihre „Aktion“ gefeiert.
Die sich als „Frauenbewegung“ mißverstanden, waren eigentlich eine Töchterbewegung, und in diesem Fall hatten sie die Redensart vom „Vater Staat“ zu wörtlich genommen. Der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zerfall befindlichen bürgerlichen Familie entstammend, wähnten sie sich sicher, daß kleine und große Dummdreistigkeiten kaum größere Sanktionen nach sich ziehen könnten, als hätten sie zu ihrem taschengeldzahlenden Herrn Papa „Du nervst, Alter!“ gesagt.
Als eine, die ebenfalls meinte, sich alles herausnehmen zu können, erlangte eine Hamburger Pubertätsperpetuiererin namens Svende Merian Berühmtheit. Aus Enttäuschung über einen Liebhaber schmierte sie mit Farbe für alle Welt sichtbar auf ein Fenster seiner Wohnung den Spruch „Hier wohnt ein Frauenfeind“.
Es wäre weniger hochtrabend, dafür zutreffend (aber immer noch strafbar) gewesen, hätte sie mitgeteilt, daß dort einer wohnte, von dem als Liebhaber sie enttäuscht war – wobei dann aber immer noch eine Reflexion darüber gefehlt hätte, ob die Enttäuschung aus dem Angebot des Liebhabers oder aus eigenen falschen Erwartungen resultierte. Aber nein: der Beziehungsknatsch mußte als Weltereignis präsentiert werden. In dem Wahn, alle Frauen der Welt zu verkörpern, erklärte sie als mangelhaft empfundene Zuwendung zur Feindlichkeit und den enttäuschenden Liebhaber zum Feind aller Frauen, etwa nach dem Motto: Was du mir vorenthalten hast, hast du allen Frauen vorenthalten – ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob eine oder alle Frauen das, was ihnen da durch die Lappen gegangen sein mag, überhaupt verlangen können.
Sie hat es aber nicht bei dieser einen Schmiererei belassen, sondern ein Buch geschrieben, dem sie den sinnigen Titel „Der Tod des Märchenprinzen“ gab.
Der „Märchenprinz“ hat allerdings keineswegs den Tod erlitten – weder im wahren Leben, noch hat sie ihre dichterische Freiheit dahingehend genutzt, ihn abweichend vom wahren Geschehen eines fiktionalen Todes sterben zu lassen. Hatte sie eine literarische Abschlachtung im Sinn, einen Ruf-Mord? Seltsam ist der Titel auch deshalb, weil die Autorin, die sich als emanzipiert und progressiv geriert, unfreiwillig Weiterlesen