Alles war, nix is mehr (8) oder Auf der Suche nach der fröhlichen Wissenschaft

nixis47Die Firma gibt‘s also noch. Die heißt auch noch so. Und die sieht ja auch noch fast genauso aus wie „zu meiner Zeit“. Aber ob die Firma noch mit Fug als „Hort der fröhlichen Wissenschaft“ aufgefaßt werden kann, steht dahin.
Imposante Schmiede-Eisen-Architektur! Links, wo ich einst eintrat, ist jetzt geschlossen. Dafür kann man jetzt durch die Mitte gehen. So ändern sich die Zeiten.

nixis48Das Ganze von der anderen Seite betrachtet (von Norden – der Norden heißt hier: Wittekindstraße). Blick über den Schullow. Die „Löbenicht-Eiche“ (hinten links) überragt inzwischen die Gebäude. Kaum einer wird wissen, daß die Eiche so heißt. Darum braucht man sie auch nicht zu fällen. Sie kann ja nichts dafür. Als ich hier als Sextaner meine Laufbahn begann, war die Eiche gerade gepflanzt worden und diente in ihrer jugendlichen Mickrigkeit als Symbol für die Dürre der heimatvertriebenverbandlichen Phrasen. Das möchte ich nämlich am heutigen Tag den Nachrufen auf die Genossin Margot Honecker entgegenstellen: Wir sollten im Kalten Krieg zu linientreuen Anhängern des westdeutschen Revanchismus erzogen werden, was nicht so recht hinhaute.

nixis49Dort hinter dieser Skulptur, die wohl irgendwas symbolosiert oder von jemandem gestiftet wurde oder beides ist der Vordereingang, der aber nie benutzt wurde, sondern nur der Vornehmheit diente.
Ich träume aber oft, durch diese Tür ins Freie zu treten. Das ist dann eine Situation des Entkommens.
Der Park war der Pausenhof für die Oberstufe (zu betreten durch die bescheidene Tür des „Neubaus“).
Der Park ist heute eingezäunt. Das Foto entstand zwischen zwei Zaunlatten.

nixis50Der „Neubau“ (Anbau) diente der Exklusivität der Oberstufe. Dort hinter jenen Fenstern im ersten Obergeschoß strebte ich als Oberprimaner dem Finale entgegen.
Die Firma litt permanent an Raum-Mangel, woran sich nichts geändert haben dürfte, weil heutzutage alle Eltern davon überzeugt zu sein scheinen, daß ihre zehnjährigen Kinder (mindestens: hochbegabt) unbedingt aufs Gymnasium gehen müßten und somit das Mittelmaß dort die Gänge verstopft. Und dann auch noch: Verkürzter Bildungsgang.
Aus lauter Verzweiflung wurde dem Neubau ein Anbau (dem Anbau ein Neubau) hinzugebaut.
Ich dachte damals: Hier lernt man zu wenig. Ich erwartete mehr Leistung von dem Bildungsunternehmen. Aber als Hort der fröhlichen Wissenschaft konnte das Unternehmen durchaus gelten (nicht im Nietzscheschen, sondern im Godardschen Sinne).
Zwei wertvolle Bldungsinhalte konnte ich mir auf der Oberschule aneignen:
1. Die Fähigkeit, mich in mißlichen Situationen irgendwie durchzuwurschteln und rauszuwinden,
2. Quatschmachen (auf einem gewissen intellektuellen Mindestniveau) und den Wert dieser Fähigkeit erkennen.
Ich könnte noch als Drittes erwähnen: Die Erkenntnis, daß man die wichtigsten Kenntnisse und Befähigungen als Autodikakt sich selbst beibringen muß.

nixis51FORTSETZUNG FOLGT.

Bilder einer Wanderung (1-8)

Die katholischen Hochfeste, die in den Frühling fallen, wenn es lange hell bleibt, und die zudem gesetzliche Feiertage sind („Christi Himmelfahrt“, Pfingstsonntag, „Fronleichnam“) nutze ich für ausgedehnte Wanderungen durch Wälder, Felder und Siedlungen – ich sagte es bereits.
Die dafür verwendete Zeit ist Arbeitszeit. Denn im weiten Horizont werden Arbeiten vorbereitet. Man erinnere sich an Nietzsche: „Mißtraue einem Gedanken, der nicht beim Gehen entstanden ist.“ Soll heißen: Einen Gedanken, der beim Gehen entstanden ist, klann man schon fast vertrauen.

ch2015-01Der Wambachsee.
Denken Sie dran: Alle Bilder kann man durch Anklicken vergrößern.

ch2015-02Der Wambachsee an anderen, schmalen Ende. Das Nordufer vom Südufer aus gesehen. Am Nordufer reihen sich Privatgrundstücke aneinander, die bis zum Seeufer reichen. Privatufer. Früher war sowas nicht nur möglich, sondern auch denkbar.
Nun soll das letzte Stückchen frei zugängliches Ufer auch noch einem Villenerbauer überlassen werden.
Warum werden die Stadtplaner nicht einfach aus der Stadt gejagt? Ist von denen jemals etwas Erfreuliches gekommen?

ch2015-03Auf der schmalen Landenge zwischen dem Wambachsee und dem Haubachsee ist ein großer Kinderspielplatz. Nähert man sich, hört man an solchen Tagen die hellstimmige Spielfreude der Kinder. Sich als einzelner Mann mit einem Fotoapparat zu nähern ist allerdings lebensgefährlich. Fotos von Kindern!
Eine unaufgeklärte Gesellschaft entsteht nicht allein durch zu geringe Verbreitung der Aufklärung, sondern mehr noch durch eine zu große Verbreitung der Dummheit. In der Warengesellschaft ist auch die Dummheit ein Produkt.

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ch2015-08Hier habe ich gearbeitet, auch an Wochenenden. Auch an Feiertagen: Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Duisburg-Buchholz. Die Last der (wirklich sehr schweren) Arbeit war dadurch halbiert, daß mein Job bis zum 31. Oktober 1971 befristet war – Und dann hatte ich noch so viel Resturlaub, daß ich schon einige Wochen vorher adieu sagen konnte.

WIRD FORTGESETZT.

DER METZGER wird 100: Schreibmütze? Nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee. nee!

Ein weiterer Auszug aus „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“ in DER METZGER Nr. 100 (Mai 2012):

Pelikan: Wie schreibst du? Computer? Maschine? Hand? Bleistift? Füllfederhalter Marke Pelikan?

Computer.

Pelikan: Wo schreibst du? Wann schreibst du?

Ich schreibe in der Abgeschiedenheit meiner vier Wände, nachts, meistens samstags nachts, weil man dann Zeit hat, weil am nächsten Tag kein Wecker klingelt. Und so dehne ich den Samstagabend mitunter bis zum Sonntagvormittag aus.

Pelikan: Du hast doch gesagt, du hörst eh‘ keinen Wecker.

Eben. Sonntags habe ich ja meistens nichts vor und kann dann Ende offen arbeiten, brauche nicht darauf zu achten, daß ich ja dann doch mal abbrechen müßte, weil ich ein bißchen Schlaf brauche. Ich kann die Samstag Nacht ausdehnen. Ich gehe dann schlafen, wenn die Spätaufsteher sonntags aufstehen.

Pelikan: Du schreibst jeden Samstag?

In der Regel ja.

Pelikan: Nur für den Metzger? Oder überhaupt schreiben?

Überhaupt schreiben. Ich schreibe ja, was ich früher nicht für möglich gehalten habe, auch für die Schublade, wo ich gar keine Vorstellung davon habe, ob das jemals und wie das jemals veröffentlicht werden sollte.
Und im Schlafanzug. Ich sitze da im Schlafanzug. Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, den Schlafanzug nicht erst dann anzuziehen, wenn ich mich zu Bett lege, sondern sobald ich zu Hause bin und dann am Abend nichts mehr vorhabe, also nicht mehr aus dem Haus gehen muß. In meinen vier Wänden bin ich ein Fanatiker der Behaglichkeit. Brecht sagte schon: Zum Lernen soll man eine bequeme Haltung einnehmen. Bequemlichkeit der Haltung macht den Kopf frei. Dann kann man denken, wenn man sich völlig entspannen kann.
Es sind immer zwei Arbeitsphasen: Die Rohfassung, und dann gründliche Überarbeitung.

Pelikan: Wenn du soweit bist, daß du glaubst, daß du das komplette Material für einen METZGER zusammen hast? Oder nach jedem Artikel?

Nach jedem Stück. Das wird erst in der Rohfassung hergestellt, und dann wird es gründlich überarbeitet.
Das ist aber nicht alles. Das „Schreiben“ fängt eigentlich schon vorher an, ohne den Bildschirm und die Tastatur vor mir zu haben. Nämlich: Ich mache sehr gern sehr ausgedehnte Spaziergänge. Da setzen sich Assoziationsketten in Gang. Wenn ich von einem Spaziergang – die dauern manchmal einen halben Tag – zurückkomme, dann zieht es mich an den Schreibtisch, dann habe ich Einfälle gehabt. In der letzten Zeit bin ich auch viel mit dem Fotoapparat unterwegs. Ich hab mir überlegt: Man könnte gut die Texte illustrieren mit den Bildern von den Landschaften, die ich gesehen habe, als mir das einfiel. Dann denken die Leute: Was hat denn jetzt diese Landschaftsaufnahme mit dem Thema zu tun? Das ist ein sehr enger Zusammenhang. Man sieht das, was ich gesehen habe, während mir das eingefallen ist.
Ich erinnere an Friedrich Nietzsche, der mal gesagt hat: Mißtraue einem Gedanken, der nicht beim Gehen entstanden ist.
Was sich im Laufe der Zeit auch verändert hat: früher waren meine Arbeiten immer nach Gattungen unterscheidbar. Dann habe ich eine Glosse geschrieben, dann habe ich einen Aufsatz geschrieben. Heute verbindet sich das alles. Man kann den einen oder anderen Text ebenso der erzählenden Prosa wie der Essayistik zuordnen.
In der Nationalbibliografie habe ich über mich gelesen: Helmut Loeven, geboren 1949, Glossenschreiber. Das ist alles, die gesamte Biografie, die in der Nationalbibliothek drinsteht. Das ist nicht ganz falsch.
Ich habe früher oft sehr lange Aufsätze geschrieben, und hab dafür gesammelt und recherchiert und Notizen gemacht und alle in einen Kasten reingelegt, Zeitungsausschnitte, die dazu paßten. Heute mache ich das anders. Ich erinnere mich an ein Zitat von Karl Kraus, der mal gesagt hat: Ich achte auf das, was der Wind durchs offene Fenster hineinweht. Also das, was ich so mitkriege, ohne daß ich etwas hinterherlaufen müßte. Und das, was mir so einfällt, oder woran ich mich plötzlich erinnere. Ich hab beim letzten Klassentreffen, als über Sachen von früher erzählt wurde, und wo ich gesagt habe: Neenee, das war gar nicht so, das war ganz anders, oder das hat der nicht so gesagt, sondern der hat das so gesagt, da sagte man mir: Mensch, du hast ja ein fotografisches Gedächtnis. Da habe ich gesagt: Erinnern ist meine Hauptbeschäftigung. Das ist vielleicht auch die Kunst. Es gibt allerdings auch Erinnerungstechniken. Zum Beispiel suche ich gerne Orte auf, die ich von früher kenne, manchmal nach Jahren oder nach Jahrzehnten. Das setzt Assoziationsketten und Erinnerungsketten in Gang.


Ich produziere nicht pure Texte. Das pure Schreiben würde mich nicht interessieren. Sondern ich überlege immer auch, wie das zu präsentieren ist. Also beim Schreiben auch an Typographie denken, wie ein Text illustriert wird, also einen Text nicht nur schreiben, sondern den auch edieren, also Fläche gestalten, mit Bildern in Zusammenhang bringen. Ein Text ist auch ein Bild.
Ich zeichne auch Karikaturen, und das geht bis zum Film.
Ich mache mir auch immer Gedanken darüber: Ein Text muß klingen. Wenn ich was schreibe, dann überlege ich: Wie klingt das? Denn die ursprünglichste Form der Literatur ist ja nicht das Geschriebene und Gelesene, sondern das Gesprochene und Gehörte. Die ersten Lyriker waren die Bänkelsänger, die ersten Prosaisten waren die Märchenerzähler auf dem Marktplatz. Ich finde: Auch Prosa muß einen Rhythmus haben. Man muß immer darauf achten: Wie klingt das, was ich da schreibe. Darum halte ich auch gerne Vorträge vor Publikum.

Die Hüttenschenke in Hüttenheim.
Was will der Künstler damit sagen?

Pelikan: Samstags ist dein Schlafanzug also quasi dein Schreibanzug.

Das ist meine Arbeitskleidung. Vielleicht fragt mich mal jemand, ob ich mir nicht vielleicht auch noch ‘ne Schlafmütze aufsetzen sollte. Aber ich wüßte nicht, inwieweit die Schlafmütze, die Zipfelmütze zur Steigerung der Behaglichkeit beitragen könnte. Eine Schlafmütze ist nicht nötig.

Pelikan: Eine Schreibmütze brauchst du nicht.

Schreibmütze? Nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee. nee.

Das ganze Gespräch ist auf Papier nachzulesen in DER METZGER Nr. 100,
und im Netz bei Gasolin Connection.
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Die Ausgaben ab Nr. 18 (1972) sind noch erhältlich. Die Ausgaben Nr. 1-17 (1968-1972) sind vergriffen.