Gestern erhielt ich eine E-mail vom Verlag Assoziation A:
Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Ereignisse in Istanbul sind dramatisch: Gestern Abend wurde mit enormer Brutalität der Gezi-Park geräumt. Gleichzeitig werden wir Zeugen einer neuen und einzigartigen Protestbewegung in der Türkei, der unsere volle Solidarität gehört.
Aus Istanbul erreichte uns ein Brief von Tayfun Guttstadt, der eindrucksvoll von den Geschehnissen berichtet und ein plastisches Bild der Protestbewegung in ihrer Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit zeichnet. Gerne leiten wir ihn weiter. Der Autor ist damit einverstandnen, dass er – gekürzt oder ungekürzt – weiter verbreitet und benutzt, zitieret oder abgedruckt wird.
Hier, ohne Kommentar, der Wortlaut:
Brief aus Istanbul – Bericht vom Taksim-Platz
von Tayfun Guttstadt
Ich dachte, es interessiert vielleicht den einen oder anderen, was ich in drei Tagen in Istanbul so mitbekommen habe.
Ganz kurz die Hintergründe: Die AKP von Erdogan ist seit über zehn Jahren Regierungspartei und hat bei den bisherigen drei Wahlen jedes Mal einen Stimmenzuwachs verzeichnen können, bei der letzten Wahl satte 47 % (!) der zählenden Stimmen. Da die Mindestgrenze (in Deutschland die „5%-Hürde“) mit 10 % relativ hoch liegt, kann man wohl davon ausgehen, dass der absolute Anteil so um die 30-35 % liegt. Aber das ist eine Schätzung.
Jedenfalls ist in den zehn Jahren viel passiert: Die Türkei hat sich durch eine radikal neoliberale Wirtschaftspolitik (kennen wir ja auch spätestens seit Schröder sehr gut: Deregulierung, mehr Markt, privatisieren, privatisieren, flexible Arbeitskräfte schaffen …) in eine Art Wirtschaftswunderland verwandelt. Es wird überall investiert, […] die Folgen sind jedoch überall sichtbar: Naturzerstörung ohne Ende (wirklich in erschreckenden Ausmaßen), riesige Projekte (z.B. die größte Brücke ihrer Art über den Bosporus und den größten Flughafen der Welt in der Nähe von Istanbul).
Gleichzeitig hat die AKP langsam aber sicher viele der Symbole und Standbeine der alten kemalistischen, nationalistischen Elite abgerissen, verhaftet, verkauft oder übermalt, was mich persönlich nicht weiter stört, in manchen Fällen gar freut (z.B. die Verhaftung der Foltergeneräle, die für die Putsche in den letzten Jahrzehnten und die damit verbundenen Morde und Folterungen – es geht um Zehntausende – verantwortlich sind).
Ein weiterer revolutionärer Schritt war das Friedensabkommen mit der PKK (seit ein paar Monaten gab es keinen einzigen Toten, weder auf der Seite des Militärs noch auf der der PKK). Unter der AKP wurden auf dem Gebiet der Kurdenfrage einige Fortschritte erzielt, doch dies ging den Nationalisten, vornehmlich im Westen und Norden der Türkei zu weit: Plötzlich wähnten sie sich in einem Land, dass vom PKK-Führer Öçalan regiert werde.
Zudem nahm der Führungsstil von Erdogan zunehmend autoritäre Züge an. Ein guter Redner und Populist war er ohnehin, doch seine Kommentare zum Thema Abtreibung („MORD!“ schrie er) und die Art, wie er das eigentlich nicht besonders strikte Gesetz zur Regulierung des öffentlichen Alkoholverkaufs (immer noch lockerer als in vielen westlichen Staaten) einführte sowie die Tendenz, immer weniger auf die Opposition zu hören, trugen ihr Übriges zur Anti-Erdogan-Stimmung in gewissen Teilen der Bevölkerung bei.
Dies sind nur einige Beispiele, für jeden Punkt ließen sich noch etliche aufzählen, aber kommen wir zum Gezi-Park am Taksim!
Der letzte Park im zentralen Viertel Beyoglu, in dem sich der Taksim-Platz und die Istiklal-Straße befinden, soll abgerissen bzw. umgebaut werden. Wie immer bei dieser Art Projekten ist nicht so ganz klar, was dort eigentlich gebaut werden soll: Ein Einkaufszentrum? Ein Museum, das an osmanische Traditionen anknüpft? Eine Moschee? Alles zusammen in einem alles bisher Dagewesene in den Schatten stellenden futuristischen Mega-Projekt? Meistens, so zeigt die Erfahrung der letzten Jahre, kann man das erst wirklich wissen, wenn es fertig ist. Und dann ist es ja schon fertig und das nächste Projekt steht in den Startlöchern!
Zu Beginn standen nur einige wenige Zelte im Park, die dort ein Art Mahnwache hielten. Das Eingreifen der Polizei war derart brutal (alle Zelte wurden sofort verbrannt), dass binnen weniger Stunden eine weitaus größere Menschenansammlung – organisiert durch moderne Kommunikation (Facebook, Twitter, i-Phone) – sich im Park und drumherum befand. Es folgte ein weiterer Polizeieinsatz und die Masse wuchs weiter an, zudem breiteten sich die Proteste auf die Großstädte des Westens aus. Plötzlich hieß es; „Her yer Taksim! Her yer Direnis“ (Überall ist Taksim! Überall ist Widerstand!).
Was besonders verstörend war: Die großen Medien der Türkei bewiesen auf traurigste Art und Weise, dass sie schon lange nichts weiter als Sprachrohre de Regierung sind. Während CNN international live vom ersten großen Polizeieinsatz am Taksim berichtete, zeigte CNN Türk eine Dokumentation über Pinguine – zeitgleich! Daher konnte man in den folgenden Tagen etliche Protestierenden in Pinguin-Kostümen sehen, in der Hoffnung, so die Aufmerksamkeit der türkischen Medien auf sich ziehen zu können – nur eines der Beispiele für die unglaubliche Kreativität und den Witz, mit dem ein Großteil der Protestierenden ihre Frustration zeigte. Doch nicht nur zu Beginn, während der ganzen Proteste weigerten sich die großen TV- und Radiokanäle sowie Zeitungen (die alle zu wenigen großen Medienkonzernen gehören) irgendetwas Sinnvolles zu zeigen: Wie ein amerikanischer Reporter es ausdrückte: „Stellt euch vor, Zehntausende demonstrieren am Times Square, und in den Medien gibt?s NICHTS!“
Auch ich beteiligte mich an den Protesten in Antalya, mir wurde jedoch schnell klar, dass das Herz der Sache in Istanbul schlägt, daher ließen wir es uns nicht nehmen, nach Istanbul zu fahren. Dienstagmorgen Weiterlesen →