Und heute, an diesem schönen Samstag im Spätsommer, sind wir uns begegnet, auf einer Party. Die meisten Leute hier kenne ich gar nicht. Ich weiß nicht, mit wem ich reden soll und worüber. Die meiste Zeit schaue ich aus dem großen Fenster auf das große abgeerntete Feld. Und da sehe ich plötzlich: Sie kommt vorgefahren, begleitet von ihrem Lover, dem Arschloch. Zum Glück ist der nur selten in Europa. Er ist Schriftsteller, ehemaliger Black Panther, schreibt revolutionäre Stücke, ein Linker also. Aber als Partner eine Niete, egoistisch, rücksichtslos, zu Mitgefühl unfähig, eifersüchtig und sie ständig kontrollierend: So hat sie ihn mir beschrieben, als einen, auf den die Frauen fliegen (und auch, in jeder Hinsicht, als das Gegenteil von mir). Immerhin ist er einer, mit dem sie auf einer Party Bella Figura machen kann. Wenn sie unter vielen Menschen ist, ist sie in ihrem Element, wird schnell zum Blickfang, erntet Bewunderung von den Herren und Neid von den Damen, erst recht in respektabler Begleitung.
Ich weiß etwas aus dieser respektablen Beziehung, wovon sie mir erzählt hatte, weil sie meinte, daß ich das unbedingt wissen muß: Daß er ihr manchmal eine veritable Tracht Prügel verpaßt hatte. – Ein Aspekt, der das Bild dieser Grande Dame bei ihren Bewunderern und Neiderinnen auf kontrapunktische Weise komplettieren, Bewunderung und Neid eher steigern als verringern würde. Er macht ihr klar, wie sie sich zu benehmen hat. Besonders stört er sich an ihren Fragen danach, was er treibt, wenn er mal für einige Zeit nichts von sich hören läßt. Dann befolgt sie ohne Widerspruch seine Anweisung, für die Strafe mit dem Ledergürtel ihr Hinterteil zu entblößen. Ein anderes Mal hat sie mir erzählt, es handle sich dabei um ein Arrangement zum beiderseitigen Lustgewinn. Wahrscheinlich stimmt beides. Wahrscheinlich ist er einer, der sowas nicht aus Jux und Tollerei tun würde, nicht bloß aus Quatsch, nicht bloß zum allseitigen Vergnügen, wogegen kein freiheitsliebender Mensch etwas einwenden würde.
Ob der uns Gelegenheit geben wird, miteinander zu reden? Der ahnt wohl, wer ich bin. Er weiß allerdings nicht, wie viel ich über ihn weiß; und ich weiß nicht, ob sie ihm alles über mich erzählt hat.
Sie kommt auf mich zu. Ich bringe ein höfliches Lächeln zustande: „Wie geht es dir?“
„Sehr gut. Und dir?“
„Na ja. – Na ja.“
„Was macht die Arbeit?“
„Außer dem, was sowieso öffentlich gelesen werden kann: Von einigen Seiten wird mir das Leben schwer gemacht.“
Jetzt sagt sie: „Na ja.“
„Ich mußte viel gehen in letzter Zeit, an den langen hellen Sommerabenden durch die Straßen, und den Sternbuschweg entlang.“ Ich bin sicher, daß sie versteht.
Ob ich hier sagen kann, was ich ihr noch sagen will? Es ist nicht ruhig hier, und was ich sage, wird mitgehört von denen, die zufällig in der Nähe herumstehen. Eine Stelle zu suchen, wo wir von den Partygeräuschen angeschirmt sind, würde sie ablehnen.
„Weißt du, wir sind zwei sehr unterschiedliche Menschen“, sagt sie, um gleich mit dem Fazit zu beginnen. Die hat es aber eilig!
Ich sage jetzt das Unverschämteste, was mir gerade einfällt: „Du hast mir ja geschrieben von deinem mit Summakumm-Laute abgeschlossenen 1-A-Studium. An der FU! Gratuliere zur FU. Bei mir lief das immer anders. Ich habe mich immer nur durchgewurstelt. Wir sind also wirklich unterschiedlich.“ Und ich füge hinzu: „Wohin du jetzt unterwegs bist, wirst du jemandem wie mir nicht begegnen.“
Unser Gespräch hat also seine Farbe bekommen, und daran bin ich nicht unschuldig. Es würde aber auch nicht besser verlaufen, wenn ich meinen Zorn bezwingen würde. Ich liebe diese Frau. Und wer liebt, sollte sich nicht verstellen.
Sie nimmt es mir nicht übel: „Deine Empörung ist deutlich zu spüren. Ich glaube nicht, daß ich etwas sagen oder tun kann, um Dich zu versöhnen.“
„Doch. Kannst du. Ehrlichkeit hilft immer. Resignation ist immer falsch.“ Das kann sie als Angebot oder als Affront auffassen. Sie faßt es als Affront auf. Ich habe ihr Unehrlichkeit attestiert.
Aber sie beherrscht sich: „Ich möchte nicht Quelle von Zorn und Unglück sein, Helmut. Aber vielleicht brauchst Du diesen Zorn aus irgendeinem Grund. Nur denke ich, daß die ganze Geschichte sich verselbständigt hat und ich als Projektionsfläche fungiere, was mit mir real kaum noch etwas zu tun hat.“
„Fang doch nicht schon wieder damit an! Es ist wirklich keine Freude, wenn Du Deine Fähigkeit zur Verdrängung zu einer Unfähigkeit von mir verdrehst und deine Ruppigkeit im Umgang mit Menschen mit weisen Worten verkleidest.“
„Für mich ist die Vergangenheit nicht wiedererlebbar, selbst wenn ich mich intensiv darum bemühe. Die gute Seite an dieser Unfähigkeit ist, daß mich Vergangenes nicht immer wieder einholt und lähmt. Die schlechte Seite, natürlich, verhindert, daß ich das vergangene Schöne aufrufen und retrospektiv genießen kann. Wie dem auch sei, ich kann es nicht ändern, also akzeptiere ich diese meine Eigenschaft und lebe mit ihr.“
„Mußt du mir jetzt diese Theorie der reduzierten Persönlichkeit auftischen?“
Ich mache hier keine gute Figur. Das ist ja wirklich keine Glanzrolle: der beleidigte Liebhaber. Aber die hab ich mir ja nicht ausgesucht. Ich ärgere mich darüber, daß ich hier die Rolle spiele von einem, der unbedingt das letzte Wort haben muß. Hoffentlich erfährt nie jemand, was ich hier alles sage. Aber hier gibt es für mich sowieso nichts zu gewinnen, das ist mir jetzt klar. Manchmal bereut man, was man gesagt hat. Ich will nicht bereuen müssen, was ich nicht gesagt habe.
Jetzt hätte ich Lust, zu sagen: „Dein Leben ist eine einzige Aneinanderreihung von Fehlentscheidungen.“ Aber ich beherrsche mich – obwohl sie mir in diesem Punkt nicht widersprechen würde. Stattdessen sage ich: „Wann hat bei dir der ganze Schlamassel angefangen? Als wir uns kennenlernten??“ Sie zuckt zusammen. Ich sage leise: „Ich war bestimmt nicht das Schlechteste, was dir im Leben passiert ist.“
„Jaja, du hast ja recht. Aber – – – “
„Du tust dir wirklich keinen Gefallen.“
Und dann sage ich, unpassend, aber das will ich loswerden: „Bei aller Traurigkeit gab es da eine Stelle, wo ich fast lachen mußte. Nicht aus Sarkasmus, nicht aus Häme, sondern weil es wirklich komisch war. Du hattest mir geschrieben, deine Lösung wäre, dich von Situationen und Menschen zu lösen, die dir nicht guttun. Ach, wenn du das doch könntest! Du irrst dich, wenn du sagst, du hättest mich mit deinem Unglück belästigt und wohl auch verletzt. Du hast mich damit allerdings belastet, sehr sogar, sicherlich mehr, als du vermutest. Ich fühlte mich bis an die Grenze der Belastbarkeit in Anspruch genommen, so daß mir manchmal die Hände zitterten. Aber ich sagte es dir schon: Es war mir eine Ehre! Ich habe gern für dich alles stehen und liegen lassen, und es gab in jenen Tagen, Wochen, Monaten nichts wichtigeres für mich zu tun als dir beizustehen. Daß du dann aber – ganz plötzlich – mein vor dir erbetenes Bemühen als ‚Einmischung‘ empfandest und alles umwertetest (rückwirkend!), das hat mich dann doch ein kleines bißchen verstört. Jeder hätte dir ‘n Vogel gezeigt. Ja, ich weiß, ich bin jetzt nicht nett zu dir.“
„Verstehe ich, Ich bin ja auch nicht nett zu dir.“
„Du mußt gar nicht nett zu mir sein. Sei doch endlich mal nett zu dir selbst. Daß du mich ruppig behandelst, schmerzt mich. Aber daß du dich selbst ruppig behandelst, schmerzt mich noch mehr. Ich ertrage es nicht, wenn Frauen schlecht behandelt werden. Aber ich ertrage es noch weniger, wenn Frauen sich schlecht behandeln lassen – und das dann auch noch verteidigen.“ (Sie weiß, wovon ich spreche).
Aber dazu sagt sie nichts. Muß sie auch nicht. Sie sagt: „Unsere Wut und Enttäuschung sind das Resultat der falschen Bilder, die wir uns voneinander gemacht hatten. Der reale Mensch verschwindet hinter einem solchen Bild, und wenn er dann auftaucht, sind wir bitter enttäuscht und zornig über das Mißverhältnis.“
„Mißverhältnis: Ich vermisse dich sehr. Du vermißt mich gar nicht. Trotzdem bin ich von uns der Glückliche. Weil ich gar nicht dazu in der Lage bin, ein halbes Leben auf den Sperrmüll zu stellen mit allen Erfahrungen und mit den Menschen, die man in Anspruch genommen hat. Das hast du gelernt. Ich hoffe, ich lerne das nie. Bin ich der einzige von uns beiden, der dem, was wir miteinander erlebt und getan haben, überhaupt noch etwas abgewinnen kann? Ich muß mich damit abfinden, daß ich immer damit gescheitert bin, vom Glück und Gelingen meines Lebens Dir etwas abzugeben, auch diesmal wieder.“
„Ich habe dich immer beneidet um Deine Erinnerungsfähigkeit.“
„Dann pflege doch deine eigene, Mensch! Und mach dir mal keine Gedanken, du würdest mir was antun. Mach dir kein schlechtes Gewissen. Das ‚schlechte Gewissen‘ ist oftmals auch nur ein Trick, um sich vor der Verantwortung für sich selbst zu drücken. Tu dir selber nichts an. Deine Amnesie pflegst du doch und glaubst, dich damit zu schützen. Wie soll das gutgehen?“
Sie antwortet nicht mehr. In ihrem Gesicht regt sich nichts. Sie sieht mich ausdruckslos an. Ihr dauert das alles zu lange. Alle Worte scheinen überflüssig zu sein. Trotzdem sage ich das noch:
„Seit dem Moment, als ich Dich zum ersten Mal sah, liebe ich Dich. Das kannst weder Du, noch kann ich es ändern. Diese Liebe hat sich gewandelt, aber niemals nachgelassen, und so wird es bleiben. Unter einer solchen Liebe muß man leiden. Aber man muß nicht daran verzweifeln. Aber stelle Dir selbst die Frage: Kann mein Geständnis Dich überhaupt noch berühren? Oder ist es nur eine Lästigkeit, die du in zwei oder drei Minuten von dir abgestreift haben wirst? Dann bist Du es, die zu bedauern ist.“
Ob ich sie noch einmal umarmen kann? Kein guter Platz für einen solchen Abschied, hier in aller Unruhe.
„Viele Worte! Verzeih mir bitte. Ich sollte dir danken, für jedes freundliche und liebe Wort, für jeden Moment des Glücks, auch wenn du all das für dich ausgelöscht hast.“
„Vielleicht habe ich deine Liebe gar nicht verdient“, sagt sie.
„Sag nicht sowas, denk es nicht einmal. Geh‘ nicht unter!“
„Verzeih mir alles, was mir nicht gelungen ist. Und was gut war, bewahre es. Bei dir ist es gut aufgehoben.“
Ja, sie umarmt mich. Dann geht sie, schnell. Diese Party will sie verlassen. In ein paar Minuten ist alles vergangen, vielleicht auch die Erinnerung an meinen Namen. Am Ausgang trifft sie ihren Lover, die Pappnase.
Kurze Zeit später. Da öffnet sich die Tür, und herein kommt ein verspäteter Partygast, den ich überhaupt nicht erwartet habe. Herein kommt der Schabronat.
„Mensch, Walter! Dich habe ich ja überhaupt nicht erwartet. Dich habe ich ja schon jahrelang nicht mehr gesehen, alter Kundschafter!“
„Ich muß ja auch nicht überall sein. Ich krieg auch so alles mit. Mit Frollein Anne läuft‘s nicht mehr, habe ich gehört?“
„Du erfährst wohl alles.“
Er grinst: „Ich weiß alles. Ich weiß auch einiges über den neuen Macker von deiner Ex. Da kann ich Sachen erzählen, da legst du die Ohren an.“
„Dat nützt mir jetz aunix mehr. Aber erzähl‘ ruhig.“