Jean-Luc Godard 1930-2022

Nicht „politische Filme“ machen, sondern „politisch Filme“ machen.

Im Kino mit Barbara. Barbara und ich: Da hatten sich aber auch zwei Kino-Freaks gefunden! In Bonn, wo ich bei ihr wohnte, war ein Kino mit täglich wechselndem Programm, und jeden Tag bis auf den letzten Platz ausverkauft: Das Woki.
Der erste Film, den wir gemeinsam sahen, war „La Chinoise“ von Jean-Luc Godard, Frankreich 1967. So einen Film, so eine Art von Film hatte ich noch nie gesehen! Barbara war mit mir gemeinsam an der Frontlinie der Avantgarde. Der Film war im französischen Original; daß es auch eine synchronisierte Fassung gibt, erfuhr ich erst Jahre später. Die hab ich auf der Festplatte und schau immer wieder ein paar Szenen daraus. Und in jeder METZGER-Ausgabe ist ein Still aus „La Chinoise“.
(aus: Juno).
Doch: Ich hatte auch vorher schon im Kino einen Film von Godard gesehen: „Le Mépris“ (Die Verachtung) von 1963 – mit strengem Jugendverbot (ich war trotzdem drin). Auch das war ein Film wie vorher noch nie gesehen, den man ganz anders ansehen mußte, um überhaupt etwas davon zu verstehen, weil er ganz anders konstruiert war. Ich erlebte verwundert, daß nach & nach etwa die Hälfte des Publikums protestierend das Kino verließ (siehe DER METZGER Nr. 40).
Später war der Film freigegeben ab 6 Jahre. Es wird schwer sein, diesen Fortschritt zu verteidigen.

Jean-Luc Godard 3. Dezember 1930 – 13. September 2022

Neu in der Weltbühne: Anne Wiazemsky über den Mai ’68 in Paris

Anne Wiazemsky: Paris, Mai ’68. Ein Erinnerungsroman. Aus dem Französischen von Jan Rhein. Verlag Klais Wagenbach 2018 (Reihe SALTO). 168 S. Fadengeheftet. Rotes Leinen. Gebunden mit Schildchen und Prägung. 18 Euro

Verlagstext:
Für die junge Schauspielerin ist alles neu: ihre plötzliche Berühmtheit und die Ehe mit Jean-Luc Godard, die Welt ihres Mannes und die Themen, die Studenten, Arbeiter und Intellektuelle auf die Barrikaden treiben.
Januar 1968. Das frisch verheiratete Paar Godard-Wiazemsky bezieht sein »Liebesnest« im Pariser Quartier Latin. Godard ist siebenunddreißig, Wiazemsky zwanzig Jahre alt. Als im Mai die Revolte losbricht, verfolgt Anne das mit Sympathie und Interesse, ohne selbst politisiert zu werden. Sie steht mit Jacques Brel vor der Kamera und nimmt gelegentlich auf Rollschuhen an den Demonstrationen teil. Anne Wiazemsky erzählt von Dreharbeiten in Italien oder von der Rückreise aus Cannes mit Gilles Deleuze, von ihrem Jugendfreund Daniel Cohn-Bendit und von der Begegnung mit den Beatles in London, wo Paul McCartney sie auffordert, mit ihm unterm Tisch Tee zu trinken. Während sie ihre Jugend und den neuen Ruhm genießt, erwachsener wird und sich befreit, radikalisiert sich Godard zusehends. Er träumt von einem revolutionären Kino und wird zugleich krankhaft eifersüchtig auf seine junge Frau.
Nach dem erfolgreichen Roman »Mein Berliner Kind« erscheint nun dieses spannende, subjektive Erinnerungsbuch voller Anekdoten – ein authentisches Zeugnis der 68er-Aufstände in Frankreich und eine berührende Liebesgeschichte.

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Fragen Sie dort nach weiteren Büchern der Autorin.
Strukturen der Aufklärung müssen gerettet werden. Weltbühne muß bleiben.

Zu Anne Wiazemsky siehe auch DER METZGER Nr. 124

Eddie Constantine

Heute vor hunderrt Jahren wurde Eddie Constantine geboren.
Er war Chorsänger in den USA, seit Ende der 40er Jahre Nachtclubsänger in London und Paris, später Nebenrollendarsteller in Filmen. Seit 1953 spielte er in einer Serie von B-Movies den „FBI-Agenten“ Lemmy Caution. Das waren komödiantische, nicht ganz ernst gemeinte Actionfilme, denen man einen gewissen selbstironischen Charme nicht absprechen konnte (mit Filmtiteln wie „Rote Lippen – blaue Bohnen“).
Später wechselte er ins Charakterfach und überzeugte in Filmen unter der Regie von Wim Wenders, Fassbinder, Geissendörfer, Godard. 1969 spielte er in der Filmbiografie des Anarchisten Malatesta von Peter Lilienthal die Titelrolle. 1975 erschien sein Roman „Der Favorit“.
In der TV-Serie „Kottan ermittelt“ parodierte er die Figur des heldenhaften Film-Detektivs Lemmy Caution, in dessen Rolle er geglänzt hatte. Das war vielleicht der Versuch, die Festlegung auf dieses Rollen-Klischee zu durchbrechen.
Sehr wirksam unterlief er das Klischee in dem Film von Jean-Luc Godard „Alphaville“ (1965 – höchste Auszeichnung auf der Berlinale). In diesem Film trat er als Lemmy Caution auf, was viele Kinogänger aufs Äußerste verblüffte, manche gar entsetzte, denn sie bekamen etwas zu sehen, was sie nicht erwartet hatten.
„Alphaville“ ist die Geschichte einer von Verwertungslogik und Entwertung des Menschen beherrschen Zukunftsstadt – einer Zukunft, die schon begonnen hat. Ein Science-Fiction-Film ohne jegliche Spazialeffekte. Die Kulisse ist die Stadt Paris, ihre Autostraßen und ihre Architektur.
„Alphaville“ ist nicht nur einer der besten Filme der Geschichte, sondern auch einer der schönsten. Der Haudrauf Lemmy Caution und der sachliche Analytiker Godard überraschten mit einer warmherzigen Botschaft, mit einem eindringlichen Plädoyer für Menschlichkeit und Poesie.

Anna Karina und Eddie Constantine in Alphaville.

Hohes C

Zwei traurige Nachrichten.

Es stand heute noch nicht in der Zeitung, gestern hörte ich es im Radio: Leonard Cohen ist am 7. November, am vorigen Montag gestorben. Er wurde 82 Jahre alt. Keine vier Wochen vor seinem Tod erschien sein letztes Album „You want it darker“.

LEONARD COHEN . CHANTEUR CANADIEN . FOLK . TOURNAGE D UN CLIP . AVEC DOMINIQUE ISSERMANN . PHOTOGRAPHE . PLAGE DE TROUVILLE . 26 JANVIER 1988 .

LEONARD COHEN . CHANTEUR CANADIEN . FOLK . TOURNAGE D UN CLIP . AVEC DOMINIQUE ISSERMANN . PHOTOGRAPHE . PLAGE DE TROUVILLE . 26 JANVIER 1988 .

Wikimedia Commons

Als die Vergabe des Literaturnobelpreises an Bob Dylan bekanntgegeben wurde, wurde vielfach erörtert, ob der Preis nicht eher oder ebensogut dem kanadischen Songschreiber hätte zuerkannt werden können. Leonard Cohen war als Lyriker im nordamerikanischen Sprachraum schon bekannt, als er sich musikalischer Arbeit zuwandte.
Daß er hierzulande als Schriftsteller nicht hinter dem Musiker verschwand, ist dem März-Verlag zu verdanken, der seine frühen Titel („Schöne Verlierer“, „Blumen für Hitler“) herausbrachte. Cohens melancholisch klingenden Songs ist es zu verdanken, daß er nie von der Schaumfabrik eines sich fortwährend banalisierenden Show-Business aufgefressen wurde. In dem Album „The Future“ (1992) bezieht er sich äußerst skeptisch auf die weltpolitischen Entwicklungen jener Jahre: „I’ve seen the future, it is murder“. Von der tumben Bedusseltheit nach dem „Fall der Mauer“ ließ er sich nicht anstecken.
Joni Mitchell hat in einigen ihrer Songs ihre Beziehung mit Leonard Cohen reflektiert (z.B. „Chelsea Morning“).

Am Dienstag, 8. November starb Raoul Coutard im Alter von 92 Jahren.
Der Name dürfte selbst unter interessierten Kinogängern nicht vielen bekannt sein. Umso nachdrücklicher wird hier an ihn erinnert.
Raoul Coutard war Kameramann des französischen Films von den 50er bis zu dem 90er Jahren. Für die meisten Filme von Jean-Luc Gorard bediente er die Kamera. Er arbeitete auch für Francois Truffaut und Costa-Gavras. Der fortschrittlichen Stellung des französischen Films verpflichtete er sich auch als Regisseur: in dem Vietnam-Drama Hoa Binh (1969) und in „S.A.S. – Terreur à San Salvador“ (1983), einem Film über die Todesschwadronen und die Ermordung des Bischofs Oscar Romero durch die Faschisten.
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Die Autoren der Nouvelle Vague erweiterten die Bildsprache des Kinos, das der Essayistik filmische Möglichkeiten verschaffen sollte. Die Stilrichtung des progressiven, emanzipatorischen, kritisch-analytischen Films wurde von Raoul Coutard nicht weniger geprägt als von den Theoretikern und Regisseuren, mit denen er zusammenarbeitete.

alphavilleAlphaville von Jean-Luc Godard (1965) ist einer der erstaunlichsten, gewagtesten und am schönsten fotografierten politischen Filme. Anna Karina, Eddie Constantine.

Alles war, nix is mehr (8) oder Auf der Suche nach der fröhlichen Wissenschaft

nixis47Die Firma gibt‘s also noch. Die heißt auch noch so. Und die sieht ja auch noch fast genauso aus wie „zu meiner Zeit“. Aber ob die Firma noch mit Fug als „Hort der fröhlichen Wissenschaft“ aufgefaßt werden kann, steht dahin.
Imposante Schmiede-Eisen-Architektur! Links, wo ich einst eintrat, ist jetzt geschlossen. Dafür kann man jetzt durch die Mitte gehen. So ändern sich die Zeiten.

nixis48Das Ganze von der anderen Seite betrachtet (von Norden – der Norden heißt hier: Wittekindstraße). Blick über den Schullow. Die „Löbenicht-Eiche“ (hinten links) überragt inzwischen die Gebäude. Kaum einer wird wissen, daß die Eiche so heißt. Darum braucht man sie auch nicht zu fällen. Sie kann ja nichts dafür. Als ich hier als Sextaner meine Laufbahn begann, war die Eiche gerade gepflanzt worden und diente in ihrer jugendlichen Mickrigkeit als Symbol für die Dürre der heimatvertriebenverbandlichen Phrasen. Das möchte ich nämlich am heutigen Tag den Nachrufen auf die Genossin Margot Honecker entgegenstellen: Wir sollten im Kalten Krieg zu linientreuen Anhängern des westdeutschen Revanchismus erzogen werden, was nicht so recht hinhaute.

nixis49Dort hinter dieser Skulptur, die wohl irgendwas symbolosiert oder von jemandem gestiftet wurde oder beides ist der Vordereingang, der aber nie benutzt wurde, sondern nur der Vornehmheit diente.
Ich träume aber oft, durch diese Tür ins Freie zu treten. Das ist dann eine Situation des Entkommens.
Der Park war der Pausenhof für die Oberstufe (zu betreten durch die bescheidene Tür des „Neubaus“).
Der Park ist heute eingezäunt. Das Foto entstand zwischen zwei Zaunlatten.

nixis50Der „Neubau“ (Anbau) diente der Exklusivität der Oberstufe. Dort hinter jenen Fenstern im ersten Obergeschoß strebte ich als Oberprimaner dem Finale entgegen.
Die Firma litt permanent an Raum-Mangel, woran sich nichts geändert haben dürfte, weil heutzutage alle Eltern davon überzeugt zu sein scheinen, daß ihre zehnjährigen Kinder (mindestens: hochbegabt) unbedingt aufs Gymnasium gehen müßten und somit das Mittelmaß dort die Gänge verstopft. Und dann auch noch: Verkürzter Bildungsgang.
Aus lauter Verzweiflung wurde dem Neubau ein Anbau (dem Anbau ein Neubau) hinzugebaut.
Ich dachte damals: Hier lernt man zu wenig. Ich erwartete mehr Leistung von dem Bildungsunternehmen. Aber als Hort der fröhlichen Wissenschaft konnte das Unternehmen durchaus gelten (nicht im Nietzscheschen, sondern im Godardschen Sinne).
Zwei wertvolle Bldungsinhalte konnte ich mir auf der Oberschule aneignen:
1. Die Fähigkeit, mich in mißlichen Situationen irgendwie durchzuwurschteln und rauszuwinden,
2. Quatschmachen (auf einem gewissen intellektuellen Mindestniveau) und den Wert dieser Fähigkeit erkennen.
Ich könnte noch als Drittes erwähnen: Die Erkenntnis, daß man die wichtigsten Kenntnisse und Befähigungen als Autodikakt sich selbst beibringen muß.

nixis51FORTSETZUNG FOLGT.

Backlash (1)

An einem Tag in zwei verschiedenen Quellen. Zufall? Gibt es Zufälle? Gibt es Zufälle im Gesellschaftlichen?
Für die Versachlichung des Umgangs mit der Sexualität allgemein und der Prostitution speziell kämpfen selbst die Götter vergebens (was den Kampf für die Versachlichung des Umgangs mit der Sexualität allgemein und der Prostitution speziell nicht überflüssig, aber eben beschwerlicher macht – und wir sind ja auch keine Götter).
Im Leserbriefteil der Frankfurter Rundschau (16. November) werden die unpräzisen, dafür aber erregenden Reizvokabeln wieder aneinandergereiht: „die bezahlte sexuelle Nutzung von Frauenkörpern“, „den Körper von Frauen für Geld kaufen zu können“, was so ja gar nicht stimmt, aber förcherbar klingelt.
Die Rote Fahne der MLPD (Nr. 5 vom 13. November) will sich von dem, was sie für die Volksmassen hält, nicht isolieren, sondern wie ein Fisch im Wasser mitschwimmen bzw. als Empörter mit den Empörten heulen.
Jaja, die Linken und der Sex! Die haben alle eine kleine Emma im Ohr.

Das müßte alles noch Wort für Wort auseinandergefaltet werden. Kommt noch.
Dabei ist es doch schon besser zusammengefaßt worden als ich es formulieren könnte (in DER METZGER Nr. 108).

Frau Ganowski, übernehmen Sie!
LGZweiOderDreiHier klicken zum Artikel.

Ist die Einfalt wirklich hold?

„Holde Einfalt – stille Größe“ (siehe vorgestern) ist ein „Geflügeltes Wort“. Darunter versteht man Zitate, die sprichworthaft in den Sprachschatz eingingen, sozusagen „flügge wurden“. Meist in der Ursprung nicht mehr bewußt, und oft weichen sie vom ursprünglichen Wortlaut ab.
So auch hier. „Holde Einfalt – stille Größe“, das ist nicht von Goethe, wie oft angenommen wird, sondern von Johann Joachim Winckelmann (1717-1768). Und der meinte: „Edle Einfalt – stille Größe“.
Fällt es Ihnen auch nicht leicht, Einfalt als „hold“ oder „edel“ sich vorzustellen? Allzu oft ist geistige Geringentwicklung mit unholden und unedlen Zügen verknüpft.
Winckelmann bezog die große Einfalt beziehungsweise einfältige Größe auf die antike Kunst Griechenlands, die er als nachahmenswertes Beispiel der von ihm wenig geliebten Üppigkeit des Rokoko entgegenstellte:
„Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“
Jaja, das Land der Griechen mit der Seele suchen undsoweiter. Die Götter, Göttinnen und Heroen im Olymp werden im 18. Jahrhundert gedacht haben: „Für die deutschen Idealisten sind wir das, was deren zu sich einfällt.“
Doch genug gespottet über die Weimarer Klassik, die ja auch Fortschritt in Bewegung setzte, das will ich hier nicht vergessen.
Winckelmann gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Archäologie und der wissenschaftlichen Kunstgeschichte. Eine seiner elementaren Thesen jedoch wurde von der Nachwelt erschüttert. Er hatte darauf abgehoben, daß die antike Architektur und Bildhauerei fast ausschließlich Werke in Weiß hinterlassen hat. Dies wertete er als Charakteristikum antiker Idealität. Die neuere Wissenschaft geht davon aus und kann auch belegen, daß Gebäude und Skulpturen der Alten Griechen durchaus oftmals bemalt waren und daß die Farben die Jahrhunderte nur nicht überdauerten.
GodardsPoseidonDiese scheinbar gealterte Poseidon-Statue entstand in Cinecitta für den Film „Le Mépris“ von Jeanluc Godard, Italien/Frankreich 1963.
kallipygosIch frage mich: Wie könnte die wunderschöne Statue der Aphrodite Kallipygos (die gar nicht so einfältig, sondern recht durchtrieben sich ihres Liebreizes erfreut und alle Menschen guten Willens daran teilhaben läßt) ursprünglich gefärbt gewesen sein?
kallipygos-lilacSo vielleicht?
kallipygos-gruenOder so?