Die offene Gesellschaft verteidigen

Medico International:
Solidarität ist keine Sonntagsrede
Die offene Gesellschaft verteidigen
Eine Positionsbestimmung

„We’ll Come United“. Ging doch schon mal. (Foto: We’ll Come United)

Dem Rechtsruck entgegentreten
Wir stehen vor einem Scherbenhaufen, an einem autoritären Kipppunkt. Es ist Zeit sich zu entscheiden: Für eine Verteidigung der offenen Gesellschaft oder für ein Abgleiten in den Autoritarismus. Was in jahrzehntelangen antirassistischen und antifaschistischen Kämpfen erreicht wurde, ist in den letzten Monaten beispiellosen Angriffen ausgesetzt, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Die gesellschaftliche Linke und bislang engagierten Kräfte sind sprachlos und schaffen es nicht, sich diesen rasanten Entwicklungen entgegenzustellen. Und die migrantische Zivilgesellschaft steht auf einmal fast alleine da, so ausgegrenzt und abgeschnitten, wie wir es noch vor wenigen Monaten für unmöglich hielten. Das ist ein Skandal und muss sich ändern. Solidarität ist gefragt, die mehr denn je auch Risikobereitschaft und Klarheit erfordert. Die offene Gesellschaft ist jetzt keine Sonntagsrede mehr.
Von Rechtsaußen braut sich eine immer größere Bedrohung zusammen. Wie die Landtagswahlen in Bayern und Hessen gezeigt haben, ist die AfD kein gesellschaftliches Randphänomen mehr. Und ihre menschenverachtenden Positionen sind keine gesellschaftlichen Ausreißer. Im Land der Täter*innen der NS-Rassen- und Vernichtungspolitik wählen ein Drittel der Wahlberechtigten eine Partei, die Anderssein stigmatisiert, Abweichungen verbannen will, und Illusionen eines Zurücks zur weißen patriarchalen Kleinfamilie als Hort von Sicherheit und Geborgenheit nährt.
Doch das ist nur die eine Hälfte des Problems. Es geht einher mit der Radikalisierung und dem Rechtsruck der Mitte der Gesellschaft. Durch die Parteienlandschaft hinweg erleben wir eine massive Diskursverschiebung nach rechts, eine kaum für möglich gehaltene Enthemmung der Sprache und Entrechtung – und dies nicht erst seit dem jüngsten Höhenflug der AfD. Das zugrundeliegende Problem ist eine Politik, die keine Antwort auf die entscheidenden Krisen der Welt – Krieg, Klimawandel und globale Ausbeutung – findet. Eine Politik, die stattdessen seit Jahr und Tag, wenn es opportun ist, die Geschichte der Migration in diesem Land zurückdrehen will. Sie nährt Steuerungs- und Kontrollphantasien und nutzt Geflüchtete als Sündenböcke, um vom eigenen politischen Versagen abzulenken.
Schon vor 30 Jahren wurde das Asylrecht im Namen des Einhegens radikal rechter Stimmungsmache und Gewalt geopfert. Geholfen hat es nichts – vielmehr war es der Nährboden für das jahrelange Morden des NSUs und der medialen Begleitkampagne gegen die migrantischen Familien. Auch heute scheinen die „Parteien der Mitte“ zu glauben, die Wahlerfolge der AfD mindern zu können, indem sie selbst die Sprache der Spaltung, der ausgrenzenden Sicherheit, des Rauswurfs und des Sozialneids sprechen. Nicht anders lassen sich die Aussagen des ehemaligen Bundespräsidenten Gauck verstehen, der forderte, „Spielräume [zu] entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen“. Und nicht anders lässt sich der Ruf nach einem Deutschlandpakt gegen Migration, der Ausweitung von Abschiebungen, Abschiebehaft und einem Arbeitszwang für Geflüchtete verstehen, denen nur noch Sachleistungen zugesprochen werden sollen – mittlerweile untermauert von Forderungen, wie die des ehemaligen Gesundheitsministers Spahns, „direkte physische Gewalt“ an der Grenze anzuwenden.
Auch die Grünen tragen anscheinend schmerzlos die Entmenschlichung und die Militarisierung mit – nicht nur in der Migrationspolitik. Sie reiten auf der rechten Welle mit, in der Hoffnung zu überleben. So wird in einem europäischen Einwanderungsland Migration erneut zum Problem erklärt, obwohl sie ein Kernelement des ökonomischen Reichtums, der kulturellen Modernisierung und der Demokratisierung ist. Der Rassismus der Politik soll dieses Problem „lösen“. Doch die Geschichte der Migration lässt sich nicht zurückdrehen. Und das ist auch gut so! Weiterlesen