Sand Martin

Die verschiedenen November-Feste (Allerheiligen/Allerseelen, Sand Martin, Hallo Wien!) kommen aus einer Quelle, und die ist vorchristlich. Das ist nicht ungewöhnlich, Fast alle christlichen Feste (wie etwa Weihnachten, Ostern, Karneval) gehen auf vorchristliche Fest-Tradionen zurück. Die Martinslaternen und die Grablichter sind verwandte Symbole und haben etwas mit Geistervertreibung zu tun.
Den Martinszügen der Kinder bin ich in den vergangenen Jahren immer nur zufällig begegnet an frühen Novemberabenden. Die Kinder mit ihren bunten Martinslaternen, die hellen, begeisterten Kinderstimmen – das war rührend. Feste zu feiern, um Kindern eine Freude zu machen. Das ist gut.
Veranstaltet werden die Umzüge von Schulen und Kindergärten.
Voriges Jahr las ich in der Zeitung, daß in Buchholz (der Stadtteil, wo ich herkomme, wo ich Lesen und Schreiben gelernt habe) die Martinszüge nur noch ein mal alle vier Jahre veranstaltet werden sollen! In ihrer Grundschul-Zeit sollen die Kinder nur noch einem Martinszug erleben!
Ich erinnere mich: In der Schule haben wir Martinslaternen gebastelt. Nach dem Zug durch unser dörfliches Viertel war auf dem Schulhof ein großes Martinsfeuer. Die Mantel-Teilung wurde szenisch aufgeführt.
Solche Tage dienen dazu, den Jahr einen Rhythmus zu geben, zu verhindern, daß die Zeit, daß das Leben zu einem Einerlei wird. Solche Tage verhindern, daß das Leben von der Vergessenheit aufgefressen wird.
Die Botschaft von dem Mann, der einem, der Hilfe braucht, etwas abgibt, um die Not zu lindern. Das ist eine gute Geschichte, um sie Kindern zu erzählen. Das ist ein guter Anlass, in einem Fest daran zu erinnern. Und das gilt nicht minder, wenn man nicht gläubig ist.
Volksschule Duisburg-Buchholz
Unser Schulhof.
Ich habe immer verstanden „Sand Martin“. Unter „Sankt“ konnte ich mir nichts vorstellen. Unter „Sand“ schon eher.

… sie wittern den Frieden

An dieser Stelle wird ein Notat wiederholt, das schon am 30. Mai 2015 aus aktuellem Anlaß hier erschien. Anlaß ist diesmal, daß der Schriftsteller Hand Bender dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre.

Hans Bender […] hat lange gelebt. Man könnte fast sagen: So bringen vergangene Zeiten sich wieder in Erinnerung. Hans Bender, Gründer und lange Zeit Herausgeber der akzente (Hanser). Es ist wohl nicht zu despektierlich, wenn ich sage, er war einer von denen, die dafür zuständig waren, daß es nach 1945 eine offizielle Literatur in (West-)Deutschland gab – im Deutschunterricht durchzunehmen. Bender gehörte, wie Höllerer, wie Richter, zu den Schriftstellern, von denen man sagen mußte: sie haben auch selbst geschrieben.
„Die Wölfe kehren zurück“ nahmen wir in der Untertertia durch. Die Schriftsteller, die das „Tendenziöse“ zu fürchten gelernt hatten und zu fürchten lehrten, schrieben über den Krieg als ein böses und den Frieden über ein gutes Schicksal. Bin ich ungerecht? Böll war da anders.

„Die Wölfe kehren zurück. Sie wittern den Frieden.“ So endet die Geschichte.
Wir sollten dann für die nächste Deutschstunde eine Inhaltsangabe schreiben. Ich schrieb einen zehn Seiten langen Aufsatz.
Das wurde aber beanstandet. Es wurde eine Inhaltsangabe verlangt, und die hätte als gelungen gegolten, wenn sie kurz gewesen wäre, je knapper desto besser.
Aber:
In dem inoffiziellen Wettbewerb „Der längste Aufsatz der Klasse“ hatte ich mit einem sieben Seiten langen Aufsatz lange den Rekord gehalten. Der war gebrochen worden. Jemand hatte acht Seiten gefüllt, um zu zeigen: „Ich hab‘ den längeren“! Den mußte ich übertreffen! Es ging doch nicht um die gute Note in Deutsch, sondern um die Verwirklichung einer Vorstellung, die sich jeder fremdbestimmenden Bewertung entzieht.
Ich hatte zwar durchaus noch nicht den Vorsatz gefaßt, aber vielleicht schon eine Ahnung davon, Schriftsteller zu werden. Denn der Schriftsteller unterscheidet sich von anderen Leuten darin, daß er mehr schreibt als von ihm verlangt wird, und im Idealfall sich beim Schreiben mehr amüsiert als der Leser beim Lesen. Wobei die Kriterien, wonach ein Aufsatz als ein guter solcher erkannt wird, brachial außer acht gelassen werden. Sie erleben es in diesem Moment: meine unausrottbare Angewohnheit, vom Thema abzuschweifen.
Meine Freundin Lina hat mal zu mir gesagt: „Das Abschweifen vom Thema ist eine der ergiebigsten Erkenntnisquellen.“ Oder habe ich das zu ihr gesagt?
Nicht gut angekommen bin ich mal mit einem Aufsatz, der vier Seiten lang war, von denen dreidreiviertel Seiten Einleitung waren. Heute würde man doch sagen: eine Meisterleistung!

Wer hätte mir zugestimmt, wenn ich den Gedanken geäußert hätte, daß ein Aufsatz in Deutsch das Publikum gut unterhalten sollte.
Wenn ich mal einen Aufsatz vor der Klasse vorlesen mußte/durfte, wurde immer sehr viel gelacht. So auch bei dem genannten Sieben-Seiten-Aufsatz in der Untertertia: die erfundene Geschichte über einen gescheiterten Überfall auf die Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg.

Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg

..

Weihnachts-Botschaften

Soll heißen: ich nehme diplomatische Immunität in Anspruch.
Weihnachten ist ja bekanntlich die Gelegenheit für Erinnerungen, Rückblicke und Wiederholungen. Ist es nicht so? Glauben Sie es mir einfach.
Während ich mir ein paar Tage Privatissimum gönne, mache ich es Ihnen möglich, die Universalität zu wiederholen, und zwar durch diese Verlinkungen:
24. Dezember 2012
24. Dezember 2013
24. Dezember 2014
24. Dezember 2015
24. Dezember 2016

Wie sagte schon Karl Valentin:
WENN DIE STILLEN TAGE VORBEI SIND,
DANN WIRD ES AUCH WIEDER RUHIGER.

In Buchholz

Zehnter Autorenplausch der Stadtbibliothek Duisburg, Zweigstelle Buchholz. Darin: Helmut Loeven liest uns was vor. Veranstaltet von Werner Zapp (rechts im Bild) und Rainero Spahn. Wann war das? Am 14. September 2017.

Alles war, nix is mehr (9)

nixis52Ein Stück die Straße runter: Einen (H)Ort besonders fröhlicher Wissenschaft hätte man vorgefunden, wenn man beizeiten durch diese Einfahrt gegangen wäre. Dort war ein umgefallenes Haus. Ein heftiger Windstoß hatte das Haus umgeweht, so daß Seitenwände zu Decke und Fußboden wurden. Von dort sah man, daß eine Frau mittleren Alters im Parterre unentwegt Fenster putzte. Von morgens bis abends. Jeden Tag. Sie unterbrach diese Tätigkeit nur, wenn sie die Fenster zur Straße hin putzte. Ich konnte es mir nicht verkneifen, einmal laut auszurufen: „Hier müßte mal Fenster geputzt werden!“
Das Forschungsinstitut (Sprache, Soziales) betreibt die Wissenschaft inzwischen in einem festen Gebäude, und in dem mittleren Fernster wird jetzt durch Aushang mitgeteilt, daß die Wohnung zu vermieten ist und daß der Mieter zur unaufhörlichen Fensterreinigung sich verpflichten muß.

nixis53Gegenüber: Hinter den großen Fenstern befindet sich (oder befand sich zumindest Ende der 60er Jahre) eine dieser evangelischen Einrichtungen, in denen die KDV-Beratung stattfand. Wie evangelisch es in den Etagen da drüber zugeht, weiß ich nicht.

nixis54Ach! Das gute alte Pampus gibt es noch! „Essen, trinken, Kunst genießen“. Dem Aushang entnahm ich, daß Mary Heckmann (die Mary) immer noch die Wirtin ist. Zum letzten Mal war ich da drin, da gab es das Eschhaus noch nicht. Zum vorletztem Mal war ich da drin, da gab es die Bröselmaschine noch.
Daneben gibt es nicht mehr das Hotel Garni – ein Stundenhotel, aber auch mal Schimanski-Location.

nixis55Und gegenüber, wo sich jetzt ein Laden für aufeinandergestapelte Kartons befindet, befand sich „Luigis Icecream Corner“. Das war ein beliebter Ort für Verabredungen an Nachmittagen.
Einer sagte mir: „Da kann man sich erfreuen am Anblick der Teenies mit ihren niedlichen Popos.“ Und ich dachte: Ach, andere tun das auch?

nixis56Früher sagte man: „Vom anderen Ufer“. Dabei ist es doch nur die andere Straßenseite.

nixis57Und inmitten all dieser Schwulenkneipen, Altfreak-Kneipe, Stundenhotel, SM-Club und SM-Shop: Das Bischöfliche Sankt-Hildegardis-Mädchens-Gymnasium. (Barbara was here).

nixis58Also, nach einem Bischöflichen Gymnasium sieht das nicht gerade aus. An allem nagt die Zeit. Auf das Mädchens-Gymnasium dürfen neuerdings auch Jungens, und damit ist es auch nur noch die Hälfte wert.

nixis59Dort in dem gelben Haus, hinter dem Fenster rechts von der Haustür, war eine winzige Firma. Dort machte Jenny ihre Lehre als Glasmalerin, bevor sie sich ganz der Musik widmete. Bei uns in der Wohnung lagen viele ihrer wirklich gekonnten Glasmalereien herum.
Jenny, oh, Jenny!

nixis60Da, bei Eller-Montan, arbeitete Barbara. Nachmittags, wenn sie Feierabend hatte, stand ich da, wo das Schild ist, und wartete auf sie, und dann war es ein richtig schöner Tag. Bei Eller-Montan arbeitete sie nur in den Semesterferien. Sonst studierte sie Jura in Bonn, und ich wohnte bei ihr auf der Kaiserstraße. Warum hat sie mich verlassen?
Ich will sie alle wiederhaben, denen ich auf den Hintern hauen durfte, also auch die Anne, die Erika, auch die Stefanie, und auch die Christina, und von den jetzt nicht namentlich Genannten auch ein paar – natürlich alle so jung und schön, wie sie waren, als sie mich verließen.
Und dann heirate ich sie alle. Geht das?
Geht nicht?
Bei der Erschaffung der Welt muß irgendwas schief gelaufen sein.

Alles war, nix is mehr (8) oder Auf der Suche nach der fröhlichen Wissenschaft

nixis47Die Firma gibt‘s also noch. Die heißt auch noch so. Und die sieht ja auch noch fast genauso aus wie „zu meiner Zeit“. Aber ob die Firma noch mit Fug als „Hort der fröhlichen Wissenschaft“ aufgefaßt werden kann, steht dahin.
Imposante Schmiede-Eisen-Architektur! Links, wo ich einst eintrat, ist jetzt geschlossen. Dafür kann man jetzt durch die Mitte gehen. So ändern sich die Zeiten.

nixis48Das Ganze von der anderen Seite betrachtet (von Norden – der Norden heißt hier: Wittekindstraße). Blick über den Schullow. Die „Löbenicht-Eiche“ (hinten links) überragt inzwischen die Gebäude. Kaum einer wird wissen, daß die Eiche so heißt. Darum braucht man sie auch nicht zu fällen. Sie kann ja nichts dafür. Als ich hier als Sextaner meine Laufbahn begann, war die Eiche gerade gepflanzt worden und diente in ihrer jugendlichen Mickrigkeit als Symbol für die Dürre der heimatvertriebenverbandlichen Phrasen. Das möchte ich nämlich am heutigen Tag den Nachrufen auf die Genossin Margot Honecker entgegenstellen: Wir sollten im Kalten Krieg zu linientreuen Anhängern des westdeutschen Revanchismus erzogen werden, was nicht so recht hinhaute.

nixis49Dort hinter dieser Skulptur, die wohl irgendwas symbolosiert oder von jemandem gestiftet wurde oder beides ist der Vordereingang, der aber nie benutzt wurde, sondern nur der Vornehmheit diente.
Ich träume aber oft, durch diese Tür ins Freie zu treten. Das ist dann eine Situation des Entkommens.
Der Park war der Pausenhof für die Oberstufe (zu betreten durch die bescheidene Tür des „Neubaus“).
Der Park ist heute eingezäunt. Das Foto entstand zwischen zwei Zaunlatten.

nixis50Der „Neubau“ (Anbau) diente der Exklusivität der Oberstufe. Dort hinter jenen Fenstern im ersten Obergeschoß strebte ich als Oberprimaner dem Finale entgegen.
Die Firma litt permanent an Raum-Mangel, woran sich nichts geändert haben dürfte, weil heutzutage alle Eltern davon überzeugt zu sein scheinen, daß ihre zehnjährigen Kinder (mindestens: hochbegabt) unbedingt aufs Gymnasium gehen müßten und somit das Mittelmaß dort die Gänge verstopft. Und dann auch noch: Verkürzter Bildungsgang.
Aus lauter Verzweiflung wurde dem Neubau ein Anbau (dem Anbau ein Neubau) hinzugebaut.
Ich dachte damals: Hier lernt man zu wenig. Ich erwartete mehr Leistung von dem Bildungsunternehmen. Aber als Hort der fröhlichen Wissenschaft konnte das Unternehmen durchaus gelten (nicht im Nietzscheschen, sondern im Godardschen Sinne).
Zwei wertvolle Bldungsinhalte konnte ich mir auf der Oberschule aneignen:
1. Die Fähigkeit, mich in mißlichen Situationen irgendwie durchzuwurschteln und rauszuwinden,
2. Quatschmachen (auf einem gewissen intellektuellen Mindestniveau) und den Wert dieser Fähigkeit erkennen.
Ich könnte noch als Drittes erwähnen: Die Erkenntnis, daß man die wichtigsten Kenntnisse und Befähigungen als Autodikakt sich selbst beibringen muß.

nixis51FORTSETZUNG FOLGT.

Allerheiligen

SinnSinnSinnIn einem Hochhaus im Parterre wohnen ist doch eigentlich sinnlos.
Genauso:
Ein gesetzlicher Feiertag an einem Sonntag. Was bringt das?
Naja, das kann passieren. Manchmal fällt Allerheiligen (1. November) auf einen Montag, manchmal auf einen Dienstag (usw.). Morgen dann auf einen Sonntag.
Das kann auch passieren mit dem 1. Mai, dem Neujahrstag und den Weihnachtsfeiertagen.
Ansonsten aber garantiert die Katholische Kirche für reichlich Schulfrei, indem Himmelfahrt und Fronleichnam immer donnerstags stattfinden (raffiniert!).
Was haben die Evangelen dem entgegenzusetzen? Das Gegenstück zum katholischen Allerheiligen (mal montags, mal dienstags usw.) ist der evangelische Totensonntag. Ja, meinegüte, da hat man doch nichts von. Könnten die nicht mal einen Totenmontag einführen?
Der höchste evangelische Feiertag ist der Karfreitag. Aber der ist auch katholisch hoch gehalten. Karfreitag wäre auch dann ein Feiertag, wenn die Reformation nie stattgefunden hätte.
In meiner Schulzeit fand ich den evangelischen Bus- und Bett-Tag immer gut: ein Mittwoch (!) im November. Ach, was war das schön!
Gegen die Abschaffung des evangelischen Feiertags hätte die Katholische Kirche protestieren müssen: „Die Evangelischen sollen ruhig mehr für die Entspannung tun.“

Eine Studie der Freien Universität Berlin …

… hat Erfreuliches zutage gefördert: 63 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen können wenig oder gar nichts mit Namen wie Honecker oder Begriffen wie Stasi anfangen.
Nun gibt es allerdings Leute, die sich über dieses ermutigende Forschungsergebnis gar nicht freuen können. Zu denen gehört der Direktor einer dubiosen Gedenkstelle, Hubertus Knabe. Das wiederum ist noch schöner als das, was die Studie ermittelte. Der Ärger, der Hubertus Knabe quält, gehört zu den kleinen Freuden des Lebens. Sobald Hubertus Knabe sich mal wieder ärgert, bessert sich das Wetter.

Wer sich heute in der politischen Auseinandersetzung professionell oder halbprofessionell mit (Zeit-)Geschichte beschäftigt, hat dafür durch den Geschichtsunterricht weder die Motivation bekommen, noch wurde er dafür mit dem Rüstzeug versehen. In den 50er und 60er Jahren war der Geschichtsunterricht an westdeutschen Schulen über die Zeit nach 1918 eine Propagandaabteilung des Kalten Krieges. Da mag heute mancher denken: Da müssen wir wieder hin.
(Gut war allerdings, daß wegen Unterrichtsausfalls und wegen Mittelalterverliebtheit der Geschichtslehrer der Geschichtsunterricht auf der Zielgeraden gar nicht mehr an das Zwanzigste Jahrhundert anlangte, worüber manche sich beschweren zu müssen glauben).

7 von 10 Schülern in NRW glauben, die Berliner Mauer wäre von den Amerikanern gebaut worden. Viele der 16- und 17jährigen im Westen glauben, Konrad Adenauer sei ein SED-Politiker gewesen. Nun, warum nicht? Das ist zwar falsch, aber das ist wenigstens noch zum Lachen. Sollte der Geschichtsunterricht an den Schulen demnächst den „Unrechtscharakter der DDR“ in den Vordergrund schieben, muß man den Schülerinnen und Schülern dringend empfehlen, im Geschichtsunterricht Stadtlandfluß zu spielen. Denn was ihren da eingetrichtert werden soll, ist noch falscher als das SED-Mitgliedsbuch für Adenauer. Es ist auch nicht bloß falsch, es ist infam: Die DDR als „zweite Diktatur“, gewissermaßen als Fortsetzung des Dritten Reiches mit anderen Fahnen.
Über die Zählweise muß man sich sowieso wundern. Wieso „zweite“ Diktatur? Nimmt man den Zeitraum seit Bildung des deutschen Nationalstaates, also seit 1871, hat es eine ganze Menge Diktaturen in Deutschland gegeben. Es ist noch nicht mal klar, ob man das Kaiserreich und die Militärdiktatur während des Ersten Weltkrieges als eine oder als zwei Diktaturen zählt. Die Weimarer Republik hat schon 1930 aufgehört, eine parlamentarische Demokratie zu sein. Von 1945 bis 1949 hatten wir hier eine Militärdiktatur, sogar eine Diktatur des Militärs fremder Mächte – und betrachtet man die, kommt man darauf, daß „Diktatur“ gar nicht unbedingt etwas Schlimmes sein muß. Karl Marx gar verwendete die Bezeichnung „Diktatur“ für jegliche politische Herrschaft.
Von einer der schlimmsten Diktaturen hat uns die Europäische Union befreit. Daß der Staat jetzt nicht mehr vorschreiben darf, daß das halbe Pfund Butter 250 Gramm wiegen muß. Von dem Zwang sind wir alle jetzt endlich befreit. Wie habe ich mich mein ganzes Leben lang danach gesehnt, eine Tafel Schokolade kaufen zu können, die 93 Gramm wiegt!
NachhilfeGeschichte..

… sie wittern den Frieden

in memoriam Hans Bender
1919-2015

Hans Bender ist am vergangenen Donnerstag gestorben. Er hat lange gelebt.
Man könnte fast sagen: So bringen vergangene Zeiten sich wieder in Erinnerung. Hans Bender, Gründer und lange Zeit Herausgeber der akzente (Hanser). Es ist wohl nicht zu despektierlich, wenn ich sage, er war einer von denen, die dafür zuständig waren, daß es nach 1945 eine offizielle Literatur in (West-)Deutschland gab – im Deutschunterricht durchzunehmen.
Bender gehörte, wie Höllerer, wie Richter, zu den Schriftstellern, von denen man sagen mußte: sie haben auch selbst geschrieben.
„Die Wölfe kehren zurück“ nahmen wir in der Untertertia durch. Die Schriftsteller, die das „Tendenziöse“ zu fürchten gelernt hatten und zu fürchten lehrten, schrieben über den Krieg als ein böses und den Frieden über ein gutes Schicksal. Bin ich ungerecht? Böll war da anders.

„Die Wölfe kehren zurück. Sie wittern den Frieden.“ So endet die Geschichte.
Wir sollten dann für die nächste Deutschstunde eine Inhaltsangabe schreiben. Ich schrieb einen zehn Seiten langen Aufsatz.
Das wurde aber beanstandet. Es wurde eine Inhaltsangabe verlangt, und die hätte als gelungen gegolten, wenn sie kurz gewesen wäre, je knapper desto besser.
Aber:

In dem inoffiziellen Wettbewerb „Der längste Aufsatz der Klasse“ hatte ich mit einem sieben Seiten langen Aufsatz lange den Rekord gehalten. Der war gebrochen worden. Jemand hatte acht Seiten gefüllt, um zu zeigen: „Ich hab‘ den längeren“! Den mußte ich übertreffen! Es ging doch nicht um die gute Note in Deutsch, sondern um die Verwirklichung einer Vorstellung, die sich jeder fremdbestimmenden Bewertung entzieht.
Ich hatte zwar durchaus noch nicht den Vorsatz gefaßt, aber vielleicht schon eine Ahnung davon, Schriftsteller zu werden. Denn der Schriftsteller unterscheidet sich von anderen Leuten darin, daß er mehr schreibt als von ihm verlangt wird, und im Idealfall sich beim Schreiben mehr amüsiert als der Leser beim Lesen. Wobei die Kriterien, wonach ein Aufsatz als ein guter solcher erkannt wird, brachial außer acht gelassen werden. Sie erleben es in diesem Moment: meine unausrottbare Angewohnheit, vom Thema abzuschweifen.
Meine Freundin Lina hat mal zu mir gesagt: „Das Abschweifen vom Thema ist eine der ergiebigsten Erkenntnisquellen.“ Oder habe ich das zu ihr gesagt?
Nicht gut angekommen bin ich mal mit einem Aufsatz, der vier Seiten lang war, von denen dreidreiviertel Seiten Einleitung waren. Heute würde man doch sagen: eine Meisterleistung!

Wer hätte mir zugestimmt, wenn ich den Gedanken geäußert hätte, daß ein Aufsatz in Deutsch das Publikum gut unterhalten sollte.
Wenn ich mal einen Aufsatz vor der Klasse vorlesen mußte/durfte, wurde immer sehr viel gelacht. So auch bei dem genannten Sieben-Seiten-Aufsatz in der Untertertia: die erfundene Geschichte über einen gescheiterten Überfall auf die Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg.

Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg

Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg

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Fast Endzeit

Ich war in der Quinta oder in der Quarta, also im Alter von 11 oder 12 Jahren, da biß ich in mein Pausenbrot (auf dem Schulhof in der ersten oder zweiten großen Pause). Ein Mitschüler fand das nicht gut. Denn es war ein Wurstbrot, und es war Freitag.
Ich weiß nicht, ob Sie es wissen (und ich weiß auch nicht, ob Sie es glauben), daß es katholischen Christen untersagt ist, freitags Fleisch zu essen (ebenso: Wurst).
Dieses Gebot steht zwar nirgendwo in der Bibel, wird aber nach der katholischen Glaubenslehre den anderen neun Geboten gleichgestellt. Nun gibt es (glauben Sie es ruhig) in der Bibel auch keine „zehn Gebote“, sondern eine lange Liste von Geboten, die der Liebe Gott dem Moses auf dem Berg Horeb schriftlich übermittelt haben soll (ohne dabei die Wurst zu erwähnen). Irgendein Vorkämpfer des Dezimalsystems versuchte, diese Gebote in zehn Kapitel einzuteilen, kam aber nur auf neun. Da mußte noch ein zehntes her.
Vielleicht tagte die zuständige Kongregation und mußte, nachdem sie verboten hatte, den Sonntagsgottesdienst zu versäumen oder falsche Zeugnisse auszustellen, der Vollständigkeit halber noch was verbieten. Da war die Verlegenheit groß, aber, wie oft in solchen Lagen, die Stimmung nicht schlecht. Und so überlegte man: Sollen wir Rauchen in Einbahnstraßen verbieten? Oder Singen während des Handstands? Oder im Auto auf dem Rücksitz über das Wetter zu reden? Schließlich einigte man sich: Freitags kein Fleisch. Denn darüber wurde am meisten gelacht, vor allem, als dann noch gesagt wurde: Fisch darf man.
Dem Neuen Testament ist zu entnehmen, daß Jesus in die Wüste gegangen ist, um 42 Tage lang zu fasten. (Warum tat der das?). Dabei erschien ihm „der Versucher“. Das ist schon tollkühn, zu versuchen, ausgerechnet Jesus, den Messias zu „versuchen“. Vielleicht wußte der Versucher auch nicht, wen er vor sich hatte. Oder: Jesus hatte vom Fasten Halluzinationen (kommt vor) und hat sich den Versucher bloß eingebildet.
Fasten ist sicherlich nicht bloß eine religiöse Selbst-Kasteiung. In früheren Zeiten, vor der Erfindung des Kühlschranks, haben die Leute im Winter viel Gepökeltes und Geräuchertes gegessen. Gegen die Schlacken des Winters ernährte man sich im Frühling von frischen Früchten und jungem Gemüse, also weniger üppig. Da die Hühner mit ihrem Eierlegen sich nicht an die Fastenzeit hielten, wurden die Eier hart gekocht, um sie haltbar zu machen. So sind die Ostereier entstanden.
In der modernen Zeit, in der man neben dem Kühlschrank noch über weitere Mittel der Frischhaltung von Nahrungsmitteln verfügt, hatte das Fasten seine Bedeutung eingebüßt. Doch neuerdings ist es wieder ein Thema. Nicht nur, daß der alleingelassene Mensch unserer Tage stets der Erhaltung seiner Verwertbarkeit eingedenk ist und für den ganzen Wellness-Trallala sich den einen oder anderen Genuß verkneifen zu müssen glaubt. Der die Sinnlosigkeit seines Daseins erahnende Homo facebookensis ist stets auf der verzweifelten Suche nach Angesagtem. So kommen Phänomene zustande, daß Leute grundlos einen Eimer Wasser über ihrem Haupte entleeren, oder daß ein Tag auserkoren wird, an dem Idioten beiderlei Geschlechts unterhalb der Gürtellinie unvollständig bekleidet die U-Bahn benutzen.
Fasten als Flashmob. In Smartphone-Zeiten fastet man sich gegenseitig was vor.

Wissen Sie was? Ich rauch‘ nicht mehr. Ja, ist wahr, kann man sich gar nicht vorstellen: Ich ohne Zigarette! Ich! Ist aber so. Aber schon seit November. Und auch, wenn in ein paar Tagen gesungen wird: „Christ ist erstanden von der Marter alle“, fange ich nicht wieder damit an.

Über die Natur (live)

Einige Passagen meiner Lesung in der Zeche Carl in Essen am 31. August wurden gefilmt. Heute zeige ich Euch: „Physiker“ (aus „Der Gartenoffizier – 124 komische Geschichten“).

Ton- und Bildaufzeichnung: Hafenstaedter.
Fortsetzung folgt.

Let the Children Play oder Die Reaktion des Gemütes auf die Katastrophe ist eine Katastrophe

In der WAZ regte eine LeserInnenbriefschreiberIn an, gegen den „massenhaft zunehmenden“ sexuellen Mißbrauch ihrer Kinder müßten die Mütter endlich einschreiten: Mütter müßten sich absprechen, daß sie gemeinsam ihre Kinder morgens bis zum Schultor bringen und mittags an der Schule abholen und sie dann keine Sekunde aus den Augen lassen, bis sie sicher zu Hause angekommen sind.
Dann ist die Welt ja wohl endlich in Ordnung: Wenn Kinder stumm und brav keinen unbewachten Schritt mehr tun. Man muß sich das bildlich vorstellen: Dick gewordene Damen, die in der Mutterschaft ihre Erfüllung fanden und die nun entschlossen sind, die Sache in die Hand zu nehmen, bilden eine Eskorte.
Ich erinnere mich an meinen Schulweg. Wir gingen gemeinsam, hatten mittags um eins die Last der Schule von uns geworfen, lästerten, quatschten, alberten herum, machten Umwege, heckten Sachen aus, die für Erwachsenenohren nicht bestimmt waren. Unser Schulweg war eine Reise, auf der man das Leben entdecken konnte. Eine halbe Stunde lang hatten Lehrer und Eltern keinerlei Macht. In der erwachsenenfreien Zone haben wir die Welt erschaffen.
Sie geht unter.

Religion

Die Grundschule hieß, als ich sie besuchte, noch „Volksschule“: in den 50er Jahren. Das war natürlich eine Konfessionsschule. Als Siebenjähriger empfing ich erste Unterweisungen in der katholischen Religion.
Das interessierte mich alles lebhaft. Aber manchmal hatte ich mit theologischen Fragen doch so meine Schwierigkeiten.
Einmal wandte ich mich an den Kaplan de Pöhl:
„Gott weiß doch alles auch schon vorher, nicht?“
„Ja.“
„Aber dann hat Gott doch auch schon vorher gewußt, daß Adam und Eva sündigen.“
Ein siebenjähriges Kind hatte Gott dabei erwischt, wie er so tat als wüßte er von nichts. Der Kaplan strich mir übers Haar. „Ein Intellektueller!“ dachte er bestimmt. Dann sprach er zu mir ein paar Glaubensworte, denen der Siebenjährige nichts entgegensetzen konnte, die ihn aber auch nicht überzeugten. Dem Kaplan (dem eine große Karriere in der Kirche bevorstand) war in weitaus größerem Maße als mir bewußt, welche Ungeheuerlichkeit sich da zutrug: Daß da einer den ewigen Glaubensdingen beikommen wollte mit Logik! Ja, sogar noch mit kritischer Logik! Aber der junge Kaplan war weise genug, der satanischen Logik mit einem milden Lächeln zu begegnen. Denn er hatte die Gewißheit auf seiner Seite, die sich hinter dem milden Lächeln verbarg: „Du bist ja noch so jung, mein Kind. Diese kritischen Fragen, die werden wir dir noch beizeiten abgewöhnen. Dafür sind wir ja schließlich da.“ Wer den weiteren Verlauf meines Lebens kennt, der lernt, daß die Gewißheiten eines Kaplans manchmal auch trügerisch sein können.

Volksschule Duisburg-Buchholz

Volksschule Duisburg-Buchholz

Biblische Geschichte hatten wir bei Fräulein Tischer, 23 Jahre alt. Die brachte ich gleich zweimal durch das Berühren theologischer Grundsatzfragen in arge Verlegenheit.
Fräulein Tischer wollte uns auf anschauliche Weise klarmachen, daß Jesus, bevor er als Erlöser tätig wurde, ein ganz normales Kind gewesen sei, so wie wir. Überhaupt sei bei Mariaundjosefs alles ganz alltäglich zugegangen. Als die Familie von Bethlehem nach Nazareth zurückgekehrt war, habe auf den Möbeln soo dick der Staub gelegen, berichtete sie uns. Das Bild der Muttergottes mit Schrubber und Aufnehmer hat sich mir eingeprägt. Und Jesus – nun, der hätte mit den anderen Kindern Indianer gespielt.
Ich meldete mich.: „Frollein?“
„Ja?“
„Der kann doch gar nicht Indianer gespielt haben.“
„?“
„Amerika war doch noch gar nicht entdeckt.“
Fräulein Tischer antwortete nicht. Sie wußte nicht, was sie hätte sagen sollen. Ich für mein Teil hatte übrigens nicht den geringsten Zweifel, daß Jesus als Gottessohn die Existenz eines noch nicht entdeckten Kontinents durchaus bekannt war. Aber ich hielt Jesus doch für so klug, daß er Gleichaltrigen gegenüber mit seinem Wissen hinterm Berge hielt. Oder hätte er denen vielleicht sagen sollen: „Wir spielen jetzt Ureinwohner eines Erdteils, der in knapp anderthalb Jahrtausenden entdeckt werden wird“? Die hätten doch gesagt: „Mit dem spielen wir nicht mehr!“
Fräulein Tischer versuchte auch, uns die Arche Noah zu erklären. Auf seine Arche nahm Noah von jeder Tierart zwei Exemplare mit: ein Männchen und ein Weibchen.
Ich meldete mich. „Frollein?“
„Ja?“
„Hat der von allen Tieren welche mitgenommen?“
„Ja.“
„Von allen?“
„Ja.“
„Auch Fische?“
Fräulein Tischer schnappte nach Luft. Schließlich fiel ihr die Antwort ein: „Dafür hatten sie Eimer mitgenommen.“
Ich setzte mich wieder hin. Ich war enttäuscht. Fräulein Tischer hatte den Sinn meiner Frage nicht verstanden. Es beunruhigte mich, von einer Lehrerin unterrichtet zu werden, der es an Einsicht ermangelte von der völligen Überflüssigkeit des Unterfangens, Fische vor dem Ertrinken zu retten.

1. Dezember Geburtstag: 45 Jahre DER METZGER

Am 1. Dezember 1968 (Sonntag) wurde die erste Ausgabe von DER METZGER hergestellt (und somit ist das auch der Geburtstag der Situationspresse).
Ich weiß nicht mehr, wann ich mich entschlossen hatte, diese Zeitschrift zu gründen. Es war vielleicht gerade mal eine Woche vorher gewesen. (Früher, als wir noch Latein in der Schule hatten, nannte man sowas: Ad-hoc-Entscheidung). Ich zweifelte allerdings nicht daran, daß ich mit 64 Jahren immer noch mit der Herausgabe dieser Zeitschrift beschäftigt sein werde. (Früher nannte man sowas: Lebenswerk).
Die erste Ausgabe umfaßte 12 Seiten und enthielt eine Kurzgeschichte, einige Gedichte (auch welche von mir, oh je oh je!) und ein paar Buchhinweise. Die 12 Wachsmatrizen hatte ich am Samstagabend in einem Schwung auf meiner Reiseschreibmaschine getippt und die Überschriften und die eine Strichzeichnung mit einem Spezialstift in die Wachsmatrizen geritzt.
M01CoverIch begab mich am Sonntagnachmittag zu Fuß nach Hochfeld zu Siegfried Baumeister (hab ich den schon mal hier erwähnt?). Der hatte eine Vorkriegs-Hektografiermaschine mit Kurbelbetrieb. Da war ein Mädchen zu Besuch, eine dunkelhaarige Schönheit, die mir schon öfters bei Demonstrationen und Apo-Aktivitäten aufgefallen war und die ich unbedingt mal kennenlernen wollte. Und die half mir fleißig, die Blätter zu sortieren und zusammenzuheften, damit die Hefte am Montag Vormittag auwm Schullow verkauft werden konnten (Preis: 40 Fennich).
Das war der Anfang einer intensiven, lang(wierig)en, mehrmals von vorn beginnenden, höhepunktreichen und unbeschreiblich lustvollen Liebesbeziehung. Es lohnt sich also, Zeitschriften zu gründen.
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Mehr über die abenteuerliche Geschichte dieser verdienstvollen Zeitschrift kann man nachlesen in dem Gespräch anläßlich der hundertsten Ausgabe 2012 auf Gasolin-Connection.

Der Witz am Sonntag

Exemplarisches Vorführstück für die Witzkunde (Aufbau, Funktionsweise – eine Variation war vor einer Woche zu lesen):

Ein Lehrer erzählt von seinem Beruf:
„Furchtbar! Wenn man morgens in die Schule kommt, was erlebt man da? Dumme Nazisprüche! Angeber! Ein Benehmen wie Sau! Manche sind schon morgens um 8 Uhr besoffen.
Und die Schüler – die sind auch nicht viel besser!“

Steinbart-Gymnasium: Fragwürdige Traditionspflege (2)

Samstags nach der zweiten Stunde versammelte sich die „Schulgemeinde“ nebst stolzen Eltern, Ehemaligen, Löbenichtern, Jubilaren in der Aula zu einem würdevollen Spektakel mit Schulorchester.
Bei der traditionellen Abiturfeier fanden sich neben den Abiturienten und deren Eltern, dem Lehrerkollegium, den Schülern (ab Untertertia), den 25- und 50jährigen Abiturjubilaren und einigen Honoratioren auch die Löbenichter ein. Das Steinbart-Gymnasium unterhielt eine Schulpartnerschaft mit dem Löbenichter Realgymnasium in Königsberg.
Dieses Realgymnasium war eines allerdings nicht: real. Es war ein Erinnerungsposten. Aber die Verbundenheit wurde bei feierlichen Anlässen beschworen bzw. bekräftigt. In der Redaktion der Schulzeitung Steinbart-Blätter gab es ein Ressort „Löbenichter“. Der zuständige Redakteur hatte nichts zu tun. Was soll man schon über ein Irreal-Gymnasium berichten? Im Schulgebäude gab es sogar ein Löbenichter-Zimmer. Vielleicht gibt es das heute noch, und es wurde nur vergessen, wer den Schlüssel dafür hat. Vielleicht denkt man heute, das wäre früher das Extra-Lehrerzimmer für die Herren des Kollegiums gewesen, die nie gelobt haben.
Aber zu meiner Zeit durften die Löbenichter noch aufmarschieren. Jeder Abiturient wurde nach Überreichung des Abiturzeugnisses weitergereicht an den Löbenichter Ehrenpräsidenten, einen schon etwas hinfällig wirkenden Herrn, der den Abiturienten eine goldene Nadel, die sogenannte Alberte, an die Brust heftete. Der Mann war berüchtigt, weil er das An-die-Brust-Heften wohl wörtlich nahm.
Als ich zur Entgegennahme des Abiturzeugnisses schritt (1969), blieb mir das Erlebnis der unter die Haut gehenden Verbundenheit erspart. Das Zeugnis steckte in einer Klarsichthülle, und die Alberte war dem beigelegt. Ich war nur eine halbe Stunde lang Besitzer einer Alberte, von der ich mich leicht trennte, weil ich in ihr ein Symbol des Revanchismus sah. Beim anschließenden Empfang merkte mein Klassenkamerad Hartmut Pawlik, daß ihm die Alberte wohl aus der Hülle gefallen war, und ich sagte: „Da! Kannz meine haben.“

Steinbart-Gymnasium: Fragwürdige Traditionspflege (1)

Diesen OFFENEN BRIEF bitte ich zu beachten:

Gegen Geschichtsverfälschung am Duisburger Steinbart-Gymnasium – Für eine kritische Aufarbeitung der Schulgeschichte
Mit Entsetzen mussten wir, die diesjährigen AbiturientInnen des Steinbart-Gymnasiums, feststellen, dass unsere Abiturzeugnisvergabe für rechtsextreme und geschichtsrevisionistische Propaganda missbraucht wurde. Dabei wurden uns sogenannte „Albertinanadeln“ ausgehändigt, gemeinsam mit einem Informationsblatt, in dem von deutschen Gebietsansprüchen in Russland und Polen die Rede ist. Aus spontanem Protest verweigerten einige von uns die Annahme und stellten Nachforschungen im ebenfalls ausgehändigten Buch „Das Steinbart-Gymnasium zu Duisburg 1831 – 1981“ an.
Der Inhalt schockierte uns: Von den ermordeten und deportierten jüdischen SchülerInnen war keine Rede, dafür aber u.a. von der „nationalsozialistischen Revolution“, dem alliierten „Terrorangriff vom 13. Mai 1943“, einem „Bekenntnis zum deutschen Osten“ – mit dem Gebiete in Polen und Russland gemeint sind – seitens des Steinbart-Gymnasiums und einer totalen Verdrehung der Realität vom Kriegsende als „Katastrophe von 1945“ samt „seinem unglücklichen Ausgang“. Den Widerstandsaktionen des Antifaschisten und Steinbart-Abiturienten Harro Schulze-Boysen, den sein Engagement sein Leben kostete, wird in der Publikation ein „landesverräterischer Charakter“ unterstellt und behauptet, seine Verurteilung zum Tode durch die NS-Richter sei Ergebnis eines „in einwandfreier Form“ durchgeführten Prozesses gewesen.
Wir sind zutiefst empört. Diese Art von Geschichtsverfälschung steht im Gegensatz zu den Grundwerten einer offenen, antifaschistischen und demokratischen Gesellschaft. Schulen sollten diese Werte vermitteln und pflegen und uns zu mündigen Menschen erziehen. Wir fühlen uns daher verpflichtet, auf diesen Skandal aufmerksam zu machen und fordern eine klare Aufklärung. Dies wollen wir gemeinsam mit der Duisburger Zivilgesellschaft erwirken. Eine einfache Stellungnahme, mit dem Verweis auf das Alter des Textes lehnen wir ab: Die Auflage ist aus dem Jahre 2000, die abgedruckte AbiturientInnenliste sogar bis zum Jahrgang 2011 aktualisiert worden. Auch die Ausrede, es handele sich um ein authentisches Zeitdokument, können wir nicht gelten lassen, da mit dieser Begründung jedwede Propaganda und Literatur verbreitet werden kann.
Von der Schulleitung des Steinbart-Gymnasiums fordern wir daher:
– Eine Distanzierung von dem geschichtsrevisionistischen Inhalt des Buches „Das Steinbart-Gymnasium zu Duisburg 1831 – 1981“, sowie dessen kritische Überarbeitung nach antifaschistischen und demokratischen Werten
– Eine Aufarbeitung der Schulgeschichte im Nationalsozialismus, mit besonderem Hinblick auf ihre jüdischen und antifaschistischen Opfer
– Ein klares Bekenntnis zum antifaschistischen Widerstandskämpfer Harro Schulze-Boysen – dabei anerkennen wir die ersten bereits gemachten Schritte
Unterzeichner:
– Verschiedene SchülerInnen und Ehemalige des Steinbart-Gymnasiums
– Duisburger Netzwerk gegen Rechts
– Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN – BdA) Kreisverband Duisburg
– Jüdische Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen K.d.ö.R.
– DIE LINKE. Kreisverband Duisburg
– Friedensforum Duisburg
– Deutsche Friedensgesellschaft (DFG-VK) Duisburg
– DKP Kreisorganisation Duisburg

Harro-Schulze-Boysen-GedenkmarkeKritische Nachfragen nimmt die Schule sicher gerne hier entgegen.

Praktische Philosophie

Philosophieunterricht hatten wir nur ein Jahr lang, in der Oberprima, und zwar samstags in den letzten beiden Stunden. Das traf sich gut. Es wäre nicht so gut gewesen, die Philosophie zwischen Mathematik und Französisch zu quetschen. Die letzten beiden Stunden vor der Entlassung ins freie Wochenende sind eine gute Zeit für die Philosophie, die, wie ich finde, am besten gedeiht in einer Atmosphäre der Entspanntheit.
Vor den beiden Philosophiestunden war die große Pause. Meine Mitschüler verließen den Klassenraum. An einem Samstag nutzte ich die Gelegenheit, die Utensilien meiner Mitschüler, die auf den Tischen herumlagen, zu vertauschen. Ich nahm das Heft von diesem Tisch und legte es auf jenen, das Buch entfernte ich dort und legte es dahin, wo ich den Füllfederhalter wegnahm. Die Schultaschen leerte ich zwar nicht aus, aber verteilte sie kreuz und quer im Raum. In fünf Minuten gelang es mir, ein enormes Tausch-Pensum zu schaffen, so daß jeder, dem drei oder vier Utensilien fehlten, sie auch an drei oder vier verschiedenen Stellen ausfindig machen mußte.
Die Unterrichtsstunde in Philosophie begann mit erheblicher Verzögerung. Der Klassenraum hatte sich vorerst in eine Börse für vermißte und vorgefundene Gegenstände verwandelt. Man hätte auch mit Fug sagen können: es fand eine Übung in praktischer Philosophie statt: Aus dem Chaos zur Ordnung mit den Mitteln der Kommunikation, oder so ähnlich.
Es hätte auffallen müssen, daß ich für diesen Zustand verantwortlich war, denn ich war der einzige, der das alles lustig fand. Und: meine Utensilien waren allesamt da, wo sie hingehörten. Ich wurde darauf nicht angesprochen, wahrscheinlich deshalb, weil ich mit Abstand der Beste im Fach Philosophie war – dies aber wohl deshalb, weil Herbert Marcuse durchgenommen wurde.

Herbert Marcuse (1955)

Herbert Marcuse (1955)

Im mündlichen Abitur wurde ich über Herbert Marcuse geprüft. Auf die Frage, wie man diesen Philosophen anhand der Textpassage, die mir vorgelegt worden war, politisch verorten könne, antwortete ich: Herbert Marcuse ist ein Linker.
Für diese enorme textanalytische Leistung bekam ich die Note Eins, und später erfuhr ich, ich sei im mündlichen Abitur der Jahrgangsbeste gewesen – aber nur, weil ich in Philosophie geprüft wurde. Wäre ich in Französisch geprüft worden, wäre ich vielleicht der Jahrgangsschlechteste gewesen.