50/40 Jahre 11. Mai (1-13)

Die rätselhafte Überschrift erklärt sich so:
Dieser Film, von dem hier in Fortsetzungen 38 Stills zu sehen sein werden, ist ein Film vom 11. Mai und über den 11. Mai.
Der Film „Der 11. Mai – Le Onze Mai“ (Hut-Film 1978, 35 Minuten) bezieht sich auf den 11. Mai 1968, an dem in Bonn die erste große zentrale Aktion der APO stattfand: der „Sternmarsch“ gegen die geplanten Notstandsgesetze. Zehn Jahre später suchte ich den Ort der Handlung wieder auf und kombinierte diese Außenaufnahmen mit Bilddokumenten (TV-Bilder, Faksimiles, Fotos etc.), die dieses eine Ereignis in den globalen, historischen, kulturell-ästhetischen, biografischen, sexuellen Kontext stellten.
Die Bilder wurden nicht erklärt und nicht kommentiert, dafür aber teilweise extrem verfremdet und scheinbar willkürlich montiert und somit der freien Assoziation überlassen.
Konkrete Fragen zu einzelnen Bildern werde ich gern, sofern möglich, beantworten.
Es heißt in der französischen Sprache nicht „l’onze mai“, wie man meinen könnte, sondern tatsächlich „le onze mai“.
Daß der Monat an einer Stelle „may“ geschrieben wurde, hat schon seine Gründe.
Bonn und insbesondere den Hofgarten habe ich in den Jahren danach aus höchstprivaten Gründen immer wieder aufgesucht (zuletzt 2007). Mir das nach 50 Jahren, also heute, alles noch mal anzugucken hatte ich ernsthaft erwogen.

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Mahler bald ein „freier Mann“?

Horst Mahler könnte vorzeitig freikommen, meldet heute die Taz. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Potsdam habe entschieden, die letzten vier Jahre seiner zwölfjährigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. „Der Gesundheitszustand und die Tatsache, dass zwei Drittel der Haftstrafe verbüßt seien, führte zu dem Beschluss, sagte eine Sprecherin des Gerichts im Gespräch mit der taz. Die zuständige Staatsanwaltschaft München II habe gegen den Beschluss aber eine sofortige Beschwerde eingelegt.“ Mahler ist an Diabetes erkrankt und hat eine Beinamputation hinter sich. „Laut seiner Tochter leidet er zudem an neurologischen Ausfällen und einer Herz- und Niereninsuffizienz.“
TazMahlerEntlassMahler, jetzt 79 Jahre alt, kann einen der kuriosesten Lebensläufe der Nachkriegszeit vorweisen. Man kann leicht zu dem Fazit kommen, daß er sein Leben verpfuscht hat und früh damit anfing.
Als Student Mitglied einer schlagenden Verbindung, dann auf dem Weg nach links zuerst in der SPD (darum raus aus der Verbindung), dann zum SDS (darum raus aus der SPD). Als Rechtsanwalt erst in Wirtschaftssachen für mittelständische Klientel tätig, dann als „APO-Anwalt“ nicht ohne Erfolg für Mandanten wie Teufel/Langhals, Beate Klarsfeld, Gudrun Ensslin u.a.
Im Bohren dicker Bretter an der Justiz-Front fand er aber keine Selbstverwirklichung. Stattdessen wurde er von pseudo-revolutionärer Ungeduld getrieben. 1970 gehörte er zu den Gründern der RAF („Rote Armee Fraktion“). Diese Organisation versuchte nicht nur der Mitwelt, sondern vor allem sich selbst einzureden, die Speerspitze des kämpfenden Proletariats zu sein. Mahler mag es gewurmt haben, daß er nicht dem Bild eines revolutionären Feuerkopfs entsprach, zum Beispiel nicht so langhaarig war wie sein Mandant Langhans, sondern schon sehr schütteres Haar hatte. Die Untergrund-Aktivität gab ihm Gelegenheit, sich mit Toupet und (falschem oder echtem) Bart zu tarnen, nicht nur vor der Polizei, sondern auch vor seiner „bürgerlichen Vergangenheit“, die ihn ebenfalls verfolgte. Mahler ist der Typ eines Mannes, der immer etwas beweisen muß.
Seine Zeit an der Spitze der RAF währte nicht lange. Im Oktober desselben Jahres wurde er geschnappt. Das war für alle gut. Der Dandy Baader an der Spitze der RAF hat sicherlich weniger verheerend agiert als es der mephistohafte Mahler getan hätte, dem man Selbstmordattentate hätte zutrauen müssen.
Mit der Lorenz-Entführung 1975 sollte Mahler aus der Haft freigepresst werden. Der lehnte das ab, denn er hatte inzwischen zur Pseudo-KPD gefunden und war sich sicher, alsbald von den revolutionären Massen aus dem Gefängnis befreit zu werden.
Es kam anders. Nach seiner regulären Haftentlassung gelang es ihm – mit Hilfe seines Anwaltskollegen Gerhard Schröder (später: Bundeskanzler), wieder eine Zulassung als Rechtsanwalt zu bekommen.
Mahler hielt am 1. Dezember 1997 eine Laudatio zum 70. Geburtstag des nationalkonservativen Publizisten Günter Rohrmoser. Darin forderte er u. a., das „besetzte“ Deutschland müsse sich von seiner „Schuldknechtschaft“ zum aufrechten Gang seiner „nationalen Identität“ befreien. (Unter den Zuhörern auch: Hans Filbinger).
Als Rechtsanwalt vertrat er die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht. Anschließend trat er aus der NPD aus. Seine Begründung: „Die NPD ist eine am Parlamentarismus ausgerichtete Partei, deshalb unzeitgemäß und – wie das parlamentarische System selbst – zum Untergang verurteilt.“ Ohne Wagneroper geht es bei ihm nicht.
Der weite Weg des Horst Mahler, diesmal nach rechts, wurde wiederum erst durch Inhaftnahme aufgehalten. Als verbohrter Holocaustleugner handelte er sich mehrere Verurteilungen ein. Seine antisemitischen Tiraden, mit denen er mal wieder alles Vorhandene zu übertreffen versucht, sind bekannt und müssen hier nicht zitiert werden. Das Ausmaß seiner Bescheuertheit ist daran zu erkennen, daß er die Existenz der Bundesrepublik Deutschland abstritt und auf der Weiterexistenz des Deutschen Reiches nebst Nazi-Gesetzen beharrte. Den über ihn verhandelnden Richtern und Schöffen und den Abgeordneten des Bundestages drohte er mit der Todesstrafe, wenn die Institutionen des Dritten Reiches erstmal wieder eingesetzt sind.
Man fragt sich, wann die Wendung von links nach rechts eingesetzt haben mag. Wohl schon beim Anschluß an die KPDAO, die ja auch eifrig darin war, den Antiautoritarismus der „68er“ zu „liquidieren“ und zu der das nationalistische Gefasel vom „besetzten Deutschland“ gepaßt hätte.
Mahler hat mal gesagt, es hätte nie einen Bruch in seinen Grundüberzeugungen gegeben. Das ist auf alarmierende Weise glaubhaft. Der Reichsbürger-Wahn kommt ja auch bei vielen Linken gut an.

HFP-SOS-WStrMahlerIn meinem Film „Switch on Summer“ (Hut-Film 1975) wird Horst Mahler von W. Strähler dargestellt.

Besuch bei Dr. Roth

Ich fahre in einem dieser alten Doppeldecker-Busse durch Neudorf, und zwar die Oststraße entlang. Ich kann mich nicht erinnern, eingestiegen zu sein. Meines Wissens verkehren diese Doppeldecker-Busse doch schon lange nicht mehr, und die Oststraße entlang fährt auch gar keine Buslinie. Aber dieser Bus hat zwei Stockwerke und fährt die Oststraße entlang, und ich sitze drin, und zwar in dem oberen Stockwerk. Dort ist für die Fahrgäste ein Fernsehapparat aufgestellt. Zur Zeit läuft arte. Jemand wird interviewt. Er redet über die 60er Jahre und über die APO und die Neue Linke. Dieser Mann auf dem Fernsehschirm kommt mir bekannt vor. Ich kenne dieses Gesicht von früher. Aber wer ist das?
Ich frage die junge Frau neben mir: „Können Sie mir sagen, wer das ist?“
Die Frau schaut mich an, als ob sie sagen wollte: „Sagen Sie bloß, daß sie den nicht kennen!“ Und dann sagt sie: „Das ist Karl Heinz Roth.“
Ich antworte: „Nein, das kann doch nicht Karl Heinz Roth sein. Der sieht doch ganz anders aus.“
Die nächste Station meines Weges ist eine Arztpraxis auf der Düsseldorfer Straße. Ich warte unruhig auf das, was der Arzt mir sagen wird. Hat er eine schlechte Nachricht für mich?
Diese Arztpraxis ist tatsächlich die Praxis von Dr. Karl Heinz Roth. Der frühere SDS-Anführer und angesehene Sozialforscher vom Hamburger Institut für Sozialgeschichte ist ja Arzt, und das ist seine Praxis.
Im Wartezimmer sind viele Leute. Niemand, den ich kenne. Aber es tut sich eigentlich gar nichts. Ich warte schon lange, aber in der ganzen Zeit ist niemand ins Sprechzimmer gerufen worden. Ich stehe auf und gehe auf und ab. Dann, nach langer Zeit, passiert endlich etwas: Die Leute im Wartezimmer werden bewirtet. Es werden belegte Brötchen serviert, dazu Kaffee, wie bei einer Geburtstagsfeier. Es werden auch Torten aufgetragen.
Ich bin nicht in der Stimmung, um gemeinsam mit wildfremden Leuten Kaffee zu trinken und Torten und belegte Brötchen zu verspeisen. Was soll ich hier? Mir reicht’s. Ich gehe.

Zuviel Ergo

In der Frankfurter Rundschau fand ich gestern den Nachruf auf Christian Semler. Er ist am 13. Februar 74jährig gestorben.
Christian Semler wurde 1938 in Berlin geboren. Sein Vater war Fabrikant, seine Mutter die Schauspielerin und Kabarettistin Ursula Herking („Münchener Lach- und Schießgesellschaft“, auch gemeinsam mit Werner Finck in der „Katakombe“). Semler war einer der führenden Köpfe im SDS. An die Spitze des Verbandes kam er in der Phase des Zerfalls. 1970 wurde der SDS aufgelöst.
Ein Zerfallsprodukt war die „Kommunistische Partei Deutschlands – Aufbauorganisation“ (KPD-AO), deren Chef Semler wurde. Anders als die konkurrierende KPD/ML hatte die KPD-AO keinerlei Beziehung zur Tradition der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Und anders als die KPD/ML brachte die „AO“ noch nicht einmal eine unfreiwillig-komische Folklore-Show zustande. Sie war in ihrer Aufdringlichkeit schlichtweg langweilig, weshalb man sie auch gern als „KPD-A-null“ bezeichnete. Außer einem halben Dutzend Verirrter dürften dieser „Avantgarde der Arbeiterklasse“ auch keine Arbeiter angehört haben, weshalb sie sich die Verbalhornung ihres Namens als „KPD-OA“ (ohne Arbeiter) gefallen lassen mußte.
Den Gipfel der Frechheit erklomm die AO, als sie den Namenszusatz AO fallen ließ und sich fortan den Namen „KPD“ anmaßte. (Und der Gipfel der Verwirrung wurde erreicht, als nach der Auflösung dieser „KPD“ 1980 die KPD/ML ihrerseits den Namen „KPD“ usurpierte – woraufhin eine Abspaltung von ihr sich wiederum „KPD/ML“ nannte).
Die AO als Sekte zu bezeichnen ist schon darum sinnfällig, weil sie sich von der Linken strikt abgrenzte und – wie man so sagt – „lieber im eigenen Saft schmorte“. Anders als später die MLPD schmiß sie sich nicht an alles ran, was sich regte, sondern wollte unter sich bleiben. Das entschuldigt aber nicht das Verwirrspiel mit ihrem angemaßten Namen.
Zitat aus dem Parteistatut: „Voraussetzung für die Aufnahme eines Kandidaten in die Partei ist die feste Entschlossenheit“. Undsoweiter. Das Wortgeschepper entschuldigt mit seiner Komik nicht den Psychoterror, den die Organisation auf ihre Mitglieder ausübte, die sie in die Eindimensionalität führte. Um sich „nicht von den Massen zu isolieren“ wurde den Mitgliedern verboten, Bärte und lange Haare zu tragen, in Wohngemeinschaften zu wohnen und unverheiratet zusammenzuleben.
Reinweg gar nichts an dieser „KPD“ war progressiv oder irgendwie links. Sie machte sich die maoistische „Drei-Welten-Theorie“ zueigen. Ihr zufolge war die „sozialimperialistische“ Sowjetunion der „Hauptfeind“. Ergo war alles gut, was nicht links war: CSU, NATO, das Vaterland, der Antikommunismus. KPD-A-null, das waren glattrasierte Nationalisten in gebügelten Hemden.
Über die Auflösung der KPD-A-null 1980 konnte man sich gar nicht so richtig freuen. Denn nur Jargon und Taktik wurden verändert. Und nun strömten sie raus aus ihrem Ghetto, hinein in die entstehende Partei „Die Grünen“. Als die KPD-AO sich auflöste, bekamen die Grünen ihren rechten Flügel.
Ach ja: Christian Semler! Über ihn schrieb Thomas Schmid (auch so einer!) in der Frankfurter Rundschau: „Anders als viele seiner politischen Weggefährten wurde Semler nie ein Renegat.“ Man weiß gar nicht, wie man das angesichts eines so verdrehten Lebenslaufs verstehen soll. „Er blieb … ein Linker.“ Blieb? Oder: wurde wieder? Jedenfalls landete er bei der Taz. Zwei oder drei Artikel von ihm habe ich gelesen. Na ja. Nicht ganz falsch und nicht ganz unklug, was er da geschrieben hat.