Fernsehapparat immer noch kaputt

„Das sind keine Chauffeure, das sind Weihnachtsmänner.“

Manchmal hatten wir einen Fernsehapparat, aber immer nur für kurze Zeit. Auf der Goldstraße hatten wir einen, den hatten wir auf der Straße in einem Sperrmüllhaufen gefunden, und der ging noch, allerdings nur zwei Tage lang, dann war er endgültig kaputt.
Ich bemerkte lapidar: „Fernseh kaputt – alles kaputt.“
Mike Hellbach fand das gut. Er schrieb mit Filzstift auf den Bildschirm: „Fernseh kaputt – alles kaputt“. So konnte das Gerät, auch wenn es nicht mehr einzuschalten war, noch einige Zeit stehenbleiben und einen guten Zweck erfüllen.
Auch auf dem Immendal in Hochfeld hatten wir mal einen Fernsehapparat. Der stand in der oberen unserer beiden Etagen, in Jennys Zimmer.

Jenny mit Zettel, im Duett mit Willi Kissmer

Jenny mit Zettel, im Duett mit Willi Kissmer

Ich war mit Jenny allein zu Haus, und wir überlegten, ob wir fernsehgucken sollten.
An dem Abend kam „Lohn der Angst“. Jenny kannte den Film nicht. Ich empfahl ihr, sich diesen Film anzusehen.
Ich kannte den Film damals schon auswendig. Aber für Jenny war das Abenteuer der Männer, die Nitroglycerin über holprige Straßen transportierten, etwas Neues. Sie zitterte vor Spannung, klammerte sich mit beiden Händen an der Tischplatte fest.
„Schaffen die das? Kommen die an?“
„Das sag ich nicht.“
Jenny bot dieser Film nicht nur Spannung, sondern auch Komik. An einer Stelle zumindest. Da sagt Luigi zu Bimba über Joe und Mario: „Das sind keine Chauffeure, das sind Weihnachtsmänner!“
Jenny lachte schallend. Sie lag fast auf dem Boden vor Lachen. „Das sind keine Chauffeure, das sind Weihnachtsmänner!“
Das war der Jenny-Humor.

loeven-gartenoffizier(Das ist eine Geschichte aus dem Jahre 1972, die der Kommune-Forschung dienen kann – erstveröffentlicht in dem verdienstvollen Anekdotenbuch „Der Gartenoffizier“).

Der letzte Tatort: Furchtbar!

Der letzte Tatort war sogar ein Zweiteiler (9. und 16. Dezember). Es ging um Zwangsprostitution, ein brisantes Gesellschaftsthema. Das ließ schon Schlimmes befürchten.
Maria Fürtwangler in der Rolle der Oberhauptkommissarin Charlotte Lindholm in Hannover mit ihrem zum Dauerscheitern verurteilten Liebesleben jedesmal! Das langweilt nicht erst nach dem soundsovielten Aufguß. Und immer wieder: Wohin mit ihrem Kind? Jaja! Das Problem, „Kind & Karriere“ unter einen Hut zu bringen! (Wie wäre es denn mal damit, auf beides zu verzichten? Beziehungsweise: die Gleichsetzung von „Arbeit“ und „Karriere“ in Frage zu stellen und sich die Zeit zu nehmen, über den Unterschied zwischen „vorwärts“ und „aufwärts“ nachzudenken).
Diese Liebesszenen! Mit diesem Langweiler! Dieses Geschmuse! Das war so verkrampft, so unecht! Maria Färtwungler als Verliebte! Da kann man ja genausogut den Steinbrück als James-Bond-Darsteller nehmen.
Zum Tatort gehörte mal: Realitätsbezug und eine intelligente Handlung (unter Verzicht auf Knalleffekte). Zutaten: Zeitkolorit, Lokalkolorit, ein bißchen Komik, ein bißchen Erotik, ein bißchen Gesellschaftskritik – von keinem zu viel.
Aber wie soll das mit der Erotik hinhauen, wenn Charlotte Lindholm die abliefern soll und sich in den Schmuse-Szenen anstellen soll wie ein Teenager?
Der Niedergang der TV-Krimi-Serie Tatort begann, als den Ermittlern ein Privatleben verpaßt wurde. Bei Schimanski ging das, weil man das bei dem kaum als „Privatleben“ bezeichnen konnte. Bei Haferkamp ging das, da war es noch originell. Bei allen anderen funktioniert es nicht.
Mit „Gesellschaftskritik“ im Tatort ist es nicht weit her, seitdem er dem „Ausgewogenheitsgebot“ des öffentlich-rechtlichen Konsens unterliegt und sich im Appell an das gute Gewissen erschöpft: Alles könnte gut werden, wenn wir alle uns korrekt verhalten würden. Es werden gern „Themen“ „angepackt“, die „unter den Nägeln brennen“, weil man glaubt, auf künstlerische Substanz käme es dann nicht mehr so sehr an.
In diesem Fall: Charlotte Lindholm ist nach Weißrußland gefahren. Dort, in einem dunklen Keller, hält ihr der korrupte Polizist plötzlich eine Pistole an und Kopf. Und just in dem Moment, tausend Kilometer fern der Heimat, tritt aus dem Nichts der Liebhaber als Retter in Erscheinung (war wohl gerade zufällig vorbeigekommen). Das ist ja wohl die größte Unverschämtheit, die je in einem ARD-Drehbuch durchgewunken wurde!
Nicht genug!
Anschließend Gesprächsrunde zum Thema bei Günther Jauch. Natürlich mit – wie kann es anders sein – Alice Schwarzer. Leute, die meinen, sie hätten ständig das Wort, kann ich sowieso nicht leiden, erst recht, wenn sie meinen, das Nichtvorhandensein von Kompetenz mit Geschwätzigkeit ausgleichen zu können. Sie rühmte sich, sie sei in ihrem Leben doch stets die Vertreterin von Minderheitenpositionen gewesen. Ausgerechnet die, das Ehrenmitglied sämtlicher deutscher Karnevalsvereine! Bevor die sich zu Frauenthemen ausläßt, sollte man sie vielleicht erstmal aufklären: Das Wort heißt Pro-sti-tu-tion. Die sagt dauernd „Prostution“ und „Prostuierte“. Die hat keine Ahnung wovon sie redet. Die kennt noch nicht einmal die richtigen Ausdrücke.
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Einen Lichtblick gab es an dem Sonntagabend dann doch noch. Dafür sorgte Renate Künast. Als die Schwarzer sie in gewohnt plumper Vertraulichkeit „Renate“ nannte und mit „du“ ansprach, sagte die Künast finster: „Wir brauchen uns nicht zu duzen.“

P.S.: Ich war noch nie im Puff. Aber nicht, weil ich ein guter Mensch bin, sondern weil ich dafür zu geizig bin.

Der TATORT als Staatsbürgerkunde?

Vorgestern sah ich die Wiederholung von einem alten „Tatort“. Das heißt: die wiederholen ja nur selten mal einen GANZ alten Tatort (70er, 80er Jahre, als „Tatort“ noch „Tatort“ war, mit Trimmel, Haferkamp, Kressin et al). Wiederholt werden meistens solche Tatorte, die gerade mal 2 oder 3 Jahre alt sind, also die von der Stange.
Die Crux bei den TV-Krimis ist, daß die Programmgestalter es nicht für nötig halten, daß die Drehbuchautoren zumindest das Handbuch der Kriminalistik und die Strafprozeßordnung gelesen haben.
Gestern sagte der „Kommissar“ (in diesem Fall: Ballauf) zu dem Rechtsanwalt, der seinen Mandanten rausholen wollte: „Wir können den 24 Stunden hier behalten.“
Das hört man öfter, daß die Polizei jemanden nach der Festnahme 24 Stunden lang festhalten kann. Aber das ist falsch. Ein Festgenommener kann bis zum Ablauf den folgenden Tages festgehalten werden. Wer eine Minute vor Mitternacht festgenommen wird, kann 24 Stunden und eine Minute festgehalten werden. Wer eine Minute nach Mitternacht festgenommen wird, kann 47 Stunden und 59 Minuten festgehalten werden. Bis zum Ablauf dieser Frist (24 Uhr des folgenden Tages) muß die festgenommene Person entweder freigelassen oder dem Richter vorgeführt werden.
Der „Kommissar“ drohte dem Verdächtigen an, wenn er nicht aussage, werde er ihn für 24 Stunden in U-Haft (Untersuchungshaft) stecken.
Über sowas könnte ich mich jedesmal aufregen. Ein Kriminalbeamter kann doch niemanden in Untersuchungshaft stecken! Wo kämen wir den hin, wenn die Polizei jemanden verhaften könnte! Das kann nur der Richter. Die Polizei kann niemanden in Haft, sondern nur in Gewahrsam nehmen. Das müßte der Kommissar Ballauf, beziehungsweise der Drehbuchautor, der ihm die Worte in den Mund legt, und der Programmdirektor und der Intendant doch wissen!
Vielleicht sagen Sie: Verhaftung oder Festnahme, U-Haft oder Gewahrsam – kommt es in einem Fernseh-Krimi denn so genau darauf an?
Ach! Nein?
Dann stellen Sie sich mal vor, die Tagesschau würde so berichten:
„In der französischen Hauptstadt Wien sprach die Bundeskanzlerin von der Leyen mit dem amerikanischen Präsidenten Hollande. Anwesend war auch der britische Thronfolger Prinz Heinz.“
Dann würde man doch sagen: Das ist keine gute Tagesschau.
Sehen Sie: Es kommt immer auf die Feinheiten an.

Neu in der Weltbühne: Rudi Dutschke in der „Bibliothek des Widerstands“

Im Laika-Verlag erscheint die Reihe „Bibliothek des Widerstands“. Jedem Buch liegt eine DVD bei.
Neu erschienen ist der Band „Rudi Dutschke – Aufrecht Gehen. 1968 und der libertäre Kommunismus“.

320 S. und DVD. 29,90 Euro

Der Verlag stellt das Buch vor:
Am 11. April 1968 wurde Rudi Dutschke, die Symbolfigur der antiautoritären Bewegung und neben Hans-Jürgen Krahl der theoretische Kopf der Außerparlamentarischen Opposition, auf dem Kurfürstendamm von dem 24-jährigen Josef Bachmann niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Bachmann sagte nach seiner Festnahme: „Ich möchte zu meinem Bedauern feststellen, daß Dutschke noch lebt. Ich hätte eine Maschinenpistole kaufen können. Wenn ich das Geld dazu gehabt hätte, hätte ich Dutschke damit zersägt.“ Bachmann hatte seine Schießausbildung von dem NPD-Mitglied Wolfgang Sachse erhalten und enge persönliche Kontakte zu Mitgliedern der späteren Wehrsportgruppe Hoffmann. Die auf das Attentat folgenden bundesweiten Proteste, insbesondere gegen den Springer-Verlag, erschütterten tagelang die Republik. Rudi Dutschke erholte sich nie mehr völlig von den Schusswunden und starb am 24. Dezember 1979 in Dänemark an den Spätfolgen des Attentats. Der Sozialforscher und Philosophie-Professor Helmut Reinicke, einer der Weggefährten von Rudi Dutschke, über den frühen Dutschke und die Bedeutung von Hans-Jürgen Krahl – in diesem zwölften Band der Bibliothek des Widerstands.
Ein LAIKA-Mediabook endet nicht mit der letzten Seite: Im hinteren Innendeckel erwartet Sie wie immer eine DVD, diesmal mit vier Filmen.
Aufrecht gehen, Rudi Dutschke – Spuren. Von Helga Reidemeister, BRD 1988, ca. 92 Minuten. Die Dokumentation zeigt, wie sich die persönliche Lebensgeschichte Rudi Dutschkes mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und Widersprüchen überschneidet. Die neuen sozialen Bewegungen sind ohne die Revolte der Sechziger Jahre nicht vorstellbar. Helga Reidemeisters Film enthält Gespräche mit Weggefährten Rudi Dutschkes und Freunden aus dem damaligen SDS, die bezeugen, daß Einfluß und Wirkung der damaligen Protestbewegung anhalten, daß die Geschichte der Neuen Linken bis heute fortwirkt.
Dutschke, Rudi, Rebell. Von Jürgen Miermeister, D 1998, ca. 35 Minuten. Nach Reidemeisters Film das zweite Dutschke-Porträt, das im deutschen Fernsehen gezeigt wurde – 1998 im ZDF.
Zu Protokoll: Günter Gaus im Gespräch mit Rudi Dutschke. Interview. BRD 1967, ca. 43 Minuten. Ein denkwürdiges Fernsehinterview, das der Journalist Günter Gaus am 3. Dezember 1967 mit Rudi Dutschke führte. „Kann der Mensch die Geschichte selbst in die Hand nehmen?“, fragt Gaus Dutschke damals. Rudi Dutschke antwortet ohne lange zu überlegen: „Er hat sie schon immer gemacht. Er hat sie bloß noch nicht bewusst gemacht. Und jetzt muss er sie endlich bewusst machen.“
Rudi Dutschke – sein jüngstes Portrait. Von Wolfgang Venohr, BRD 1968, 55 Minuten. Wenige Tage vor dem Attentat auf ihn kündigt Rudi Dutschke an, für einige Zeit politisch aus der Bundesrepublik wegzugehen, um im Ausland politisch zu arbeiten. Konkret wollte Rudi Dutschke nach Kuba. Dutschke begründet diesen Schritt damit, daß „unsere Revolution nur erfolgreich sein kann, wenn es uns gelingt, den revolutionären Prozeß zu internationalisieren“. Der Film von Venohr zeigt diese Rede und ein umfangreiches Interview mit Dutschke, in dem er sich zur Frage der Gewalt äußert und den Partisanenkampf auch in der BRD ab Anfang der 70er Jahr für möglich hält. Dieser Film von Wolfgang Venohr ist einmal im deutschen Fernsehen gelaufen und heute weitgehend, auch bei Kampfgefährten von Dutschke, unbekannt. Der LAIKA-Verlag stellt dieses für die historische Bewertung von Dutschke unerlässliche Dokument erstmalig einem breiten Publikum zur Verfügung.

Wenn Sie bestellen wollen, dann hier.
Die anderen Bände der Bibliothek des Widerstands sind in der Buchhandlung Weltbühne vorrätig oder werden schnellstens besorgt und sind, wie alle unsere Angebote, auch im Versand erhältlich.
Erinnern Sie sich stets an den Slogan:
„LIEBE leute BESTELLT bücher IN der BUCHHANDLUNG weltbühne UND sonst NIRGENDS.“
Weltbühne muß bleiben.

Mit dem Hut ins Theater. Das ging.

Es ist also über die Bühne gegangen – über die Theater-Bühne am Sonntag, das Konzert der Peter Bursch All Star Band zur Feier des hundertjährigen Bestehens des Duisburger Stadttheaters. (Siehe Eintrag vom 17. Oktober).
„Bursch & Co ließen es so richtig krachen“, stand heute in der WAZ. „Musikalische Überraschungen gab es kaum, aber dafür sind solche Abende ja auch nicht da.“ Richtig. Gleichwohl wage ich zu sagen: sowas hatte das Stadttheater in hundert Jahren noch nicht erlebt.

Konzertfotos von den Acoustic Nights 2011

Die All Star Band, die es seit 20 Jahren gibt, ist spezialisiert auf Cover-Versionen von Rock-Klassikern (an diesem Abend solche der 70er Jahre). Die Cover-Versionen brauchen sich hinter den Originalen nicht zu verstecken. Da sind Vollblut-Musiker am Werk, „in die Jahre gekommen“, also zur Reife gelangt, die dem Publikum großes Können darbieten. Überraschung des Programms war das Mitwirken des Streichquartetts der Duisburger Philharmoniker bei zwei Stücken.
Das Lob der Sängerin Birgitt Theiss an das ganz besondere Duisburger Publikum war nicht bloß eine Höflichkeitsfloskel. Es stimmt. Mich erinnerte das an unsere „Heimspiele“ der Bröselmaschine.
Das Theater, der Tempel der Hochkultur, büßte nichts von seiner Noblesse ein, als es „so richtig krachte“. Wir haben nämlich die Welt verändert.
Noch ein Klassiker (wenn ich so sagen darf), ein optischer war mein Filmchen „Kö“, das in Endlosschleife auf drei Monitoren im Foyer lief. Da standen tatsächlich Scharen von Leuten staunend und amüsiert davor. Dabei ist da doch nix anderes zu sehen als eine Straße immer wieder rauf und runter.

Hut-Film „Kö“

Hinterher Empfang auf der Bühne. Alles schwarz, der Boden, die Decke, die Wände, und riesig: eine Halle um ein Vielfaches größer als der Zuschauerraum, so funktional (und darum so schön) wie eine Fabrikhalle. Soetwas habe ich zum letzten Mal gesehen, als ich bei Mannesmann war. Man fühlt sich wohl in einer Atmosphäre der Leichtigkeit nach der Anspannung.

Da ist man ja froh, wenn man zum Ehrenmann befördert wird, in dem Eintrittspreis von nulleuronullundnullzig die Gebphren enthalten sind und man dann noch in einem Raum eingeladen wird, in dem ein Büffet steht. Spargel gab es natürlich nicht.

„Du kommst doch auch zum Weihnachtskonzert“, fragte mich der Akkordeonspieler der Band Barney Brands (gemeint: die Acoustic Nights 2012 im Steinhof). Würde ich gern. Mal sehen, was sich ergibt.

 

Mit dem Hut ins Theater. Das geht.

Das Duisburger Stadttheater gibt es seit hundert Jahren.
Darum: ein Festprogramm.
Darin: eine 70er-Jahre-Show mit der Peter Bursch All Star Band, am Sonntag, 21. Oktober 2012 um 18 Uhr.
Teil der Show: Der Film „Kö“, mein Opus aus dem Jahre 1978 (Hut-Film, 10 Minuten).

Als die Kö noch schön war

Da werden die Leute sagen: „Hut-Film? Kennen wir doch noch aus dem Esch-Haus.“

Stecken immer noch unter einer Decke: H.L. und Peter Bursch

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Ein Samstag im Jahre 1969

Das war gar nicht im Jahre 1969, fällt mir gerade ein. Das war im Jahre 1970, und zwar im Februar. Es hätte aber auch im Jahre 1969 sein können, dann aber im November, denn im November ist ein ähnliches Wetter wie im Februar. Jedenfalls ging man damals mit den Samstagen um, als gäbe es genug davon.
Wir waren an diesem Samstag am frühen Nachmittag verabredet, um uns in die Politische Ökonomie einzuarbeiten. Das wurde „Schulung“ genannt. Die „Schulung“ sollte stattfinden bei Dietmar Ernst, also in Neudorf. Der Dietmar Ernst paßte in unsere KPD/ML-Gruppe genauso wenig hinein wie die meisten von uns. Leute wie ihn pflegte man als „zornige junge Männer“ zu bezeichnen. Er war ein paar Jahre älter als ich, wohl schon Mitte 20, trug wie fast alle männlichen KPD/ML-Mitglieder dieses Alters einen Stalin-Schnurrbart, war wirklich ein „zorniger junger Mann“, lachte nie, brachte aber unentwegt andere zum Lachen mit seinen kunstvoll vorgetragenen Sarkasmen. Er wohnte auf der Blumenstraße in einem riesigen Altbau (Foto) im Dachgeschoß, das ebenfalls riesig war, bestehend aus sehr vielen kleinen Zimmern.


Wir hatten uns also zu fünft dort eingefunden, vier Männer und eine Frau. Anne fehlte noch. Sie wollte etwas später kommen. Ich sollte sie zur verabredeten Zeit von der Straßenbahnhaltestelle abholen.
Anne war meine Freundin. Sie war die hübscheste von allen. Sie hatte wunderschönes langes dunkelbraunes Haar. Jedem gefiel sie, mancher begehrte sie, aber mich hatte sie erhört. Niemand hatte gewußt, daß ich in sie verliebt war, aber alle hatten gewußt, daß sie in mich verliebt war, bloß ich nicht. Wir haben dann aber doch zueinander gefunden und waren ein richtiges Traumpaar.
Anne war sehr gescheit und von unbändiger Neugier auf alles, was man wissen und erfahren kann. Man hätte ihr über alles mögliche etwas erzählen können, über Astronomie, über Geologie oder über isländische Literatur – sie hätte sich das alles aufmerksam angehört.
Sie hatte eine Schwäche: Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Den Weg von ihrer Haustür zur Straßenbahnhaltestelle fand sie zwar, auch gelang es ihr, an der richtigen Station aus der Bahn auszusteigen. Aber den Weg von der Haltestelle Neudorfer Straße zur Blumenstraße (etwa hundert Meter geradeaus) konnte sie nur finden, wenn man sie an der Hand nahm und führte. Sie hatte mir eingeschärft, sie zur verabredeten Zeit an der Haltestelle abzuholen.
Ich ging also zur Haltestelle. Aus der Bahn, mit der sie kommen wollte, stieg sie aber nicht aus. Sie wird sie wohl verpaßt haben, dachte ich, und wartete auf die nächste. Mit der nächsten kam Anne auch nicht, auch nicht mit der übernächsten. Es wurde ein langes Warten.
Während ich wartete, fand sich an der Haltestelle ein alter Mann ein, der – das war leicht zu vermuten – zu denen gehörte, die über keine Wohnadresse verfügen. Sein Mantel war sehr abgetragen, die zahlreichen Plastiktüten, die er mit sich trug, enthielten wohl all seine Habseligkeiten. Auf dem Haupt hatte er kaum noch Haare, dafür hatte er einen langen Bart. Für die Comic-Figur „Herr Natürlich“ von Robert Crumb hätte er das Modell sein können.


Als die nächste Straßenbahn eintraf, begann er, hastig die Plastiktüten aufzuheben. Als dann endlich all seine Tüten hochgehoben waren, war die Bahn schon abgefahren, und er ließ sie wieder zu Boden sinken. Das wiederholte sich noch ein paar mal. Nie war er schnell genug mit dem Zusammenraffen der Tüten, immer fuhr die Bahn ohne ihn ab. Mir fiel auf, daß die Bahnen, in die mit seinen Tüten einzusteigen er nie schaffte, von verschiedenen Linien waren und auf verschiedenen Wegen zu verschiedenen Stationen fuhren. Er wollte mit der Straßenbahn wegfahren, und es kam ihm offensichtlich nicht darauf an, mit welcher und wohin.
Nachdem er auf diese Weise wohl schon ein halbes Dutzend Straßenbahnen verpaßt hatte, begann er, mit durchdringender Stimme und in erheblicher Lautstärke ein Lied zu singen, das auch nach der vierzigsten Strophe noch nicht zu Ende war. Der Text war dermaßen bescheuert, daß er nur selbstgedichtet gewesen sein konnte. Die erste Zeile lautete:
„Was ist das Leben heut‘ so schwer! Man findet keine Ruhe mehr!“
Die Botschaft des Liedes läßt sich etwa so zusammenfassen: Wie man es auch dreht und wendet, das Leben bringt doch nur Verdruß.
„Hast du einen kleinen Laden, hast du auch so deine Plagen!“
Die beiden älteren Damen, die da auch auf eine Straßenbahn warteten, sagten zwar nichts, aber die Indigniertheit über den lautstarken Balladenvortrag war ihnen anzumerken. Als der Sänger dessen gewahr wurde, stellte er sich vor eine der beiden Damen hin, nahm eine Boxerstellung ein, tänzelte mit erhobenen Fäusten vor ihr hin und her und ließ die Fäuste durch die Luft sausen, immer die Nase der Dame knapp verfehlend. Die Damen waren fassungslos über das Geschehen. Weniger fürchteten sie sich, von einem Boxhieb getroffen zu werden. Aber es war ihnen furchtbar unangenehm, daß da einer sich dermaßen aufführte.
Ich verbrachte wohl eine Stunde an der Haltestelle und entfernte mich dann, so daß ich nicht weiß, wie die Geschichte mit den vergeblichen Abreiseversuchen ausging, und ich Ihnen nicht sagen kann, welche Wendung schließlich dazu führte, daß der Mann mit seinen Tüten jetzt nicht mehr an der Haltestelle steht. Anne war nicht gekommen; es wird ihr wohl – so vermutete ich – etwas dazwischengekommen sein. Ich ging also wieder dorthin, wo nun mit Verspätung die Schulung auf der Grundlage des Lehrbuchs der Politischen Ökonomie (Dietz-Verlag 1955) beginnen sollte.
Als wir uns in das Studium der Produktionsweise in der Urgemeinschaft eingearbeitet hatten, klingelte es. Dann stand Anne in der Tür. Sie sah zu mir hin mit einem so vorwurfsvollen Blick, wie ich ihn nie zuvor und auch nie danach in meinem Leben im Angesicht eines Menschen wahrgenommen habe. Sie sagte kein Wort. Warum ich nicht auf sie gewartet hatte, wollte sie gar nicht wissen. Da gab es nichts zu erklären, nichts auf der Welt hätte meinen frevelhaften Akt der Untreue rechtfertigen können, und auch dafür, daß ich mich jetzt nicht einfach vom Erdboden verschlingen ließ, gab es keine Entschuldigung.
Ein halber Samstag Studium der Politischen Ökonomie ist überaus anstrengend und erschöpfend. Um acht Uhr wurde was von der Pommesbude geholt und um viertel nach acht kam im Fernsehen ein Miss-Marple-Film. Den sahen wir uns an, das mußte einfach sein. Anne aß nichts und schaute völlig desinteressiert auf den Fernsehbildschirm. Ebensogut hätte sie anderthalb Stunden lang vor einem ausgeschalteten Fernsehapparat sitzen können.

Anne mit 15, hier sehr freundlich

Als wir etwa um zehn Uhr das Haus verließen, hatte ich erstmals wieder Gelegenheit, mit dieser Unerbittlichen Worte zu wechseln. Ich war darauf gefaßt, die halbe oder die ganze Nacht damit zuzubringen, sie zu besänftigen, hoffte aber, auf dem kurzen Weg zum Taxistand am Osteingang des Hauptbahnhofs die Sache halbwegs geradebiegen zu können. Denn ich wollte in der Nacht noch „Nummer Sechs“ sehen. Das war eine TV-Serie, die war noch schräger und abgefahrener als „Mit Schirm, Charme und Melone“, noch undurchsichtiger und mit psychedelischem Anhauch. Und an jenem Tag sollte der letzte Teil kommen, in dem sich alles auflöst. Würde es mir gelingen, meine Anne zurückzugewinnen und mich dann noch rechtzeitig allein vor den Fernsehapparat zu setzen? Heutzutage, wo man alles auf Video aufzeichnen kann, erscheint einem eine solche Überlegung vielleicht unvorstellbar.
Immerhin: sie öffnete den Mund. Und sie erklärte, daß sie ja vielleicht mal darüber nachdenken könne, ob sie es sich vielleicht überlegt, vielleicht in Betracht zu ziehen, es vielleicht doch noch mal mit mir zu versuchen. Sie gestattete mir sogar, im Taxi mitzufahren. Mehr war an diesem Abend wirklich nicht mehr rauszuholen.

aus Der Gartenoffizier. 124 komische Geschichten. Situationspresse 2008. 268 S. 16,50 Euro. ISBN 978-3-935673-24-2

P.S.: Als Anne diese Geschichte las, machte sie mir Vorwürfe. Sie war richtig ungehalten: „Das stimmt doch gar nicht! So habe ich dich nie behandelt! Ich war zu dir nie ungehalten, und ich habe dir nie Vorwürfe gemacht! Wie konntest du nur sowas schreiben? Ich fasse es nicht! Was bist du überhaupt für ein Mensch?“

Nach der Revolution gibt es Kaffee und Kuchen

16 Bilder aus dem Film von 1975.
„Nach der Revolution gibt es Kaffee und Kuchen“ war mein erster fertiggestellter Film, produziert von der „Hut Filmproduktion“, uraufgeführt im Eschhaus. Er dauert 10 Minuten.

 

Anlaß war, daß Friedhelm Ripperger, den alle nur unter seinem Spitznamen Obelix kennen, gerade wieder in die Freiheit entlassen worden war. Da er über ein Jahr wegen Dope eingesessen hatte, sahen wir ihn als politischen Gefangenen. Darum wurde er von der Roten Hilfe betreut (die Duisburger Rote Hilfe galt als sehr eigenwillig und „freakig“ und wurde von einigen anderen Rote-Hilfe-Gruppen beargwöhnt).
Der Film darf als ein Manifest der hedonistischen Linken aufgefaßt werden. Der Utopie einer „Gleichheit in Kargheit“ wird widersprochen.

Das gehört noch zum Vorspann: Der Regisseur trinkt Kaffee.

Magda Gorny und Wolfgang Strähler.

Friedhelm Ripperger, genannt Obelix.

Das letzte Bild ist ein Foto aus der Portugiesischen Revolution („Nelkenrevolution“), die das faschistische Regime beseitigte. Grund zum Feiern.

Das schöne rote Nachspannband ist Teil des Films! Das ist der Moment der Ruhe nach der Geschichte. Ich kann die Leute nicht leiden, die im Kino, sobald der Nachspann beginnt, aufspringen und aus dem Kino rennen, als wären sie auf der Flucht.
Über den Film ist im Internet ein Kommentar von Mario Weißenfels zu lesen. Die Folkband Ship of Ara verwendete den Film für einen Videoclip .


„Nach der Revolution gibt es Kaffee und Kuchen“ ist auf der DVD „Der 11. Mai und andere Kurzfilme von Helmut Loeven“ enthalten (für 12,50 € in der Buchhandlung Weltbühne – auch im Versand – erhältlich).