Vor der Wahl ist nach der Wahl (2013)

In ein paar Wochen wird der Bundestag gewählt. Diesem Ereignis gingen frühere Wahlen voraus, und die Parteien, die um Aufmerksamkeit werben, geben uns nicht erst in diesen Tagen zu denken. Um die bevorstehende Wahl in die Zeitgeschichte einzuordnen, werden an dieser Stelle einige Kommentare zu Parteien und früheren Wahlen in loser Folge dokumentiert, Doch heute beginnen wir mit heute:

Merkel soll nicht bleiben, bleibt aber
In Italien gab es zwei große Parteien (Christdemokraten und Kommunisten), eine mittlere Partei (Sozialisten) und ein paar kleine Parteien (Sozialdemokraten, Liberale und Republikaner), außerdem die Neofaschisten. Die Parlamentswahlen hatten immer dasselbe Ergebnis: Eine stabile Regierungsmehrheit kam nie zustande. Von dem Parteiengefüge ist nichts übriggeblieben. Nur eins hat sich nicht verändert: Eine stabile Regierungsmehrheit kommt nicht zustande.
Man stelle sich das mal für Deutschland vor: CDU/CSU, SPD, FDP und Linke sind nicht mehr auffindbar, stattdessen sitzen im Bundestag Piraten, Europahasser, Rechtspopulisten und Fernsehkomiker. Und vielleicht noch die Grünen unter ihrem neuen Parteinamen „Rauchen verboten“.
Nein, bei uns ist das anders. Die alten Bekannten werden uns erhalten bleiben (auch die FDP, fürchte ich). Im nächsten Bundestag werden vielleicht nicht alle vertrauten Parteien vertreten sein (auch nicht die Linken, halte ich für möglich), aber keine neuen. Und wenn sich da etwas auflöst, dann das Wahlvolk.
Eins kann man jetzt schon abhaken: Merkel wird die Wahl gewinnen und Bundeskanzlerin bleiben. Die Frage ist nur: mit welchem Koalitionspartner? Die CDU wird stärkste Partei, aber für die absolute Mehrheit wird es nicht reichen. Das will die CDU vielleicht auch gar nicht. Denn ein Koalitionspartner ist nicht nur als Mehrheitsbeschaffer nützlich, sondern auch als Sündenbock, dem man in die Schuhe schieben kann, daß die Wahlversprechen nicht gehalten werden.
Wird es also mit der FDP weitergehen? Obwohl die – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr en vogue ist? Auch wenn dem Brüderle seine Tief-Blicke am Ende vielleicht mehr nützen als schaden, schafft sie es nicht aus eigener Kraft, verschafft sich aber vielleicht bei den Stimmenverleihern genug Zweitstimmen und ist wieder drin. Aber ob das dann für eine Mehrheit reicht? Vielleicht wählt die Merkel heimlich die Linken, damit eine Mehrheit nur mit der SPD zusammen erreicht werden kann. Von den Linken braucht die Merkel außer bösen Worten nichts zu befürchten, denn die SPD würde nie mit den Linken koalieren. Wenn die SPD die Linken in die Regierung aufnehmen würde, das wäre ja so, als würde ein Geldfälscher versuchen, echte Banknoten in Umlauf zu bringen. Außerdem würden die Grünen das nicht mitmachen. Und die Merkel würde viel lieber mit der SPD regieren, weil: leichter handhabbar. Eine (noch relativ) große Partei zu neutralisieren wäre ihr Meisterstück.
Abgehakt wäre also auch: Die SPD wird die Wahl verlieren, und Steinbrück wird nicht Bundeskanzler. Daß die SPD mit ihrer Entscheidung für Steinbrück einen ungeeigneten Kandidaten ins Rennen geschickt hat, ist nur insofern richtig, daß die SPD gar keinen geeigneten Kandidaten hat. Wen hätte sie denn stattdessen aufstellen sollen?
Da die SPD zu einer Unter-25-Prozent-Partei zusammengeschrumpft ist, wird jedem ihrer Kandidaten das Verlierer-Image anhaften. Die SPD verliert nicht, weil der Steinbrück dauernd in irgendwelche Fettnäpfchen hineintritt, sondern: weil die SPD verliert, ist alles, wo der Steinbrück hineintritt, ein Fettnäpfchen.
Eine Chance hätte die SPD: mit Hannelore Kraft, sagen manche. (Der Merkel würde dann ihr Frauen-Bonus flöten gehen). Aber die Kraft müßte dann ihren Gewinner-Nimbus aufs Spiel setzen, und der wird noch gebraucht in NRW.
Seit Willybrandts Zeiten hat die SPD ein paar hunderttausend Mitglieder verloren, und die noch da sind, zagen. Seit Helmut Schmidts Zeiten sind Programm und Parteitagsbeschlüsse für die SPD keine Richtschnur mehr. Die SPD lebte von der Harmonie mit den Gewerkschaften und vom Vertrauen der Facharbeiterschaft in Großbetrieben. Sie war zu Hause in den Werkssiedlungen, wo der Nachbar auch Kollege war, wo der Job sich vererbte („Mein Vatter war bei Krupp, mein Großvatter war bei Krupp…“). Dieses Milieu löst sich auf. Die Leute überlegen, ob sie weiterhin wählen, was sie immer gewählt haben, oder mal was anderes oder gar nicht. Zudem hat Schmidt die Intelligenzija, die auf Willy hoffte, zielstrebig abgestoßen (Sie wissen: „Visionen … Arzt“).
Die SPD hat dieser Tage 150. Geburtstag gefeiert. In der WAZ wurde ein dunkler Punkt in ihrer Geschichte erwähnt: Die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914. Nicht erwähnt wird, was folgte, als die Büchse der Pandora geöffnet war: Die Rolle der SPD bei der Niederschlagung der Novemberrevolution, beim Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, der Blutmai 1928, der Aufruf zur Wahl Hindenburgs. Als der Kapp-Putsch 1920 von streikenden und bewaffneten Arbeitern erstickt worden war, ließ die so gerettete SPD-Regierung die faschistischen Freikorps auf die Arbeiter los. „Arbeiterverräter“ wäre ein zu milder Ausdruck.
Kein Wort von alledem auf der Geburtstagsfeier. Stattdessen entblödete man sich nicht, die Agenda-Politik als Großtat zu feiern. Wenn Steinbrück heute von Gerechtigkeit redet, dann beklagt er Zustände, für deren Zustandekommen die SPD verantwortlich ist.
Die Zustimmung zu den Kriegskrediten nennt Sigmar Gabriel heute einen „historischen Fehler“. Mit einer Selbstkritik an der Agenda 2010 ist also in etwa hundert Jahre zu rechnen.

Aus: DER METZGER 106 (2013)

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