Amoklauf der Moral

Polanski2015Da die (sich unschuldig vorkommende) „Verfolgende Unschuld“ kein Maß hält (weder zeitlich, noch, wie man sieht, territorial), wollen auch wir uns gern wiederholen.
Dieser dreiseitige Doppel-Kommentar erschien in DER METZGER 87 (2009). Es geht darin vor allem darum, daß diese Affäre, an der nur die Lachhaftigkeit ihrer Vorantreiber zum Lachen ist, auch in unserem Kulturkreis (Kulturkreis) von Hinterherläufern geschätzt wird, die was ins Trockene bringen wollen:
M87SittUKrimFaksimOhne Lupe kann man ihn lesen, Wenn man das Wort „Klick“ anklickt: KLICK!

„Die vernichtende Gewalt des Redlichen“

Zitat:
Thomas Fischer in der „Zeit“ (6. März 2014):

[…]
Das Strafrecht lebt – wie jede andere formelle oder informelle Sanktionierung abweichenden Verhaltens – davon, dass es klare gesetzliche Grenzen zieht zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten. Diese Grenzen sind nicht zu dem Zweck erfunden worden, Staatsanwälten Anhaltspunkte für den Start von Vorermittlungen oder für die Anberaumung von Pressekonferenzen zu geben, sondern allein um der Bürger willen. Die wollen nämlich, seit sie sich als Bürger und nicht als Untertanen verstehen, eine Staatsgewalt, die die Guten und die Bösen voneinander scheidet, ohne zu diesem Zweck zunächst alle des Bösen zu verdächtigen und auch so zu behandeln.
Wenn nun aber die, die das Erlaubte tun, „nach kriminalistischer Erfahrung“ stets auch das Unerlaubte tun und deshalb, gerade weil sie Erlaubtes tun, vorsorglich schon einmal mit Ermittlungsverfahren überzogen werden müssen, hat die Grenzziehung jeden praktischen Sinn verloren. Strafrechtspraktisch befinden wir uns dann wieder im Zustand von Tombstone zu Zeiten von Wyatt Earp und Konsorten, als die Frage, wer Staatsgewalt sei und wer Räuber, noch offen war: Der vernichtenden Gewalt des Redlichen kann nur entkommen, wer sie freudig begrüßt und aktiv unterstützt. Gerechtfertigt wird dies mit der goldenen Regel aller Stammtische: Wer nichts zu verbergen hat, muss auch nichts befürchten.
[…]
Vielleicht sollte sich der Rechtsstaat – jedenfalls vorläufig, bis zum Beweis des Gegenteils – bei dem Beschuldigten Sebastian Edathy einfach entschuldigen. Er hat, nach allem, was wir wissen, nichts Verbotenes getan. Vielleicht sollten diejenigen, die ihn gar nicht schnell genug in die Hölle schicken wollen, vorerst einmal die eigenen Wichsvorlagen zur Begutachtung an die Presse übersenden. Vielleicht sollten Staatsanwaltschaften weniger aufgeregt sein und sich ihrer Pflichten entsinnen. Vielleicht sollten Parteipolitiker ihren durch nichts gerechtfertigten herrschaftlichen Zugriff auf den Staat mindern. Vielleicht sollten aufgeklärte Bürger ernsthaft darüber nachdenken, wo sie die Grenze ziehen möchten zwischen Gut und Böse, zwischen dem Innen und Außen von Gedanken und Fantasien, zwischen legalem und illegalem Verhalten. Zwischen dem nackten Menschen und einer „Polizey“, die alles von ihm weiß.

Thomas Fischer ist Vorsitzender Richter des Zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs.

OscarWildeMoral..

Verfolgende Unschuld

Eine Freundin erzählte mir, was ihre 9jährige Tochter ihr berichtet hatte: Sie war mit einer Schulfreundin auf dem Weg von der Schule nach Hause. „Und da kam so‘n Mann, der hat sein Pimmelchen gezeigt. Der war vielleicht doof!“ Damit war für das Kind die Sache erledigt. Der Mann war für das Kind nicht ein Verbrecher, nicht ein „Unhold“, sondern schlicht ein Blödmann. Fertig.
„Wenn ich mich ‚korrekt‘ verhalten hätte, hätte ich meine Tochter zu so einer Emanzengruppe schleppen müssen, und die hätten sie doch erst richtig traumatisiert.“ Ich sagte: „Die hätten deine Tochter so lange in die Mangel genommen, bis sie gestanden hätte, schockiert gewesen zu sein.“

Zitat:
„Die Deutschen sind besessen, jede Sache so weit zu treiben, daß etwas Schlimmes daraus wird.“
(George Bernard Shaw)

Zitat:
„Woher weiß die verfolgende Unschuld eigentlich, daß der Mißbrauch ein Mißbrauch war? Das ‚Opfer‘ von Polanskis Übergriff, heute eine 40jährige Mutter von drei Kindern, hat mehrmals darum gebeten, den Fall ruhen zu lassen, sie hege gegen den Beschuldigten keinen Groll. Und sie gab bekannt: Nicht so sehr der Übergriff von Polanski habe ihr zugesetzt, dafür aber viel mehr die Verhöre, denen sie danach unterzogen wurde.“
(Lina Ganowski: „Verfolgende Unschuld“ in DER METZGER 87)

Blinde Empörung

BlindFaithHad To Cry Today; Can’t Find My Way Home; Well All Right; Presence Of The Lord; Sea Of Joy; Do What You Like. Eric Clapton (Gitarre), Ginger Baker (Schlagzeug), Steve Winwood (Orgel, Klavier und Gesang), Ric Grech (Bass, Violine). Blind Faith 1969
„Für das Cover der amerikanischen Ausgabe wurde daher stattdessen ein neutrales Foto verwendet.“

P.S.: Ist es nicht erstaunlich, daß Frau Alieze S. zum Edathy-Skandal ihren Senf nicht hat erschallen lassen? Was Steuerangelegenheiten doch manchmal für angenehme Wirkungen nach sich ziehen!

Let the Children Play oder Die Reaktion des Gemütes auf die Katastrophe ist eine Katastrophe

In der WAZ regte eine LeserInnenbriefschreiberIn an, gegen den „massenhaft zunehmenden“ sexuellen Mißbrauch ihrer Kinder müßten die Mütter endlich einschreiten: Mütter müßten sich absprechen, daß sie gemeinsam ihre Kinder morgens bis zum Schultor bringen und mittags an der Schule abholen und sie dann keine Sekunde aus den Augen lassen, bis sie sicher zu Hause angekommen sind.
Dann ist die Welt ja wohl endlich in Ordnung: Wenn Kinder stumm und brav keinen unbewachten Schritt mehr tun. Man muß sich das bildlich vorstellen: Dick gewordene Damen, die in der Mutterschaft ihre Erfüllung fanden und die nun entschlossen sind, die Sache in die Hand zu nehmen, bilden eine Eskorte.
Ich erinnere mich an meinen Schulweg. Wir gingen gemeinsam, hatten mittags um eins die Last der Schule von uns geworfen, lästerten, quatschten, alberten herum, machten Umwege, heckten Sachen aus, die für Erwachsenenohren nicht bestimmt waren. Unser Schulweg war eine Reise, auf der man das Leben entdecken konnte. Eine halbe Stunde lang hatten Lehrer und Eltern keinerlei Macht. In der erwachsenenfreien Zone haben wir die Welt erschaffen.
Sie geht unter.

„Der Wurzel auf den Grund gehen“

Wer möchte in der Haut von Daniel Cohn-Bendit stecken? Er selbst ja auch nicht.
Man stelle sich vor, man hätte, als Zeitreisender, den Leuten, die 1968 von dem Linksüberholer kolossal beeindruckt waren, seine heutigen Zitate vorlegen, seine heutige Haltung referieren können. Eine unglaubliche Geschichte wäre das gewesen. Cohn-Bendit aber versteht sich in der Kunst, seine – na sagen wir mal: establishmentkompatiblen Auffassungen von heute zu verkünden und zugleich seinen Nimbus als Aufrührer im Pariser Mai zu wahren.
Doch die Geschichte hat einen Knacks bekommen, weil die verfolgende Unschuld mit seiner Offenbarung hausieren geht, er habe in den roaring Seventys Mädchen im Vorschulalter seinen Pillemann gezeigt (siehe DER METZGER 106). Na sowas!
Es gibt allerdings Bescheidwisser, denen schon, als Cohn-Bendit die Bühne der Zeit betrat, klar war, wie es mit dem mal enden wird.
„Warum geht er (Cohn-Bendit) der Wurzel seines Verhaltens nicht auf den Grund?“ fragt die Rote Fahne der MLPD. (Wenn man die Denkweise im Griff hat, kommt es auf die Schreib-Weise nicht so sehr an, und auch eine Doppel-Metapher ist statthaft).
Cohn-Bendits Windungen – und vor allem seine Wendungen haben nach Meinung der Roten Fahne ihre Wurzel in der Weltanschauung. Weil er nicht die richtige hatte, sondern eine falsche, und weil er nicht zur richtigen gefunden hat, mußte sein Weg der falsche sein.
„Wie soll eine Aufarbeitung (von Cohn-Bendits Kinderkram) aussehen? Wird sie wirklich kritisch-selbstkritisch durchgeführt und vertieft – auch bis zu ihrem weltanschaulichen Kern?“ fragt die Rote Fahne.
Den „weltanschaulichen Kern“ hat die MLPD patentiert: „Willi Dickhut … kritisierte Daniel Cohn-Bendit bereits 1970 grundsätzlich in seinem Buch ‚Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung‘.“ Zitat: „Cohn-Bendit proklamiert offen den (bürgerlichen) Individualismus. Es geht hier gar nicht darum, ihm persönlich bösen Willen zu unterstellen – es kommt nur darauf an, objektiv festzustellen, daß er eindeutig eine bürgerliche und keinesfalls eine proletarische Auffassung vertritt.“
CohnBenditAlso: Eine Proklamation ist immer „offen“. Sonst wäre es keine. Eine Geheim-Proklamation gibt es nur in „Arsen und Spitzenhäubchen“.
Dafür, daß die „richtige Weltanschauung“ vor Torheit schützt, ist diese Beweisführung untauglich, führt man sich nur vor Augen, welchen Weg so mancher gegangen ist, der in der KPD/ML und im KABD die „proletarische Denkweise“ mit Löffeln gefressen hat.
Kleine Pikanterie am Rande: Ein Buch mit dem Titel „Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung“ von dem Autor Willi Dickhut gibt es gar nicht. Es handelt sich um ein dünnes Heft aus der Reihe „Revolutionärer Weg“ (Theoretisches Organ der KPD/ML). Zwar war Willi Dickhut das einzige Mitglied des Redaktionskollektivs, aber just diese Nummer 3 hat er nicht geschrieben, sondern ein anderer: ein Hochschullehrer, dessen aus einer Silbe bestehender Name hier nicht erwähnt wird, der übrigens auch mal einen Beitrag für den METZGER beigesteuert hat.
Als die Partei von Intellektuellen „gesäubert“ wurde, lautete der Vorwurf, er habe den Antiautoritarismus, der eben ein Problem der Intellektuellen sei, vorgeschoben, um vom Kampf gegen den „Revisionismus“ abzulenken.

Ein Appell gegen die Kriminalisierung der Sexualität

Ein Appell gegen die Kriminalisierung der Sexualität,
gegen den Amoklauf der Moral,
gegen rechte Phrasen und das „Gesunde Volksempfinden“,
gegen konservativen Pseudo-Feminismus, gegen Alice Schwarzer
gegen die Rückkehr in die 50er Jahre.

Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistung
Für die Stärkung der Rechte und für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen in der Sexarbeit
Dienstag, 29. Oktober 2013

Prostitution ist keine Sklaverei. Prostitution ist eine berufliche Tätigkeit, bei der sexuelle Dienstleistungen gegen Entgelt angeboten werden. Ein solches Geschäft beruht auf Freiwilligkeit. Gibt es keine Einwilligung zu sexuellen Handlungen, so handelt es sich nicht um Prostitution. Denn Sex gegen den Willen der Beteiligten ist Vergewaltigung. Das ist auch dann ein Straftatbestand, wenn dabei Geld den Besitzer wechselt.
Prostitution ist nicht gleich Menschenhandel. Nicht nur Deutsche, sondern auch Migrant_innen sind überwiegend freiwillig und selbstbestimmt in der Sexarbeit tätig. Prostituierte, egal welcher Herkunft, pauschal zu Opfern zu erklären, ist ein Akt der Diskriminierung.
Obwohl Prostitution im Volksmund als das älteste Gewerbe der Welt gilt, ist sie in den wenigsten Ländern als Arbeit anerkannt. Im Gegenteil, Sexarbeiter_innen werden in den meisten Teilen der Erde verfolgt, geächtet und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Deshalb fordern Sexarbeiter_innen weltweit die Entkriminalisierung der Prostitution und ihre berufliche Anerkennung.
Diesen Gedanken verfolgte auch die Bundesrepublik mit der Einführung des Prostitutionsgesetzes im Jahre 2002. Durch die rechtliche Anerkennung hat sich die Situation für Sexarbeiter_innen in Deutschland verbessert. Sie können ihren Lohn einklagen und haben die Möglichkeit, sich zu versichern. Außerdem ist die Schaffung angenehmer Arbeitsbedingungen und Räumlichkeiten nicht mehr als „Förderung der Prostitution“ strafbar. An den Rechten der Polizei, Prostitutionsstätten jederzeit zu betreten, hat das Gesetz nichts geändert. Die Zahl der Razzien hat seitdem zugenommen.
Zwar hat das Prostitutionsgesetz Schwächen und eine Reform wäre notwendig. Das Hauptproblem ist jedoch nicht das Gesetz selbst, sondern der fehlende Wille zu seiner Umsetzung in den einzelnen Bundesländern.
Entgegen vieler Behauptungen ist das Prostitutionsgesetz nicht für den Menschenhandel in Deutschland verantwortlich. Wie aus dem Lagebericht „Menschenhandel“ des BKAs hervorgeht, hat die Zahl der identifizierten Opfer seit seiner Einführung sogar abgenommen. Auch in Neuseeland, wo Prostitution seit 2003 als Arbeit anerkannt ist, ist keine Zunahme des Menschenhandels zu verzeichnen.
Zu den Faktoren, die Menschenhandel begünstigen, zählen globale Ungleichheiten, restriktive Migrationsgesetze sowie die Rechtlosigkeit der Betroffenen. Eine erfolgreiche Bekämpfung von Menschenhandel erfordert umfassende strukturelle Reformen auf globaler Ebene und einen menschenrechtsbasierten Ansatz.
Eine Kriminalisierung der Kund_innen, die erotische Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ist zur Lösung dieser Probleme ungeeignet. Das sogenannte „Schwedische Modell“ hat zwar die sichtbare Straßenprostitution verdrängt, aber weder die Prostitution an sich, noch den Menschenhandel nachweislich reduziert. Die Arbeitsbedingungen haben sich indes extrem verschlechtert. Dänemark und Schottland lehnen die Einführung des „Schwedischen Modells“ bereits ab.

Darum fordern wir:
Beteiligung von Sexarbeiter_innen an politischen Prozessen, die sich mit dem Thema Prostitution befassen.
Keine Ausweitung der Polizeibefugnisse und keine staatliche Überwachung oder Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten.
Keine Kriminalisierung der Kund_innen, weder nach dem Schwedischen, noch nach einem anderen Modell.
Aufklärung statt Zwang und Verbot, staatlich geförderte Weiterbildungsangebote für Sexarbeiter_innen.
Kampagnen gegen Stigmatisierung und für einen respektvollen Umgang mit Prostituierten.
Bleiberechte, Entschädigungen und umfassende Unterstützung für Betroffene von Menschenhandel.

Liste der Unterzeichnerinnen und weitere Stellungnahmen bei sexwork-deutschland.de

DER METZGER Nr. 106!

Soeben erschienen ist die Ausgabe Nr. 106 des satirischen Magazins DER METZGER
metzger106-titelDas steht drin:

Ulrich Sander: Das Problem heißt Rassismus und Militarismus. Eine Betrachtumg nach der Pro-NPD-Entscheidung im Bundestag und zum Beginn des NSU-Prozesses in München. Der Umgang der „Mitte“ mit den Rechten ist von vielen gemeinsamen Schnittmengen geprägt. Das Bindeglied zwischen Mitte und Rechts ist der Rassismus.

Renate König: Die Lage des weiblichen Geschlechts in Indien.

Helmut Loeven: Merkel soll nicht bleiben, bleibt aber. Die SPD verliert nicht, weil der Steinbrück dauernd in irgendwelche Fettnäpfchen hineintritt, sondern: weil die SPD verliert, ist alles, wo der Steinbrück hineintritt, ein Fettnäpfchen. Zum hundertfünfzigsten Jahrestag auch noch eine Erinnerung an die Agenda 1919.

Lina Ganowski: La Notte – Themen der Nacht. Diesmal: Die Wohlfühl-Empörer. Der Furor um das Treiben des Daniel Cohn-Bendit im antiautoritären Kindergarten.

Mac Duff: Richter Azdak in Düsseldorf. Muß Annette Schawan ihren Doktortitel zurückgeben? Richter Azdak spricht ein Urteil.

Helmut Loeven: Das philosophische Kabarett. Diesmal: Hoch die Tasse(n) (und dat Pickdingen); Gesundheitsgefahren durch Nichtrauchen; Flasche gefunden – und was nun?; Die Linkspartei (in Duisburg) ist derzeit kein Ort zum Wohlfühlen; Komische Häuser, komische Vorschläge; Soll man in Bissingheim einen Bürgersteig nach Adolf Sauerland benennen?; Derrick war bei der SS?

Marvin Chlada und Florian Günther sprechen über Literatur und Fotographie, das Reisen und die Frauen, den Tod und das Leben …

Ostermarsch 2013 in Duisburg. Bilder, die alles sagen.

„Wollen die etwa alle zu Pelikan?“ Das Bühnenjubiläum – um ein halbes Jahr und eine halbe Stunde verschoben. Aber was dann kam, dafür hat es sich gelohnt, hinzugehen.

Carl Korte: Ausflug mit Direktor Lall. Mottes Reporterkolumne.

Paul Hafemeister. Erinnerung an einen Genossen.

Lütfiye Güzel: Meine Lieblingsbuchhandlung. Welche wohl?

Das Heft kostet 3 Euro. Es ist in der Buchhandlung Weltbühne erhältlich (auch im Versand. Es wird sofort geliefert).
Wer schlau ist, hat abonniert und kriegt das Heft in den nächsten Tagen zugeschickt.
Ein Abonnement von DER METZGER kostet 30 Euro für die nächsten 10 Ausgaben oder 50 Euro für alle zukünftigen Ausgaben.
Die Ausgaben ab Nr. 18 (1972) sind noch erhältlich (komplett im Sammelpaket oder einzeln). Die Ausgaben Nr. 1-17 (1968-1972) sind vergriffen.

Kohlhiesels Töchter oder Auch das ist nicht neu

Pola Kinski, die ältere Tochter des Schauspielers Klaus Kinski (1926-1991) hat mitgeteilt, von ihrem Vater sexuell mißbraucht worden zu sein. Einzelheiten sind mir nicht bekannt (und wohl auch vielen nicht, die jetzt viel darüber reden). Ich las in der Frankfurter Rundschau: „Nastassja Kinski ist stolz auf ihre mutige Schwester. […] ‚Ich bin zutiefst erschüttert Aber: Ich bin stolz auf ihre Kraft, ein solches Buch zu schreiben. Ich kenne den Inhalt. Ich habe ihre Worte gelesen. Und ich habe lange geweint…‘, schrieb die 51jährige in der Bildzeitung.“. Ehrlicherweise müßte es wohl heißen: sie ließ sich „zitieren“ mit den Worten, die die Bildzeitung schon vorher kannte. (Und die müßte auch ehrlicherweise „Blödzeitung“ heißen).
Die Bildzeitung ventiliert den Hype über den „Mißbrauch“, der dadurch vollends zum Teil des Spektakels wird. Institutionen der industriemäßigen Verblödung nehmen sich eines Thema an, das Sensibilität und Sachkenntnis erfordert. Das ist nicht neu. Man erinnere sich an die „Ministergattin“ (vulgo: Frau von ’nem Minister) Stephanie von & zu Guttenberg, die nach ihrem widerlichen Event in Afghanistan (das Schlacht-Feld als glamouröse Kulisse) auf RTL-2 eine schmierige Kinder-Porno-Show „moderierte“. In den Krawall-Medien verkommt der vorgebliche „Schutz der Kinder vor sexuellem Mißbrauch“ unweigerlich zu einer Variante der Kinderpornografie. Auch das ist nicht neu. So sind ja auch viele pornografische Schriften in der Pose der Empörung verfaßt und konsumiert worden – etwa nach dem Motto: Schaut her, was für Schweinereien die Jesuiten (die Juden, die Linken, die Kommunarden, die Ruhrgebietskumpel, die Franzosen etc.) so treiben!
Die Frankfurter Rundschau hat sich inzwischen mit eigenen Worten geäußert. Am 11. Januar berichtete sie, Kinski habe in seinem 1975 erschienen Buch „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ sich dazu bekannt, mit einer Zehnjährigen Zungenküsse ausgetauscht zu haben und auch mit einer 13jährigen sexuelle Handlungen vollzogen zu haben. „Auf dem Höhepunkt der sexuellen Revolution blieb die Aufregung darüber aus.“ Tatsächlich? FR-Autor Daniel Kothenschulte wollte doch hoffentlich nicht sagen, daß das Land sich für seinen Geschmack zu wenig erregt hat.
Auch das ist nicht neu: die Sexuelle Revolution als Arena der Libertinage, als Auswuchs der Genuß-Sucht, als Verirrung, als Gefahr. Und neu ist nicht, „schockierende Enthüllungen“ gegen sie zu richten.
Revolutionen hatten stets andere Resultate als die, deretwegen sie angetrieben wurden. Lafayette, Mirabeau und Danton hat etwas anderes vorgeschwebt als daß Frankreich eines fernen Tages von Zar Kotzi gelenkt wird. Die Roten Garden haben das Winterpalais nicht deshalb gestürmt, damit dereinst die Kasperfigur Jelzin im Kreml herumpoltern kann.
Unsere Kulturrevolution wurde (wohl um ihr den Titel streitig zu machen) als „Achtundsechzig“ zur Saison verkürzt. Dabei verdient sie – anders als die chinesische Veranstaltung gleichen Namens – diese Bezeichnung zurecht. Es wurde gesagt, unsere APO hätte dem Willybrandt möglich gemacht, Bundeskanzler zu werden. Das hätten wir zwar gar nicht beabsichtigt, aber wir hätten ein Resultat zustandegebracht, das so schlecht ja gar nicht gewesen sei. Mag sein. Ein weiteres Resultat, das aber so gut gar nicht ist, sind die Besserverdiener, die in behindertengerecht geplanten Häusern und ökologisch korrekten Wohnungen sich als „Neue Mitte“ rühmen und ihre schwarzgrünen Träume träumen.
In unserer Sexuellen Revolution, die das Herzstück unserer Kulturrevolution ist und die, wie alle Revolutionen, sich gegen konterrevolutionären Backlash wehren muß, ging es keineswegs um Libertinage, Hemmungslosigkeit, Quantität und Genußsucht – das ist das Mißverständnis unaufmerksamer Zuschauer. Es ging darum, den Herrschenden ein Instrument der Entfremdung aus der Hand zu nehmen. Es war uns ernst damit, diesen ganzen Wust aus Angst, falscher Scham, Schande und Sünde wegzuräumen. Wir wollten (und ich will immer noch) das Schuld-Prinzip durch das Lust-Prinzip ersetzen. Wir haben gesagt, daß Sexualität mit Lust, auch mit Ästhetik und Phantasie, ja auch mit Liebe etwas zu tun hat – mit Menschenliebe.
Es kann sein, daß das Schuld-Prinzip doch nicht vollends durch das Lust-Prinzip ersetzt wurde, daß das Schuld-Prinzip eher durch das Leistungsprinzip ersetzt wurde. Aber der Wert einer Revolution ist nicht an dem zu messen, was sie erreicht, sondern was sie beseitigt hat.
Die Französische Revolution hat ein Ende gemacht mit feudaler Willkür und der Leugnung des Individuums.
Die Rotgardisten haben ein Ende gemacht mit einer Menschenschinderei, für die es keinen Ausdruck gibt und die schlimmer war als alles, was der Oktoberrevolution folgte.
Wir haben ein Ende gemacht mit einer „Pädagogik“, deren Ziel die Selbstverleugnung und der Kadavergehorsam ist, die den Körper kolonisiert. die Unterwürfigkeit predigt und der Herrschsucht jeden Raum gewährt und zum willenlosen Einverständnis mit dem Niederringen der eigenen Bedürfnisse „erzieht“. Wir haben es uns nicht bieten lassen, daß die Verhaltensmuster des Untertanen, die Menschenvernichtung nicht ausschließen und nicht ausschließen sollen, weiterhin gelten. Wir haben ein Ende damit gemacht, daß es in diesem Land mehr Soldaten als Kriegsdienstverweigerer gibt. Wir haben gesagt, daß die Frau dem Manne ebenbürtig ist. Wir haben ein Ende gemacht mit den Paragraphen 175, 180 und 218. Wir haben ein Ende damit gemacht, daß jemand, der Unverheirateten eine Herberge gibt, es mit dem Staatsanwalt zu tun bekommt, daß Homosexuelle eingesperrt werden und unverheiratete Frauen bei ungewollter Schwangerschaft „ins Wasser gehen müssen“. Wir waren das. Wir haben nicht nur Häuser besetzt, sondern mehr als das: wir haben den Rasen betreten. Wir haben den Befehl verweigert.

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