Sahra Wagenknecht und die Lare

Weil ihr Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ vorgestellt wurde, hat Sahra Wagenknecht mit Peter Gauweiler zusammen auf einem Podium gesessen. Gauweiler rühmte sich als der Erfinder des Slogans „Freiheit statt Sozialismus“. Er sagte, es gehe in dem Buch sehr präzise um Investmentbanking, und das sei „organisierter Kundenverrat“. Was er seinerzeit vor dem Kommunismus retten wollte, werde nun in diesem Buch verteidigt: jene sozialen Rechte, die von allen Regierungsparteien, vor allem von der SPD, in den letzen 15 Jahren beseitigt wurden. Sahra Wagenknecht habe, ideologisch aus einer anderen Galaxis kommend, „das genau erfaßt“.
„In der Analyse waren zwischen dem CSU-Mann und der Linken-Politikerin keine Differenzen erkennbar“, berichtete die Junge Welt von der Diskussion. „Differenzen tauchten eher am Rande auf.“
Sahra Wagenknecht wird zitiert: Ihr Anliegen sei es gewesen, „die Bundesrepublik an ihren eigenen Ansprüchen zu messen“. Es gehe nicht um ein Zurück in die 50er, als soziale Rechte von einer starken Arbeiterbewegung und aus Angst vor dem realen Sozialismus erreicht wurden, wohl aber darum, die „radikale Zerschlagung“ in den 80er und 90er Jahren zu thematisieren. Ludwig Erhards Losung „Wohlstand für alle“ sei angesichts der heutigen bundesdeutschen Realität „revolutionär“.
Ludwig Erhards Losung ist keineswegs revolutionär, sondern demagogisch. Zu Unrecht gilt er als „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“. Denn die sozialen Zugeständnisse, die der „Rheinische Kapitalismus“ enthielt (z.B. die Montanmitbestimmung) hat Adenauer gegen Erhards Widerwillen durchgesetzt. Der Alte tat das nicht aus sozialer Überzeugung, sondern aus machtpolitischer Klugheit – etwa nach dem Motto: Man muß auch mal nachgeben, wenn man etwas erreichen will. Wir müssen nicht nur unsere eigenen Schäfchen ins Trockene bringen. Die anderen müssen auch was davon haben, dann haben wir weniger Schwierigkeien.
Darauf sollte man Sahra Wagenknecht erinnern, damit sie ihrer Analyse noch den Satz hinzufügen kann: „Die Lare war noch nie so ernst!“

Der Opa von Neudorf

An der Ecke Gneisenaustraße/Finkenstraße steht der Opa von Neudorf und hält sein Fahrrad fest.
„Et rechnet“, sagt er betrübt. „Heute is doch Siebenschläfer. Wenn et an Siebenschläfer rechnet, dann rechnet et sieben Wochen lang.“
Und dann fügt er hinzu: „Dat is son alter Aberglauben. Der paßt nich mehr in unsere moderne Zeit rein.“

Encore: „Da sollte man hingehen!“

lesungchladaguzelNochmal: Dienstag, 2. Juli 2013 um 19.30 Uhr in der „Spinatwachtel“ in Duisburg-Hochfeld, Eigenstraße 42 die Lesung „Let’s go underground“ mit den METZGER-Autoren
Lütfiye Güzel und Marvin Chlada.
Bitte beschweren Sie sich nicht, daß Ihnen an zwei Tagen dasselbe mitgeteilt wird. Im Werbefernsehen wird ein Spot ja auch nicht nur einmal gesendet und dann nie wieder. Und das hier ist ja auch manchmal sowas wie Werbefernsehen (allerdings der ganz anderen Art).
Gründe sind:
1. Manchen Leuten muß man alles zweimal sagen (Ihnen nicht, aber anderen).
2. (entscheidend): Ich habe dieses NOCH SCHÖNERE Foto gefunden. Das muß auch noch rein!

Wer zu spät kommt, den belohnt der Deutsche Taschenbuchverlag

Das Buch
Freiheit statt Kapitalismus: Über vergessene Ideale, die Eurokrise und unsere Zukunft von Sahra Wagenknecht
wollten Sie immer schon bestellen, haben es aber immer wieder auf die lange Bank geschoben, die Bestellung an die Buchhandlung Weltbühne abzuschicken?
Dann können Sie sich darüber freuen, daß jetzt die viel billigere Taschenbuchausgabe bei dtv erschienen ist (12,90 Euro).
Bestellen Sie dieses Buch in der Buchhandlung Weltbühne, denn die Buchhandlung Weltbühne will & muß überleben. Lassen Sie sich nicht einreden, daß man das genauso gut woanders bestellen kann. Das kann man zwar auch woanders bestellen, aber nicht genauso gut.
WagenknechtSchaufensterDa steht sie jetzt im Schaufenster. Nein, nicht sie, sondern ihr Buch. Und daneben noch eins.

Die Kö am Samstag

KoenigstrasseJusos in der SPD.
Ich ging vorgestern nichtsahnend die Königstraße entlang, und da waren Infostände angesammelt wie noch nie. Die ersten 200 Meter hatte die evangelische Kirche für sich in Beschlag genommen. Ein evangelischer Infostand nach dem anderen: Diakonisches Werk, Bank für Kirche und Diakonie, evangelisches Hilfswerk, evangelische Gemeinde, evangelische Frauen, evangelische Jugend, Kirchenkreis Nord, Kirchenkreis Süd, Kirchenkreis Mitte.
Und darum las ich erst: Jesus in der SPD.

Liebe unbekannte Infratest-Befragerin!

Das Telefon klingelt, nach acht Uhr abends. Das ist ungewöhnlich. Ein Anruf ist mir nicht willkommen. Ich nehme ab. Eine Frau meldet sich.
„Mein Name ist [vergesse ich leider sofort] von Infratest-Dimap. Haben Sie eine halbe Stunde Zeit, ein paar Fragen zu beantworten?“
„Ja, einen Augenblick bitte. Ich muß nur den Herd ausstellen, sonst brennt mein Essen an. – – – – – – – So, da bin ich wieder.“
„Was gibt es denn heute?“
„Ist das schon Teil der demoskopischen Erhebung? Ochsenschanzsuppe aus der Dose. Verraten Sie mich nicht, daß ich heute so phantasielos walte in der Küche.“
Es ist eine zweite Befragung. Vor einem Jahr wurde ich schon mal befragt. Sie weiß also, daß ich „selbständig“ bin und eine Buchhandlung betreibe. Ob das immer noch gültig ist? Ja.
Ruhig und zügig, ohne hektisch zu werden (also: geduldig) stellt sie ihre Fragen. Wodurch ich mir diese und diese und jene und jene Fertigkeit angeeignet habe? Durch Ausbildung, Fortbildung, aus der Praxis? Ich antworte: aus der Praxis. Dreißig mal hintereinander gebe ich dieselbe Antwort: aus der Praxis. Ich mache auch kein Hehl daraus, daß ich das ganze neumodische Effektivierungs-Tralala für Schaumschlägerei halte. Manchmal lacht sie sogar. Mit der Zeit wird immer öfter gelacht in unserem Gespräch.
Welche Fähigkeit (oder Eigenschaft) sei für die Ausübung meines Berufs besonders erforderlich? Ich antworte: eine fundierte Allgemeinbildung.
Was sich in dem Jahr seit der ersten Befragung verändert (entwickelt) hat, läßt sich nicht so einfach statistisch beantworten. Meine Antworten passen nicht so recht in so ein demoskopisches Ständig-häufig-selten-nie-Schema. Ich bin bestimmt kein leichter Interviewpartner, und es ist kaum möglich, mich in eine Statistik hineinzuwickeln. Das sage ich auch: Ich kann nur für mich sprechen. Ich bin überhaupt nicht repräsentativ. Spezifik der Branche? Neinnein, so meine ich das nicht. Auch innerhalb der Branche bin ich nicht repräsentativ. Da gibt es Phänomene, für die ich nicht zu haben bin. Ich nenne ein Beispiel:
„Den Sarrazin werden Sie bei mir nicht kriegen.“
„Den will ich auch gar nicht haben.“
„Sie verstehen mich. Sie machen mich glücklich!“
Und sie hat so eine schöne Stimme! Sie streichelt mich mit ihrer Stimme, als sie ruhig und zügig, ohne hektisch zu werden (also: geduldig) ihre Fragen stellt. Ob ich diese Tätigkeit in fünf Jahren noch ausüben werde, will sie noch wissen.
„In fünf Jahren bin ich zwar schon im Rentenalter. Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß ich dann noch im Ring stehe.“
„Also, so wie Sie sich anhören, würde ich Sie für viel jünger halten.“
Der demoskopische Flirt hat viel länger gedauert als geschätzt: eine ganze Stunde. Zum Schluß sagt sie: „Das waren meine Fragen. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Sie haben – nicht immer, aber im ganzen – geduldig geantwortet. Und seien Sie nicht so pessimistisch, hören Sie? Männer wie Sie – – – die brauchen wir noch!“

Gegen Atomwaffen!

Eben, vor einer Minute, kam ein Anruf vom Duisburger Friedensforum (Sieh an!). Für die Protestaktion gegen Atomwaffen in Büchel am 11. und 12. August will das Friedensforum hier mit einem Flugblatt werben und fragt an, ob mein Artikel, den ich für die DFG-VK geschrieben habe (2007) dafür nachgedruckt werden darf.
Selbstverständlich!
Der Text geht so:

Das Zeitalter der Atombombe ist noch nicht beendet

Am 6. August 1945 zerstörte eine amerikanische Atombombe die japanische Stadt Hiroshima. Am 9. August 1945 wurde die zweite Atombombe über der japanischen Stadt Nagasaki abgeworfen. Durch die beiden Atomexplosionen kamen mehr als 100.000 Menschen ums Leben. In den Jahren danach – bis heute – haben die radioaktiven Spätfolgen vielen Menschen Krankheit und Leid gebracht, noch tausenden das Leben gekostet.
Mit dem Einsatz dieser fürchterlichen Waffe endete der Zweite Weltkrieg, und es begann ein neues Zeitalter. In den Jahrzehnten nach 1945 schwebte die Gefahr eines Atomkriegs als ein Damoklesschwert über der Menschheit.
Mit den Atombombenabwürfen – so wird gesagt – sollte der Zweite Weltkrieg zu einem schnelleren Ende geführt werden, und es sollte das Risiko einer verlustreichen US-Invasion in Japan vermieden werden. Doch der eigentliche Grund verbirgt sich dahinter: Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland fiel die Anti-Hitler-Koalition, in der die Großmächte USA und Sowjetunion verbündet waren, auseinander. Die beiden Länder, die gegensätzliche Gesellschaftssysteme verkörperten, wurden zu Gegnern. Mit der Atombombe wollten die USA ihre Überlegenheit signalisieren. In Hiroshima und Nagasaki begann der Kalte Krieg.
Der Glaube, mit der Bombe ein politisches und militärisches Druck- und Drohmittel zur Durchsetzung ihrer weltpolitischen Ziele in der Hand zu haben, ließ die US-Administration eine Politik der Friedenssicherung durch Verhandlungen zugunsten einer „Politik der Stärke“ zurückstellen. Mit der oft beschworenen „sowjetischen Gefahr“ war immer die Infragestellung des Hegemonialanspruchs der USA und der Zukunftsperspektiven des kapitalistischen Gesellschaftssystems gemeint. Die US-Strategie der „Eindämmung“, des „Roll Back“ und der „Massiven Vergeltung“ basierte auf dem Atomwaffenmonopol der USA. Sie gründete sich auf die Voraussetzung, daß ein termonuklearer Krieg möglich, vorstellbar und vertretbar ist und daß er im klassischen Sinn gewonnen und verloren werden kann. Zu diesem Zweck wurde, erst recht nachdem die USA nicht mehr allein über Atomwaffen verfügten, die Atomwaffentechnologie weiterentwickelt: durch Atombomben-Flugzeuge mit großer Reichweite, durch mit Atomwaffen ausgerüstete U-Boote, durch Militärstützpunkte, Mittelstreckenraketen, Marschflugkörper, Interkontinentalraketen und schließlich durch das Programm der Weltraumrüstung SDI.
Die Bundesrepublik Deutschland wurde zum Vorposten der US-amerikanischen Atomstrategie. Allein die in der BRD stationierten Atomwaffen hätten ausgereicht, die gesamte Menschheit auszulöschen. Einigen Politikern reichte das nicht. Sie wollten die BRD selbst zur Atommacht machen. 1957 wurde die Frage der Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen von der Bundesregierung aufs Tapet gebracht. Der seinerzeitige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß damals: „Ein Verzicht auf Kernwaffen unter den gegebenen Umständen … würde militärisch eine Preisgabe Europas an die Sowjetunion bedeuten.“
1958 heißt es in einer Entschließung des Deutschen Bundestages, es sei notwendig, „daß die Streitkräfte der Bundesrepublik mit den modernsten Waffen so ausgerüstet werden, daß sie den von der Bundesrepublik übernommen Verpflichtungen im Rahmen der NATO zu genügen vermögen.“ Als 1968 der Atomwaffensperrvertrag abgeschlossen wurde, weigerte sich die Bundesregierung lange, diesem Abkommen, das die Weiterverbreitung von Atomwaffen einschränken sollte, beizutreten.
Der Kampf gegen die atomare Aufrüstung in den 50er und 60er Jahren war der Ausgangspunkt der Ostermarschbewegung, der Friedensbewegung, der Außerparlamentarischen Opposition und der systemkritischen Linken in unserem Land.
Mit dem Ende der Systemauseinandersetzung ist die Gefahr eines Atomkrieges keineswegs beseitigt. Heute verfügen mehr Länder über Atomwaffen als je zuvor, einige weitere Länder streben danach. Im Dauerkonflikt im Nahen Osten könnten Atomwaffen schon bald eine Rolle spielen.
In den sechs Jahrzehnten des „Atomzeitalters“ haben sich die USA stets geweigert, einem Abkommen beizutreten, das die Atombombe ächtet. Sie haben sich stets geweigert, sich zu verpflichten, Atomwaffen nicht als erste einzusetzen und nicht gegen Länder einzusetzen, die ihrerseits nicht über Atomwaffen verfügen und die USA nicht mit Atomwaffen bedrohen. Die USA beanspruchen für sich, Atomwaffen wann und gegen wen einzusetzen, wie es ihnen opportun erscheint. Der US-Kongreß beschloß, „das Sicherheitsdispositiv im gesamten Nuklearwaffenprogramm neu zu beleben und das Bekenntnis der Nation zur Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeiten der Vereinigten Staaten zu erneuern“.
Das Atomzeitalter ist nicht beendet. Der Kampf gegen die Atombombe kann daher auch nicht beendet sein.

„Wir fordern die Einstellung des Verfahrens gegen Lothar König“

Pressemitteilung (17.6.2013) von NSU Watch zum NSU Prozeß – Solidarität mit Lothar König

Nebenkläger und ihre Anwälte erklären sich solidarisch mit dem angeklagten Jenaer Jugendpfarrer Lothar König

Derzeit findet vor dem OLG München das sog. NSU-Verfahren gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte statt. Der NSU hat sich selbst zu 10 Morden und zwei Sprengstoffanschlägen bekannt. Möglicherweise gab es jedoch noch mehr Anschläge, die durch den NSU und sein Umfeld verübt wurden.
Seit Beginn der Hauptverhandlung sitzen wir im Saal 101 des Justizzentrums München fünf Angeklagten gegenüber, denen vorgeworfen wird, Mitglieder oder Unterstützer des NSU gewesen zu sein. Vier von den Angeklagten stammen aus Jena, einer aus Sachsen. Allen ist gemeinsam, dass sie aus einer neonazistischen Szene stammen, die sich in den neunziger Jahren in Jena und an anderen Orten radikalisierte. Die Ideologie dieser  Szene war geprägt von einem gewalttätigen und mörderischen Rassismus, dem seit 1990 mehr als 150 Menschen zum Opfer fielen.
Parallel zum NSU-Verfahren findet vor dem Dresdner Amtsgericht ein Verfahren gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König statt. Lothar König ist seit den 1980er Jahren Jugendpfarrer in der Jungen Gemeinde in Jena. Er hat zu einer Zeit, zu der die Mehrheit noch weggesehen hat, wenn rassistische und rechtsextremistische Übergriffe stattgefunden haben, hingesehen, seine Stimme erhoben und Widerstand gegen die erstarkende neonazistische Szene geleistet. Die Junge Gemeinde Jena war und ist immer ein Zufluchtsort für diejenigen gewesen, die nicht in das Weltbild der Neonazis passen und die jederzeit mit gewalttätigen bis mörderischen Übergriffen rechnen mussten. Die Junge Gemeinde und Lothar König wurden mehrfach in den neunziger Jahren u.a. von der Kameradschaft Jena, zu der auch die Angeklagten und Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gehört haben sollen, massiv angegriffen. Carsten S. hat in der Verhandlung nun ebenfalls gezielte Aktionen gegen die JG in Jena und ihren Jugendpfarrer bestätigt.
Lothar König war auch im Februar 2011 in Dresden, um gegen den dort stattfindenden Neonaziaufmarsch zu protestieren. Nun wird ihm von der Staatsanwaltschaft Dresden aufwieglerischer Landfriedensbruch vorgeworfen.Über seinen Lautsprecherwagen soll Lother König angeblich zu Gewalt gegen Polizeibeamte aufgerufen haben. Alles was wir über das Verfahren bisher wissen, ist, dass die Anklage auf Unwahrheiten und Unterstellungen seitens Polizei und Staatsanwaltschaft basiert. Deshalb hat es für uns den Anschein, dass Lothar König eigentlich sein antifaschistisches Engagement vorgeworfen wird. Wir wissen, dass, wenn sich mehr Menschen wie Lothar König schon damals den Neonazis in den Weg gestellt hätten, die Morde und Anschläge des NSU hätten verhindert werden können.
So wie Lothar König damals und heute solidarisch war und ist mit denjenigen, die nicht in das rechtsextremistische und rassistische Weltbild der Neonazis passen, so erklären wir uns heute solidarisch mit Lothar König.
Wir fordern die sofortige Einstellung des Verfahrens gegen Lothar König.

Antonia von der Behrens, Thomas Bliwier, Yvonne Boulgarides, Christina Clemm (auch für ihre Mandantin) , Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler, Doris Dierbach, Carsten Illius, Alexander Kienzle, Edith Lunnebach, Yavuz Narin, Elif Kubasik, Ergün Kubasik, Gamze Kubasik, Angelika Lex, Ogün Parlayan, Eberhard Reinecke (auch für seine Mandanten), Sebastian Scharmer, Reinhard Schön (auch für seine  Mandanten), Peer Stolle, Angela Wierig

Jasmin

Der Jasmin gehört zu meinen Lieblingen. Vor ein paar Jahren wurden in den Anlagen viele Jasminsträucher gepflanzt. Das war eine gute Idee. Einige dieser Sträucher sind prächtig gewachsen, drei oder vier Meter hoch.
Mein täglicher Weg führte an einem Jasminstrauch vorbei. Im Frühsommer blühte er. Die weißen Blüten zwischen den dunkelgrünen Blättern ergaben ein prachtvolles Bild, betont durch den bittersüßen Duft, den sie verströmten.
Vor ein paar Jahren wurden die Sträucher auf dem Mittelstreifen der Gneisenaustraße gestutzt (Ordnung muß sein). Die Folge war, daß andere, schneller wachsende Sträucher den Jasmin überwucherten. Das städtische Gewächsbeaufsichtigungsamt hatte mir die frühsommerliche Freude an „meinem“ Jasminstrauch genommen.

Jasmin1Auch Gewächse haben einen Lebenswillen. Der Jasminstrauch auf der Gneisenaustraße hat sich – jedenfalls auf die Dauer – nicht unterkriegen lassen. In diesem Jahr zeigte er wieder Blüten.
Während an Jasminsträuchern an anderen Stellen die Blütezeit zu Ende geht und sie die weißen Blütenblätter unter sich ausbreiten (Bild oben), sind an „meinem“ Strauch die Blüten jetzt erst aufgegangen.

Jasmin2Der Strauch mag nicht der prächtigste und blütenreichste seiner Art sein, hat aber seine eigene Kraft. Während ich bei den anderen Sträuchern mit der Nase dicht an die Blüten herangehen muß, weht mir bei ihm schon aus einigen Metern Entfernung dieser bittere, giftig-süße Duft entgegen, der mich betört.

Jasmin3
P.S.:
HolunderVon derselben Stelle aus gesehen: Der Hulunderstrauch mit seinen weißen Blütenständen (vor dem fast stets geschlossenen Sonnenschirm). Da wurden bis auf zwei Meter Höhe die Zweige abgeschnitten, damit die Holunderblüten dem Verbeigehenden bloß nicht zu nahe kommen! Sackgasse.

Brief aus Istanbul

Gestern erhielt ich eine E-mail vom Verlag Assoziation A:
Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Ereignisse in Istanbul sind dramatisch: Gestern Abend wurde mit enormer Brutalität der Gezi-Park geräumt. Gleichzeitig werden wir Zeugen einer neuen und einzigartigen Protestbewegung in der Türkei, der unsere volle Solidarität gehört.
Aus Istanbul erreichte uns ein Brief von Tayfun Guttstadt, der eindrucksvoll von den Geschehnissen berichtet und ein plastisches Bild der Protestbewegung in ihrer Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit zeichnet. Gerne leiten wir ihn weiter. Der Autor ist damit einverstandnen, dass er – gekürzt oder ungekürzt – weiter verbreitet und benutzt, zitieret oder abgedruckt wird.

Hier, ohne Kommentar, der Wortlaut:

Brief aus Istanbul – Bericht vom Taksim-Platz
von Tayfun Guttstadt
Ich dachte, es interessiert vielleicht den einen oder anderen, was ich in drei Tagen in Istanbul so mitbekommen habe.
Ganz kurz die Hintergründe: Die AKP von Erdogan ist seit über zehn Jahren Regierungspartei und hat bei den bisherigen drei Wahlen jedes Mal einen Stimmenzuwachs verzeichnen können, bei der letzten Wahl satte 47 % (!) der zählenden Stimmen. Da die Mindestgrenze (in Deutschland die „5%-Hürde“) mit 10 % relativ hoch liegt, kann man wohl davon ausgehen, dass der absolute Anteil so um die 30-35 % liegt. Aber das ist eine Schätzung.
Jedenfalls ist in den zehn Jahren viel passiert: Die Türkei hat sich durch eine radikal neoliberale Wirtschaftspolitik (kennen wir ja auch spätestens seit Schröder sehr gut: Deregulierung, mehr Markt, privatisieren, privatisieren, flexible Arbeitskräfte schaffen …) in eine Art Wirtschaftswunderland verwandelt. Es wird überall investiert, […] die Folgen sind jedoch überall sichtbar: Naturzerstörung ohne Ende (wirklich in erschreckenden Ausmaßen), riesige Projekte (z.B. die größte Brücke ihrer Art über den Bosporus und den größten Flughafen der Welt in der Nähe von Istanbul).
Gleichzeitig hat die AKP langsam aber sicher viele der Symbole und Standbeine der alten kemalistischen, nationalistischen Elite abgerissen, verhaftet, verkauft oder übermalt, was mich persönlich nicht weiter stört, in manchen Fällen gar freut (z.B. die Verhaftung der Foltergeneräle, die für die Putsche in den letzten Jahrzehnten und die damit verbundenen Morde und Folterungen – es geht um Zehntausende – verantwortlich sind).
Ein weiterer revolutionärer Schritt war das Friedensabkommen mit der PKK (seit ein paar Monaten gab es keinen einzigen Toten, weder auf der Seite des Militärs noch auf der der PKK). Unter der AKP wurden auf dem Gebiet der Kurdenfrage einige Fortschritte erzielt, doch dies ging den Nationalisten, vornehmlich im Westen und Norden der Türkei zu weit: Plötzlich wähnten sie sich in einem Land, dass vom PKK-Führer Öçalan regiert werde.
Zudem nahm der Führungsstil von Erdogan zunehmend autoritäre Züge an. Ein guter Redner und Populist war er ohnehin, doch seine Kommentare zum Thema Abtreibung („MORD!“ schrie er) und die Art, wie er das eigentlich nicht besonders strikte Gesetz zur Regulierung des öffentlichen Alkoholverkaufs (immer noch lockerer als in vielen westlichen Staaten) einführte sowie die Tendenz, immer weniger auf die Opposition zu hören, trugen ihr Übriges zur Anti-Erdogan-Stimmung in gewissen Teilen der Bevölkerung bei.
Dies sind nur einige Beispiele, für jeden Punkt ließen sich noch etliche aufzählen, aber kommen wir zum Gezi-Park am Taksim!
Der letzte Park im zentralen Viertel Beyoglu, in dem sich der Taksim-Platz und die Istiklal-Straße befinden, soll abgerissen bzw. umgebaut werden. Wie immer bei dieser Art Projekten ist nicht so ganz klar, was dort eigentlich gebaut werden soll: Ein Einkaufszentrum? Ein Museum, das an osmanische Traditionen anknüpft? Eine Moschee? Alles zusammen in einem alles bisher Dagewesene in den Schatten stellenden futuristischen Mega-Projekt? Meistens, so zeigt die Erfahrung der letzten Jahre, kann man das erst wirklich wissen, wenn es fertig ist. Und dann ist es ja schon fertig und das nächste Projekt steht in den Startlöchern!
Zu Beginn standen nur einige wenige Zelte im Park, die dort ein Art Mahnwache hielten. Das Eingreifen der Polizei war derart brutal (alle Zelte wurden sofort verbrannt), dass binnen weniger Stunden eine weitaus größere Menschenansammlung – organisiert durch moderne Kommunikation (Facebook, Twitter, i-Phone) – sich im Park und drumherum befand. Es folgte ein weiterer Polizeieinsatz und die Masse wuchs weiter an, zudem breiteten sich die Proteste auf die Großstädte des Westens aus. Plötzlich hieß es; „Her yer Taksim! Her yer Direnis“ (Überall ist Taksim! Überall ist Widerstand!).
Was besonders verstörend war: Die großen Medien der Türkei bewiesen auf traurigste Art und Weise, dass sie schon lange nichts weiter als Sprachrohre de Regierung sind. Während CNN international live vom ersten großen Polizeieinsatz am Taksim berichtete, zeigte CNN Türk eine Dokumentation über Pinguine – zeitgleich! Daher konnte man in den folgenden Tagen etliche Protestierenden in Pinguin-Kostümen sehen, in der Hoffnung, so die Aufmerksamkeit der türkischen Medien auf sich ziehen zu können – nur eines der Beispiele für die unglaubliche Kreativität und den Witz, mit dem ein Großteil der Protestierenden ihre Frustration zeigte. Doch nicht nur zu Beginn, während der ganzen Proteste weigerten sich die großen TV- und Radiokanäle sowie Zeitungen (die alle zu wenigen großen Medienkonzernen gehören) irgendetwas Sinnvolles zu zeigen: Wie ein amerikanischer Reporter es ausdrückte: „Stellt euch vor, Zehntausende demonstrieren am Times Square, und in den Medien gibt?s NICHTS!“
Auch ich beteiligte mich an den Protesten in Antalya, mir wurde jedoch schnell klar, dass das Herz der Sache in Istanbul schlägt, daher ließen wir es uns nicht nehmen, nach Istanbul zu fahren. Dienstagmorgen Weiterlesen

DER METZGER Nr. 106!

Soeben erschienen ist die Ausgabe Nr. 106 des satirischen Magazins DER METZGER
metzger106-titelDas steht drin:

Ulrich Sander: Das Problem heißt Rassismus und Militarismus. Eine Betrachtumg nach der Pro-NPD-Entscheidung im Bundestag und zum Beginn des NSU-Prozesses in München. Der Umgang der „Mitte“ mit den Rechten ist von vielen gemeinsamen Schnittmengen geprägt. Das Bindeglied zwischen Mitte und Rechts ist der Rassismus.

Renate König: Die Lage des weiblichen Geschlechts in Indien.

Helmut Loeven: Merkel soll nicht bleiben, bleibt aber. Die SPD verliert nicht, weil der Steinbrück dauernd in irgendwelche Fettnäpfchen hineintritt, sondern: weil die SPD verliert, ist alles, wo der Steinbrück hineintritt, ein Fettnäpfchen. Zum hundertfünfzigsten Jahrestag auch noch eine Erinnerung an die Agenda 1919.

Lina Ganowski: La Notte – Themen der Nacht. Diesmal: Die Wohlfühl-Empörer. Der Furor um das Treiben des Daniel Cohn-Bendit im antiautoritären Kindergarten.

Mac Duff: Richter Azdak in Düsseldorf. Muß Annette Schawan ihren Doktortitel zurückgeben? Richter Azdak spricht ein Urteil.

Helmut Loeven: Das philosophische Kabarett. Diesmal: Hoch die Tasse(n) (und dat Pickdingen); Gesundheitsgefahren durch Nichtrauchen; Flasche gefunden – und was nun?; Die Linkspartei (in Duisburg) ist derzeit kein Ort zum Wohlfühlen; Komische Häuser, komische Vorschläge; Soll man in Bissingheim einen Bürgersteig nach Adolf Sauerland benennen?; Derrick war bei der SS?

Marvin Chlada und Florian Günther sprechen über Literatur und Fotographie, das Reisen und die Frauen, den Tod und das Leben …

Ostermarsch 2013 in Duisburg. Bilder, die alles sagen.

„Wollen die etwa alle zu Pelikan?“ Das Bühnenjubiläum – um ein halbes Jahr und eine halbe Stunde verschoben. Aber was dann kam, dafür hat es sich gelohnt, hinzugehen.

Carl Korte: Ausflug mit Direktor Lall. Mottes Reporterkolumne.

Paul Hafemeister. Erinnerung an einen Genossen.

Lütfiye Güzel: Meine Lieblingsbuchhandlung. Welche wohl?

Das Heft kostet 3 Euro. Es ist in der Buchhandlung Weltbühne erhältlich (auch im Versand. Es wird sofort geliefert).
Wer schlau ist, hat abonniert und kriegt das Heft in den nächsten Tagen zugeschickt.
Ein Abonnement von DER METZGER kostet 30 Euro für die nächsten 10 Ausgaben oder 50 Euro für alle zukünftigen Ausgaben.
Die Ausgaben ab Nr. 18 (1972) sind noch erhältlich (komplett im Sammelpaket oder einzeln). Die Ausgaben Nr. 1-17 (1968-1972) sind vergriffen.

Praktische Philosophie

Philosophieunterricht hatten wir nur ein Jahr lang, in der Oberprima, und zwar samstags in den letzten beiden Stunden. Das traf sich gut. Es wäre nicht so gut gewesen, die Philosophie zwischen Mathematik und Französisch zu quetschen. Die letzten beiden Stunden vor der Entlassung ins freie Wochenende sind eine gute Zeit für die Philosophie, die, wie ich finde, am besten gedeiht in einer Atmosphäre der Entspanntheit.
Vor den beiden Philosophiestunden war die große Pause. Meine Mitschüler verließen den Klassenraum. An einem Samstag nutzte ich die Gelegenheit, die Utensilien meiner Mitschüler, die auf den Tischen herumlagen, zu vertauschen. Ich nahm das Heft von diesem Tisch und legte es auf jenen, das Buch entfernte ich dort und legte es dahin, wo ich den Füllfederhalter wegnahm. Die Schultaschen leerte ich zwar nicht aus, aber verteilte sie kreuz und quer im Raum. In fünf Minuten gelang es mir, ein enormes Tausch-Pensum zu schaffen, so daß jeder, dem drei oder vier Utensilien fehlten, sie auch an drei oder vier verschiedenen Stellen ausfindig machen mußte.
Die Unterrichtsstunde in Philosophie begann mit erheblicher Verzögerung. Der Klassenraum hatte sich vorerst in eine Börse für vermißte und vorgefundene Gegenstände verwandelt. Man hätte auch mit Fug sagen können: es fand eine Übung in praktischer Philosophie statt: Aus dem Chaos zur Ordnung mit den Mitteln der Kommunikation, oder so ähnlich.
Es hätte auffallen müssen, daß ich für diesen Zustand verantwortlich war, denn ich war der einzige, der das alles lustig fand. Und: meine Utensilien waren allesamt da, wo sie hingehörten. Ich wurde darauf nicht angesprochen, wahrscheinlich deshalb, weil ich mit Abstand der Beste im Fach Philosophie war – dies aber wohl deshalb, weil Herbert Marcuse durchgenommen wurde.

Herbert Marcuse (1955)

Herbert Marcuse (1955)

Im mündlichen Abitur wurde ich über Herbert Marcuse geprüft. Auf die Frage, wie man diesen Philosophen anhand der Textpassage, die mir vorgelegt worden war, politisch verorten könne, antwortete ich: Herbert Marcuse ist ein Linker.
Für diese enorme textanalytische Leistung bekam ich die Note Eins, und später erfuhr ich, ich sei im mündlichen Abitur der Jahrgangsbeste gewesen – aber nur, weil ich in Philosophie geprüft wurde. Wäre ich in Französisch geprüft worden, wäre ich vielleicht der Jahrgangsschlechteste gewesen.

Der Krieg soll verflucht sein!

Was ist denn hier passiert?
Kaiserberg03Der Klotz auf dem Kaiserberg zum Gedenken an die „Helden“, die im Ersten Weltkrieg „auf den Schlachtfeldern Frankreichs“ abgeschlachtet wurden, ist zerlegt!
Der Heldengedenkklotz hatte schon Risse bekommen. Jetzt wurde er ordentlich auseinandergenommen. Unter dem granitenen Pathos kamen ordinäre Ziegelsteine zum Vorschein.
Der Klotz ist beziehungsweise war eins von einigen militaristischen Monumenten auf dem Kaiserberg. Er blieb nicht unversehrt – nicht nur von der Witterung, die an dem Stein nagte. Ein paar Jahre ist es her, da wurde er mit leuchtender Farbe beschriftet:
„Es gibt keine Helden im Krieg.“
Das wäre eine würdige Neugestaltung des Gedenkens gewesen. Doch wie man sich denken kann, wurde diese Inschrift alsbald entfernt. Antimilitarismus vollzieht sich in diesem Lande – auch nach einem zweiten Weltkrieg – stets am Rande der Legalität, oder jenseits davon.
Es gibt keine Helden im Krieg. Nur viele, die elend krepieren oder gerade noch davonkommen (wenn sie Glück haben mit beiden Beinen), und einige, die sich am Krieg dumm und dämlich verdienen – und die vielen, die nichts daraus lernen.
Dieser Steinhaufen, mit Bauzaun, sollte so bleiben als „Kriegerdenkmal“: als ein Häuflein Elend.
Doch bestimmt kommt da ein neuer Klotz hin. Dafür wird die SPD schon sorgen.

In den Boden eingelassen, in den Weg zum Klotz: Auftragsarbeit für einen Steinmetz.
Da wird der Spaziergänger zum Wanderer pathetisiert, und „Steh“ ist die Wanderervariante von „Stillgestanden“.
Kaiserberg04Für mich muß keiner töten.
Für mich muß keiner sterben.

Unsere Bundeswehr – Bundeswehr gegen uns

An die Mitteilung vom 7. Mai „Brennende Ruhr“ erinnere ich. Es ging um die Aufstellung von drei „Heimatschutzkompanien“ – man kann auch sagen: um die Vorbereitung, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen – ganz in der unseligen Tradition der Freikorps.
Am Freitag, 14. Juni, sollen die drei Freikorpsverbände – pardon! „Heimatschutzkompanien“ in Essen auf der Zeche Zollverein ihren „Aufstellungsappell“ abhalten.
Vor dem Eingang der Zeche Zollverein soll es zur selben Zeit (16 Uhr) einen Appell ganz anderer Art geben:
„Freikorps im Ruhrgebiet – Nie wieder!“
Genaueres ist zu erfahren unter:
http://www.fdj.de/
und
http://www.fdj.de/FDJ_Homepage_08/Seiten/_pdf/20130614NieWiederFreikorps.pdf

„Keine Lösung“ oder 60 Jahre 17. Juni


Brecht reagierte auf den fragmentarischen Abdruck seines Briefes mit einem zweiten Brief, den das Neue Deutschland am 23.6.1953 veröffentlichte: „Ich habe am Morgen des 17. Juni, als es klar wurde, daß die Demonstrationen der Arbeiter zu kriegerischen Zwecken mißbraucht wurden, meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei ausgedrückt. Ich hoffe jetzt, daß die Provokateure isoliert und ihre Verbindungsnetze zerstört werden, die Arbeiter aber, die in berechtigter Unzufriedenheit demonstriert haben, nicht mit den Provokateuren auf eine Stufe gestellt werden, damit nicht die so nötige Aussprache über die allseitig gemachten Fehler von vornherein gestört wird.“ Daß Walter Ulbricht an solcher Art von Loyalität, die das Eingeständnis von Fehlern verlangt hätte, interessiert war, darf man bezweifeln.
Der bekannteste Kommentar von Bertolt Brecht zum „17. Juni“ ist das Gedicht „Die Lösung“ aus den Buckower Elegien. Es ist oft zitiert worden, meist in der Absicht, den Anspruch der DDR, ein demokratischer Staat zu sein, ebenso als ein Ding der Unmöglichkeit hinzustellen wie die Verbindung Brechts mit der DDR. Antikommunisten wollen den Klassiker literaturgeschichlich auf ihre Seite ziehen.

Dank euch, ihr Sowjetsoldaten!

Dank euch, ihr Sowjetsoldaten!

Foto: Bundesarchiv Wikimedia Commons


Die sozialistische Demokratie sollte die bürgerliche Demokratie übertreffen. Wo die bürgerliche Demokratie aufhört, geht die sozialistische Demokratie weiter. Sie darf also hinter die bürgerliche Demokratie nicht zurückfallen. Zu den Standards der Demokratie gehört, daß die Regierung vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, um das Vertrauen des Volkes bemüht sein muß und dann, wenn sie dieses Vertrauen nicht verdient, abgelöst und durch eine andere Regierung ersetzt werden kann. Das ist der normale Fall. Es fragt sich allerdings, ob dieses Volk, das deutsche, ein normaler Fall ist. Der Gedanke, daß ein Volk, das erst wenige Jahre zuvor zu zwei bis drei Dritteln hinter Hitler hergelaufen ist, mißtrauisch macht und durch nützliches Handeln wenigstens einen Teil des Schadens, den es angerichtet hat, wieder gutmachen sollte, erscheint mir nicht ganz abwegig. Vertrauen ist gut. Aber Kontrolle ist besser. Das hat Lenin zwar nie gesagt, aber es ist richtig, angesichts der Bilanz von 1945. Zu einem solchen Eingeständnis war auch die SED nicht in der Lage. Sie hatte – glaubte sie – dem Faschismus in Deutschland (Ost) die politisch-ökonomische Grundlage entzogen, und das Sein bestimmt das Bewußtsein. Ja. Aber wie schnell? Schon nach 8 Jahren?
Brechts zweiter Brief an die SED nimmt vorweg, was in dem Buch von Stefan Heym „Sechs Tage im Juni“ ausgeführt wurde: Der 17. Juni hatte einen Doppelcharakter. Die Arbeiter in Berlin (und anderswo) hatten Grund zur Unzufriedenheit. Sie demonstrierten und streikten zurecht. Aber dann mischten sich Provokateure unter die Streikenden. Geheimdienstagenten, Saboteure, Halbstarke und antikommunistische Terrorzirkel nutzten die Gunst der Stunde. Selbstverständlich war es so! Die DDR, in die man durch das Brandenburger Tor einfach so hineinspazieren konnte, war bis zum Mauerbau und danach auch noch ein Tummelplatz von Spionen und Saboteuren, die eines Auftrags der westdeutschen Regierung nicht bedurften, aber immer deren Wohlwollen genossen. Sie handelten ganz im Einklang mit der westlichen Politik im Kalten Krieg, der von der „Eindämmung“ zum „Roll back“ übergegangen war.
Gegenüber der offiziellen Lesart im Westen, wo der 17. Juni als Nationalfeiertag begangen wurde, war die Darstellung in Heyms Buch ein großer Fortschritt. Ja, der 17. Juni hatte auch eine reaktionäre, eine faschistische Dimension. Man muß allerdings bezweifeln, daß es wirklich möglich war, die „berechtigte Unzufriedenheit“ und die Provokateure säuberlich voneinander zu „isolieren“. Man muß bezweifeln, daß die antikommunistischen Hetzparolen den Demonstranten souffliert werden mußten.

Biedermänner als Brandstifter
Am 16. und 17. Juni 1953 haben Aufständische in (Ost-)Berlin und Weiterlesen