Der Bahnhof Langendreer ist eigentlich & zweifellos eine gute Adresse!
Doch ist nie jemand gefeit vor dem Dilemma zwischen gerechtem Schweigen und ungerechtem Verschweigen.
Konkret: Der Vorwurf des Antisemitismus dient sehr (!) oft gar nicht dem Zweck, den Antisemitismus zu bekämpfen und zu besiegen, sondern anderen, unlauteren Zwecken der Verdrängung.
Ich zitiere aus DER METZGER Nr. 145 (Juli 2022):
Die ebenso zwangsläufige wie instrumentalisierte Empörung über fragwürdige Ausstellkungsstücke auf der Kasseler Documenta XV läßt Nebenwirkungen sichtbar werden. Ich werde den Eindruck nicht los, daß es denen, die bei der Verurteilung antisemitischer Bildelemente einander das Wort erteilen, vor allem darum geht, auf der sicheren Seite anzulangen.[…]
Der Bildserie Guernica Gaza des palästinensischen Künstlers Mohammed Al-Hawajri wird Antisemitismus vorgeworfen: Denn er setze das Vorgehen der israelischen Armee im von der Hamas regierten Gazastreifen mit dem Vorgehen der Legion Condor im spanischen Bürgerkrieg gleich: 1937 wurde dabei die baskische Stadt Guernika durch einen Luftangriff zerstört. Picasso schuf daraufhin sein Gemälde Guernica.
Das hat man oft gehört: Israel in der Nachfolge derer, die die Juden ausrotten wollten. So schleicht sich mit Unschuldsmiene der Antisemitismus in den Diskurs. Aber ist das Thema damit erledigt? Der als „Politikwissenschaftler“ vorgestellte Stephan Grigat sprach von einem „Parade-Beispiel für einen Israel-bezogenen Antisemitismus“. Schade, daß ihm sonst nichts dazu einfällt.
Das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi wurde wegen seines großformatigen dreiteiligen Banners mit dem Titel People’s Justice kritisiert, weil darauf unter anderem eine Figur dargestellt ist, die eine „Art ‚Judenhut‘ mit SS-Runen … Schläfenlocken, blutunterlaufene Augen, spitze Zähne und eine krumme Nase“ hat. Ebenfalls gezeigt wird auf dem Bild ein Soldat mit Schweinsgesicht, der „ein Halstuch mit einem Davidstern und einen Helm mit der Aufschrift ‚Mossad‘“ trägt. Das Kollektiv zeigte sich überrascht, aber auch nicht uneinsichtig und hat sich mittlerweile mehrfach entschuldigt. Es sieht ein, daß diese „Bildsprache im historischen Kontext Deutschlands eine spezielle Bedeutung bekommen“ habe. Es ist ernüchternd, daß die Shoah sich noch nicht auf der ganzen Welt herumgesprochen zu haben scheint, noch nicht einmal bei Künstlern, die sich als progressiv verstehen. Das ist ein immer noch nicht aufgearbeitetes Defizit. Antiimperialismus und Antifaschismus als untrennbare, identische Zielsetzungen zu verbinden muß erst noch gelingen!
Das Bild „Peoples Justice“ („Gerechtigkeit des Volkes“) entstand vor 20 Jahren, in der „Reformasi-Ära“, kurz nachdem die Schreckensherrschaft des Diktators Suharto beendet war.
„Um 1998 herum haben sich viele aktivistische Künstlerkollektive in Indonesien gegründet. Es ging um eine politische und gesellschaftliche Neuorientierung“, sagt Vanessa von Gliszczynski vom Museum der Weltkulturen in Frankfurt. „Daß Suhartos Regime und seine Hetzjagd auf Kommunisten und Kommunistinnen von der westlichen Welt – auch von Israel, aber auch unter anderem von der Bundesrepublik Deutschland – unterstützt wurde, ist kein Geheimnis.“ Taring Padi erklärt, es habe versucht, „die komplexen Machtverhältnisse aufzudecken“ die im Massenmord an 500.000 Menschen in Indonesien Mitte der 60er Jahre gipfelten. So sind neben Mossad auch der australische Geheimdienst ASIO und der britische MI-5 als Schreckensfiguren abgebildet. Thema ist, kurz gesagt, eines der scheußlichsten Verbrechen des Westens nach 1945.
Dieses Anliegen ist berechtigt und zu fördern. Aber das darf nicht in einer solchen Bildsprache geschehen. Das ist nicht weniger dumm als wenn auf Bildern dem Putin oder der Merkel Hitler-Bärtchen gemalt werden. Als Krickeleien auf Plakaten bei Dummdeutsch-Demos ist sowas eine lästige Albernheit. Auf einer Weltausstellung der Kunst ist das ein Desaster.
Aber so wie man unter dem Vorwand, dem Antisemitismus entgegenzutreten, den Antimilitarismus verleumdet, kann man auf dieselbe Art das lästige Thema Dritte Welt argumentlos entsorgen.
Aus: Lina Ganowski: Von der Dämlichkeit im Fortschritt und die Misshelligkeiten des Lebens so ganz im Allgemeinen. DER METZGER Nr. 145 Seite 16.