Vom Löschen des Durstes

Das Fußballspiel zwischen dem Duisburger Spielverein und Eintracht Gelsenkirchen im Wedaustadion, Zweite Liga West, Saison 1962/63, sah ich gemeinsam mit meinem Cousin und meinem Onkel. Ein spannendes Spiel übrigens, das letzte der Saison. Der Gewinner würde in die neugegründete Regionalliga aufsteigen, der Verlierer in die Amateurklasse absteigen. Es ging ruppig zu auf dem Spielfeld, drei Platzverweise, Duisburg gewann 2:1.
In der Halbzeitpause wurde ich auserkoren, drei Coca zu holen. Coca Cola. Mittlerweile bezeichnet man die coffeinhaltige Brause als „Cola“. Damals sagte man zu dem braunen Erfrischungsgetränk schlicht „Coca“, was die konkurrierenden Marken Afri Cola und Pepsi Cola ins Hintertreffen brachte.
Drei Coca also. Man bekam sie an einem Getränkestand für ein paar Groschen, abgefüllt in kleinen Fläschchen aus Weißglas, mit Pfand, wie sich das gehört.
Um den Getränkestand herum standen viele Männer, die alle finster dreinblickten, weil es ja ein spannendes Fußballspiel war. Auch der Getränkemann schaute finster. Viele waren vor mir dran, und ich mußte warten, bis sie alle ihr Getränk bekommen hatten. Es gab nicht nur Cola, sondern noch was anderes.
„Wat willz du?“
„Ne Fanta.“
„Un wat kriss du?“
„Ne Coca – ach nä, gib ma lieber auch ne Fanta.“
Der nächste. „Coca oder Fanta?“
„Ach, gib ma ne Fanta.“
„Fanta“ hörte und sah ich an diesem Tag überhaupt zum ersten Mal. Das mußte wohl sowas ähnliches wie „Bluna“ sein, eine Orangenlimonade. Die Fantafläschchen, genauso groß wie die Colafläschchen, waren bräunlich und ließen darin eine orangefarbene kohlensäurehaltige Flüssigkeit vermuten. Und diese Limonade gewann hier in Windeseile das Wohlgefallen der um ein Erfrischungsgetränk Anstehenden.
„Ach, gib ma keine Coca, gib ma lieber ne Fanta.“
Fanta war der Bestseller des Tages.
„Coca? Nä, laß ma. Gib ma ne Fanta.“
„Nää! Immer dat Coca-Zeug! Gib ma ne Fanta!“
„Richtig!“ rief einer. „Gib ma ne Fanta.“
Irgendwann war ich an der Reihe. Und ich bestellte:
„Drei Coca.“
Alle drehten sich nach mir um. Was war geschehen? Da hatte doch so’n 13jähriger Lümmel am Getränkestand tatsächlich drei Coca Cola bestellt! Wo doch all die deutschen Männer sich gefunden hatten, um tapfer entschlossen zu sein, Fanta zu trinken, weniger um ihren Durst zu löschen, sondern um nicht Coca zu trinken!
Ich, mit der ganzen Schlichtheit meines Gemütes, fand mein Verhalten gar nicht ungewöhnlich. Ich kaufte ein Produkt, das hier angeboten wurde. Ich war in der dezidierten Absicht hierhergekommen, drei Cola zu kaufen, und in dem allgemeinen Aufwallen einer Stimmung sah ich keinen Anlaß, mein Kaufbegehren zu revidieren. Ich tat nichts anderes als das, was ich mir vorgenommen hatte, ohne Rücksicht darauf, daß über die anderen etwas gekommen war, was mir, das spürte ich deutlich, als Fehlverhalten angekreidet wurde, ein „Fehler“ übrigens, den ich im Laufe meines Lebens immer wieder beging.
Ich bekam auch meine drei Coca Cola, niemand legte dagegen Einspruch ein, aber ich meinte, ein unzufriedenes Brummen zu vernehmen. Mit drei Flaschen in zwei Händen bahnte ich mir den Weg durch die Umstehenden, deren Seitenblicke ich als bedrohlich empfand. Ich übertreibe nicht. Immerhin war ich inmitten entschlossener Coca-Verschmäher aus der Reihe getanzt.
Ich hatte, wie auch später in meinem Leben immer wieder, mich von einer nationalen Aufwallung nicht mitreißen lassen, die an jenem Tage Gestalt fand darin, daß deutsche Männer sich dem Zwang widersetzen, nach dem verlorenen Krieg Coca Cola trinken zu müssen. Meine Treue zu der coffeinhaltigen Brause bestätigte den Argwohn, daß mit der „Jugend von heute“ kein Krieg zu gewinnen sei, was – zumindest in meinem Fall – ja auch stimmte und immer noch stimmt.
Die Nachgeborenen werden das kaum verstehen, aber so war das damals wirklich. Es war die Zeit, in der Straßenbahnschaffner nicht Bedienstete eines Dienstleistungsunternehmens waren, sondern zur Obrigkeit gehörten. Der Erwerb einer Eisenbahnfahrkarte nach Kassel war gleichbedeutend mit dem Ersuchen an den Staat, nach Kassel reisen zu dürfen.
In einer Straßenbahn erlebte ich, wie der Schaffner mit seiner Losung „Noch jemand ohne Fahrschein?“ durch den Waggon patrouillierte und einen bestimmten Fahrgast eines Staatsverbrechens verdächtigte: „Hast du einen Fahrschein?“ Dieser Fahrgast, der in jener Zeit die Unverfrorenheit besaß, 15 Jahre alt zu sein, zeigte frohgemut seinen gültigen Fahrschein vor. Daraufhin der Schaffner: „Da hast du aber gerade nochmal Glück gehabt.“
Wem nichts vorzuwerfen war, der hatte „gerade nochmal Glück gehabt“.
Ich habe das erlebt: Ich saß in der Straßenbahn. Es regnete. Die Bahn hielt an einer Haltestelle, wo ein paar Leute in dem Wartehäuschen sich untergestellt hatten. Der Schaffner herrschte die Leute in dem Wartehäuschen an: Sie sollten entweder einsteigen oder weggehen. Das Wartehäuschen ist nicht für alle da, sondern nur für die Leute, die auf die Bahn warten. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder einfach…
Ich habe das erlebt: Ich stand am Schalter im Postamt. Vor mir war einer dran, der wollte 100 Briefmarken zu 10 Pfennig. Der Schalterbeamte: „Wofür brauchen Sie die?“ Er hat dem Mann die Briefmarken nicht gegeben, weil der in einem Akt des zivilen Ungehorsams Weiterlesen

Herbstlicht

HerbstLicht1Die Händelstraße hat in wenigen Tagen die Farbe verändert (vergleiche „Foto zum Zwanzigsten“ unten).
HerbstLicht2Der Herbst hat nicht in jedem Jahr dieselben Farben. In einem früheren Jahr hatten alle Bäume auf der Lotharstraße im Herbst hellgelbes Laub, soweit man schaute. So habe ich das in den Jahren danach nie wieder gesehen. Auch im vorigen Jahr nicht.
HerbstLicht3Auch in diesem Jahr nicht.
HerbstLicht4HerbstLicht5Uni-Gelände.
HerbstLicht6Die Heinestraße ist auch so’ne Gelb-Straße.
HerbstLicht7Erinnern Sie sich an den Kirschbaum im Frühling?
Jetzt ist er errötet.

HerbstLicht8So hab ich das auch noch nie gesehen.
Achten Sie auf sowas? Achten Sie mal auf sowas.

Neu in der Weltbühne: Wiglaf Droste

Wiglaf Droste: Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv. Neue Sprachglossen. Edition Tiamat (Critica Diabolis). 240 S. Klappenbroschur. 14 Euro
DrosteWürdeDer Verlag stellt sein Buch so vor:
Mit Schwung, Grazie und Eleganz seziert Wiglaf Droste die sprachlichen Entgleisungen der Deutschen, den Neusprech aus „Nachhaltigkeit“ und „Transparenz“, in dem „Teamplayer“ und „Goods Flow Mitarbeiter“ gefragt sind, „Apps zum Entdecken von Apps“ aufwendig „kuratiert“ werden und den das Lied eines halbalphabetischen Sängers quasi „im Paket“ zusammenfasst: „Wenn Worte meine Sprache wären“. Droste spürt der „gefühlten Unsportlichkeit“ nach, analysiert die „cremige Fülle“ eines Weins, die „Menschenrechte“ aus dem Hause Hoeneß und einen „sich nach allen Seiten absichernden Mehrzweckjournalimus“, der mit „Jogi“ immer nur Joachim Löw und niemals Jogi Gauck meint.
Im Sprachschlamassel entdeckt Droste aber auch jede Menge Kleinode wie „betropetzt“; wenn Sie wissen wollen, was das zu bedeuten hat, bestellen Sie das Buch…
… in der Buchhandlung Weltbühne (lautet der Satz vollständig).
Denn Sie wissen ja:
Wir besorgen jedes lieferbare Buch. Wir liefern jedes Buch an jeden Ort. Also auch dieses.

Das Buch ist gekommen!

Das dritte Buch der „Herz-Terroristin“ Lütfiye Güzel IST JETZT DA!
Lütfiye Güzel, Trist Olé! Gedichte, DIALOG EDITION Duisburg, 82 Seiten, 10 €
LütfiyeTristOleBestellen Sie dieses Buch in der (Versand-)Buchhandlung Weltbühne. Lassen Sie sich nicht einreden, daß man das genauso gut woanders bestellen kann. Das kann man zwar auch woanders bestellen, aber nicht genauso gut. Weltbühne muß (leistungsfähig) bleiben.
Luetfiye-2013Lütfiye guckt nach: Alle Wörter sind noch da.

Der blaue Engel

Im Eschhaus wurden mittwochs Filme gezeigt. Kneipenkino ist eine interessante Sache. Ich kenne viele Filme teilweise, weil ich dort arbeitete und manchmal nur ab und zu einen Blick auf die Leinwand werfen konnte.
Eines mittwochsabends wurde „Der blaue Engel“ gezeigt, und das schuf eine ganz unwirkliche, geradezu psychedelische Atmosphäre. Man befand sich – sagen wir es ruhig – in einer Kaschemme, und auf der Leinwand zu sehen war eine Kaschemme. Es schien, als würde die Wand sich auftun. Der Film und die Wirklichkeit, in der er vorgeführt wurde, vermischten sich.
Marlene_Dietrich_in_The_Blue_AngelEs gab im Eschhaus einige politische Aktivisten, die jeden Mittwoch die Gelegenheit nutzten, vor dem versammelten Kinopublikum Proklamationen loszulassen, deren Schlußsatz stets begann mit: „Und wir fänden es gut, wenn möglichst viele Leute…“.
Im Anschluß an den „Blauen Engel“ ergriff also Michael van der Wielen (genannt Marinus) das Wort. Im selben Moment wurde ich von Wolfgang Esch angesprochen: „Ich bin mit‘m Auto hier. Ich fahr jetzt. Wenn ich dich nach Hause fahren soll, dann komm jetzt.“
Ich kriegte aber noch mit, was M-Punkt van der Wielen mitzuteilen hatte: In letzter Zeit, sagte er, wären immer wieder „Bullen in Zivil“ im Eschhaus gewesen. Die würden die Runde drehen und sich alles angucken. Dagegen müßten wir was unternehmen, und wir müßten überlegen, was.
Kaum hatte er seine Worte gesprochen, kamen auch promt zwei Herren von der Kriminalpolizei zur Tür herein. Das kriegte ich allerdings nicht mit, denn ich war damit beschäftigt, meine Siebensachen zusammenzuraffen, weil ich ja mit dem Auto mitgenommen werden sollte und der Fahrer auf mich wartete. Der hatte mich gedrängt: „Komm jetzt, sonst fahre ich ohne dich.“
Just in dem Moment, als ich mit der Tasche in der einen und dem Schlüssel in der anderen Hand aus dem Eschhaus-Buchladen gehen wollte, betraten die beiden Graumänner, von denen ich nicht wußte, daß sie Kripomänner waren, den Laden, den sie sicherlich nur allzu gern unter die Lupe genommen hätten. Wir stießen in der Tür fast zusammen.
„Wat? Nix! Nix! Nix! Feierabend. Raus!“ Die beiden Polizisten mußten rückwärts gehen, um nicht von mir über den Haufen gerannt zu werden. Auf Michael van der Wielens Gesicht regte sich der leise Anflug von einem Schmunzeln, was wahrscheinlich höchstens einmal im Jahr geschah.
Daß es sich bei den beiden Herren, die vor mir zur Seite springen mußten, um zwei Beamte der politischen Polizei handelte, habe ich, wie gesagt, erst danach erfahren. Aber das war in den nächsten Tagen im Eschhaus Gesprächsthema: „Hast du gesehen, wie der Loeven die Bullen verjagt hat?“

Demonstration gegen geistige Brandstiftung und Ausgrenzung

Das Duisburger Netzwerk gegen rechts ruft zu einer Demonstration auf.
Hier der Aufruf im Wortlaut:
Gegen geistige Brandstiftung und Ausgrenzung!
Demonstration: Samstag, den 19.10.2013 in Duisburg – Rheinhausen
Treffpunkt: 12.00 Uhr Rheinhausen Bahnhof/Ost
Seit mehr als einem Jahr wird in Duisburg die Diskussion über die Situation der rumänischen bzw.  bulgarischen EU- Bürger geführt. Durch CDU, Teile der SPD sowie der WAZ Medien- Gruppe zeigt diese öffentliche Auseinandersetzung immer wieder ihren rassistischen Charakter. Diese ebnete den Weg für eine progromartige  Stimmung in Teilen Duisburgs, wie wir am vorletzten Wochenende in Duisburg -Rheinhausen und Neumühl erfahren mussten.
Bürger und stadtbekannte Neonazis demonstrierten Hand in Hand auf dem Rheinhausener Markt, um gegen die angebliche Untätigkeit der Behörden zu demonstrieren, die „Vermüllung“ und „Kriminalität“ zuließen. Das es sich hier konkret um die Situation „In den Peschen“, ein von Rumänen/Bulgaren bewohntes Haus handelte, wurde nicht nur durch Bilder auf der Kundgebung deutlich. Offen rassistisch und volksverhetzend wurden Rumänen/Bulgaren am offenen Mikrofon beschimpft, unter Beifall radikaler Neonazis. Veranstaltungsteilnehmer und Anmelder ließen sich auch auf Nachfrage nicht dazu bewegen sich von den Neonazis vor Ort zu trennen. Nachträgliche Distanzierungsversuche sind eine Farce.
Nicht wenig später im Duisburger Stadtteil Neumühl  ereignete sich eine ähnlich beunruhigende Situation: Als die rechtspopulistische Gruppe Pro NRW gegen eine geplante Unterkunft für Flüchtlinge demonstrierte, wurde sie von ca. 200 Anwohnern mit Beifall empfangen und unterstützt. In aggressivster Stimmung sprachen sich die “besorgten Anwohner” in einem offenen Mikrofon gegen das drohende Flüchtlingsheim im ehemaligen St. Barbara Hospital aus. Rassistische Parolen und Drohungen zur Brandstiftung, ob “mit oder ohne Menschen drin”, stießen auf Jubel. Kurz nach der Kundgebung kam es zu einem Vorfall, bei welchem migrantische Jugendliche, welche sich zuvor an den Gegenprotesten beteiligt hatten, von rechten Demonstrationsteilnehmern angegriffen und zum Teil verletzt wurden.
In der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch ereignete sich im Stadtteil Homberg ein Brand in einem  von Roma bewohntem Haus. Die 42 Bewohner des Hauses, unter ihnen 28 Kinder, retteten sich auf das Dach, wobei 17 von ihnen verletzt wurden. Im Laufe des Mittwochnachmittags gab die Polizei bekannt, dass es sich um Brandstiftung gehandelt hat. Dass der Brand einen rassistischen Hintergrund haben könnte, wollen wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausschließen, da es nach den Ereignissen der letzten Wochen und Monate nur noch wenig abwegig erscheint.
In dieser aufgeheizten Atmosphäre wollen wir einen klaren Kontrapunkt gegen diejenigen setzen, die mit der Situation der Einwanderer aus Südosteuropa ihr Süppchen kochen wollen. Die Kriminalisierung der Einwanderer durch Ordnungsbehörden und die Polizei muss sofort beendet werden! Deshalb lautet unser Appell an Politik und Medien in Duisburg:  Es reicht! Übernehmen Sie endlich Verantwortung für die in elenden Wohnverhältnissen und materieller Not lebenden Zuwanderer. Die Duisburger Politik muss unverzüglich den in DU-Bergheim lebenden Menschen, die in völlig überbelegten Wohnungen leben, angemessenen Wohnraum zur Verfügung stellen, um das vorrangigste Problem zu entschärfen und zu lösen. Die Duisburger Politik sollte endlich zur Kenntnis nehmen, dass es sich bei den zugewanderten Menschen um EU-Bürger handelt und diese die gleichen Rechte beanspruchen können, wie alle anderen EU-Bürger auch. Alles andere wäre ein Rückfall in vordemokratische Zeiten.
www.netzwerk-gegen-rechts.org

Hier im Inneren des Landes, da leben sie noch

Ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Kann sein, daß ich noch nicht zur Schule ging. Irgendein Mann war bei uns zu Hause, irgend so‘n Meister oder sowas, irgend so‘n 50er-Jahre-Typ, irgend so‘n Wirtschaftswunder-Heini mit dickem Bauch und Glatze. Der stand im Korridor und verabschiedete sich, und ich stand auch da rum, und mich sehend rief dieser Mann: „Aha, das ist also der Stammhalter!“
Es war mir immer peinlich, wenn ich als Kind von Erwachsenen betrachtet und begutachtet wurde. Man setzte Erwartungen in mich, aber was waren das für Erwartungen? Schon von Kindesbeinen an hatte ich eine Aversion gegen plumpe Jovialität. Aber dieses Zusammentreffen war mir besonders peinlich, ja, ich empfand es als bedrohlich.
Zwar hatte ich kaum eine vage Ahnung davon, was unter einem „Stammhalter“ denn nun zu verstehen ist. „Männlicher Nachkomme“ ist damit zunächst einmal gemeint, das verstand ich schon. Indem man den männlichen Erstgeborenen als „Stammhalter“ tituliert, ist damit implizit gesagt, daß dem männlichen Geschlecht ein besonderer Vorrang gebührt. Und das ist nun etwas, was man Kindern tunlichst nicht einzutrichtern hat! „Stammhalter“ gehört zur selben Wortfamilie wie „Haushaltsvorstand“. Dieser Titel war in den 50er Jahren tatsächlich gebräuchlich. Das war die offizielle Bezeichnung für den Familienvater. Und glauben Sie mir: Damals hatte der Haushaltsvorstand von Haushalt überhaupt keine Ahnung.
Das war die Zeit, in der ich die Erwachsenen reden hörte, daß es so alle 20 bis 25 Jahre Krieg gibt. Das sei nun mal der Lauf der Welt, da war man sich sicher. Erstaunlicherweise aber löste die Aussicht auf einen bevorstehenden Weltkrieg weit und breit kein Entsetzen aus. Diejenigen, die den letzten Weltkrieg (oder sogar auch den vorletzten) selbst miterlebt hatten, ergingen sich lieber in Fatalismus, und sie hielten sich für klug. Das liegt daran, daß diese Untertanen vor dem Krieg weniger Angst hatten als vor den Konsequenzen eines Handelns, mit dem man sich dem, was sie für Schicksal hielten, widersetzt. Umhimmelswillen, was würden die Leute dazu sagen! Dann lieber Krieg! Und in einem solchen Erwartungs-Horizont wird der Titel „Stammhalter“ verliehen. Ich fühlte eine Bedrohung, die ich später bei der Lektüre von Bertolt Brecht ausgedrückt fand: „Mit euren Kindern planen sie jetzt schon Kriege.“
Ich hatte kaum eine vage Ahnung davon, was unter einem „Stammhalter“ denn nun zu verstehen ist. Wie in diesem Begriff das Dasein als ganzes und die Sexualität im besonderen reduziert und funktionalisiert wird, konnte ich natürlich erst später erfassen. Aber schon als Kind spürte ich sehr genau: „Vorsicht! Die haben was mit mir vor!“

Räumungsverkauf

FachgeschaeftDer Räumungsverkauf ist beendet. Die Ware ist raus. Im Inneren des Ladens liegen noch ein paar Einrichtungsteile wie Trümmer herum.
Aus Modelleisenbahnen habe ich mir nie etwas gemacht. Aber auch mir gehen diese Fachgeschäfte verloren, in denen noch Meister ihres Faches wirken (in diesem Fall: eine Meisterin, die auch die Modell-Lokomotiven reparieren konnte).
Neudorf ist das diversifizierteste Viertel in meiner Stadt. Kleinindustrie, Handel, Altbauten und Neubauten, Natur und Asphalt, Vertrautes und Fremdes, der fröhliche Lärm der Stadt und die Ruhe fügen sich zu einer Vielfalt zusammen. Und doch geht auch hier immer wieder was verloren. Es ist schade.
Sackgasse.

Das dritte Buch kommt

Ich will nicht den Tag des Erscheinens abwarten, sondern jetzt schon vorankündigen: Das dritte Buch der „Herz-Terroristin“ Lütfiye Güzel erscheint im Oktober (und der Oktober hat schon angefangen):
Lütfiye Güzel, Trist Olé! Gedichte, DIALOG EDITION Duisburg, 82 Seiten, 10 €
LütfiyeTristOleWenn man den accent aigue wegläßt, dann heißt es „Tristole“, und das klingt nach einem poetischen Schießeisen. Fürchtet den Zorn der Traurigen!
Um Vorbestellungen wird gebeten – auch zum versandkostenfreien Versand – in der
Buchhandlung Weltbühne
Gneisenaustraße 226, 47057 Duisburg,
bestellungen@buchhandlung-weltbuehne.de)
Auch die beiden ersten Bücher Herzterroristin und Let’s go Güzel liegen hier noch abholbereit oder versandbereit.

Neu in der Weltbühne: George Martin erinnert sich

Es wird erzählt (und es ist wohl auch wahr), daß der Manager Brian Epstein kein Glück hatte, als er versuchte, seine Band „The Beatles“ bei der Plattenfirma Decca unterzubringen. Diese Musik, meinte man bei Decca, hätte keine Zukunft. (Die Decca-Fritzen brauchten diese Fehlentscheidung des Jahrhunderts nicht lange zu bereuen, denn bald darauf konnten sie die Rolling Stones unter Vertrag nehmen).
Die Jahrhundert-Fehlentscheidung von Decca erwies sich allerdings für die Beatles und für die Freunde guter Musik als Jahrhundert-Glücksfall. Denn dadurch trafen die Beatles bei EMI mit George Martin zusammen. Was wir als Beatles-Musik kennen, wäre ohne diesen erfahrenen, sachkundigen und experimentierfreudigen Produzenten nicht möglich gewesen.
George_MartinVon dem heute 87jährigen George Martin (Foto) gibt es jetzt ein Buch:
Es begann in der Abbey Road. Der geniale Produzent der Beatles erzählt. Hannibal Verlag. 340 Seiten, 24,99 €.
Wie ich hörte, soll die Zusammenarbeit mit den Beatles nur gut die Hälfte des Buchinhaltes ausmachen, da noch viel mehr zu berichten war.
GeorgeMartinBuchCoveBestellen Sie dieses Buch in der (Versand-)Buchhandlung Weltbühne. Lassen Sie sich nicht einreden, daß man das genauso gut woanders bestellen kann. Das kann man zwar auch woanders bestellen, aber nicht genauso gut. Weltbühne muß (leistungsfähig) bleiben.
Sollten Sie jedoch zu den Suppenkaspern gehören, die Bücher grundsätzlich nur über Amazon bestellen, dann seien Sie wenigstens so einsichtig, über den Link ganz unten auf dieser Seite bei Amazon einzutreten, damit die Weltbühne dann die 5 % Provision einkassieren kann.

Foto: Wikimedia Commons

Die Anekdote am Samstag oder Die schöne Jane

Sonntag der Bundestagswahl 1976. In Ruhrort ist wieder Flohmarkt. Danach will ich noch wählen gehen.
Auf dem Flohmarkt trifft man viele Bekannte. Eben hat sich die schöne Jane vor meinen Stand gestellt und begrüßt mich freundlich. Neben ihr steht eine sehr adrette Dame, die ihren Blick über meinen Tisch schweifen läßt und das alles nicht auf Anhieb zu verstehen scheint.
„Jane,“ frage ich, „hast du heute schon gewählt?“
„Ja, hab ich.“
„Hast du auch richtig gewählt?“
„NPD!“
Natürlich hat die schöne Jane nicht NPD gewählt. Ich weiß, daß sie immer ganz links wählt. Die will mich nur ein bißchen foppen.
„Paß bloß auf!“ sage ich. „Ich leg dich gleich übers Knie!“
Jane lacht vergnügt und schaut mich mit strahlenden Augen an.
Die adrette Dame entfernt sich und denkt: „Aus diesen langhaarigen Typen werde ich überhaupt nicht schlau.“