Das Foto zum Zwanzigsten

Juli2013-IMG_9603Großenbaum. Saarner Straße.
Sie könnten (am Zwanzigsten jedes Monats) der Eindruck haben, daß Duisburg eine doch recht schöne Stadt ist – wenigstens an ein paar Stellen.
Das sind aber nur die paar Stellen, die die Stadtentwickler bisher übersehen haben.

Bilder von einer Wanderung

Die katholischen Hochfeste, die in den Frühling fallen, wenn es lange hell bleibt, und die zudem gesetzliche Feiertage sind („Christi Himmelfahrt“, Pfingstmontag, „Fronleichnam“) nutze ich für ausgedehnte Wanderungen durch Wälder, Felder und Siedlungen.
Die dafür verwendete Zeit ist Arbeitszeit. Denn im weiten Horizont werden Arbeiten vorbereitet. Man erinnere sich an Nietzsche: „Mißtraue einem Gedanken, der nicht beim Gehen entstanden ist.“

ch2013-01ch2013-02Regattasee in Wedau, vom Start aus gesehen. 2000 Meter.

ch2013-03Kann man sich vorstellen, daß jemand Ruschaub heißt und dauernd erwähnt wird? Ich kann mir das vorstellen.

ch2013-04„Was ist das denn für ein Fotograf?“

ch2013-05Wird ein WASSERTURM in dem Moment, wo er nicht mehr als solcher genutzt wird, zum Kunstwerk? Oder war er es vorher schon? Ich neige zum letzteren. Gilt auch für die Masten der Überlandleitungen.
Sind solche Gedanken produktiv? Oder bin ich ZU WEIT GEGANGEN?

ch2013-06Hier läßt es sich bestimmt gut wohnen.

ch2013-07„Mal ehrlich, Kumpanen, wer von uns möchte da wo-ho-ho-honen?“

ch2013-08ch2013-09Auf den Bahnhof Wedau werde ich immer wieder zurückkommen.

ch2013-10Blick über den stillgelegten, von Renate König in einer Kurzgeschichte beschriebenen Wedauer Rangierbahnhof. (Er war, in Betrieb, der größte Rangierbahnhof der Welt).

ch2013-11Da oben wohnte Onkel Fritz. Der Blick IN DIE WEITE aus dem Wohnzimmerfenster (ganz oben, links) gehört zu dem großen Eindrücken meiner Kindheit.

ch2013-12..

Äpfel, Pflaumen, Birnen (Dritter Teil)

Sie will noch mehr wissen: „Über die Liebe und so.“ Und ich kann ihr, ohne gar zu sehr ins Detail zu gehen, auch darüber etwas erzählen.
„Und du? Auch ein bißchen bi?“
„Bi? Nie! Ich bin Ultra-Hetero!“
Ich sage ihr dann noch (an dieser Stelle vielleicht etwas deplaziert?): „Ich muß sagen, Ingrid, ich war damals nicht wenig beeindruckt von dir. Du standest da immer so souverän im Getöse. Mit deinen flammenroten Haaren warst du ein Wahrzeichen. Du warst durch nichts aus der Ruhe zu bringen, hast alles überblickt, und du hattest so ein überlegenes, manchmal spöttisches Lächeln auf den Lippen.“
„Ja. Beeindruckt warst du. Und du hast mir immer auf den Hintern gestiert. Bei jeder Gelegenheit. Meinst du, ich hätte das nicht gemerkt? Hast du doch vorhin auch wieder getan. Hör mal, das ist aber jetzt kein Grund, um rot zu werden! Mann! Das steht dir schließlich zu! Mann!“ Sie sieht zum Fenster und sagt leise: „Eigentlich fand ich das irgendwie nett von dir. Außerdem habe ich dich auch gern angesehen. Du hattest so schööne Häände.“
„Es ist doch erstaunlich, mit wie wenig die Frauen sich zufriedengeben.“
„Sag das nicht!“ sagt sie laut. „Eine schöne Hand ist wie ein Elefant.“
„Was??“
„Das ist zwar Unsinn, aber es reimt sich.“
Sie sieht mich scharf an: „Und? Dein Urteil? Gut in Form?“
„Was?“
„Das Urteil des Paris! Sprich!“
„Das Urteil?“
„Das! Wo! Du! Immer! So! Gern! Hin! Schaust! Und! Vorhin! Auch! Wieder! Hingeschaut! Hast!“
„Hm. Hm. Ich würde sagen: Kallipygisch!“
„Kalli…? Ist wohl ein Kompliment?“
„Das bedeutet ins Deutsche übersetzt das, was du hören wolltest.“
„Hm! Hm, hm, hm! hmhmhm! Wir haben uns, als die Zeit dafür am besten war, zu wenig mit den wesentlichen Dingen beschäftigt.“
„Ja! Es ging in Wirklichkeit doch gar nicht um die richtige Losung, sondern um das richtige Leben.“
„Ja! Das richtige Leben!“
„Ich meine: mit allem drum und dran.“
„Mit allem drum und dran. Mit allem Pipapo. Mit Pipa und: Po!“
Kling!
Kling!
Plötzlich schweigen wir. Ist es Verlegenheit? Täusche ich mich? Es kommt mir vor, als wäre sie jetzt den Tränen nahe. Es kommt mir vor, als hätte sie es nicht gern, wenn ich sehe, wenn sie weint.
„Was ist mit deinem alten Zimmer?“
Sie wacht auf. „Mein altes Zimmer! Ja! Komm! Ich zeig es dir. Komm mit rauf. Wir nehmen die Gläser mit. Die Flasche ist leer. Ich nehm diese mit: Pflaumenwein. Aber komm erst mit in die Küche. Hier, steck dir das ein: Pflaumenmus. Und Birnenkompott, mit ein bißchen Honig, viel Zimt und wenig Nelken. Du erinnerst dich?“
„Erinnern ist meine Hauptbeschäftigung.“
„Die Gläser muß du mir zurückbringen. Jedes Einweckglas in diesem Haus ist mindestens hundert Jahre alt.“
Sie geht mir voraus die Treppe hinauf. Wir kommen in ihr Zimmer.
„Hier ist ja gar nichts verändert.“
„Nicht ganz. Schau mal da.“
Da hängen die Plakate von Dutschke und Che, und dazwischen ein leerer DIN-A-2-Bogen.
„Ich habe den MLern geschworen, das Mao-Bild nie von der Wand zu nehmen. Da hab ich es einfach verkehrt herum aufgehängt, mit dem Gesicht zur Wand. Soll der sich doch die Tapete näher ansehen. Außerdem: Mao ist tot. Die beiden anderen leben noch.“
Jetzt füllt der Pflaumenwein die Gläser.
„Auf Mao!“
„Auf den Großen Steuerberater!“
Kling!
Kling!
„Die haben ein Theater gemacht die MLer damals, weil hier noch ein Bild von Dutschke hing. Bei Che waren sie sich nicht sicher. Aber Dutschke: unmöglich! Ich dachte: Jetzt muß ich denen noch etwas über Juliette Gréco erzählen, damit sie darauf noch wütender werden. Die mußten mich rausschmeißen, konnten aber nicht. Ich habe viele Rote Morgens verkauft, von denen ist keiner jemals einen Roten Morgen losgeworden. Weil die wußten, daß sie mich brauchten, habe ich mir einige Frechheiten erlaubt. Ich mußte mal ein Referat halten in einer öffentlichen Versammlung. Ich habe mir den Spaß gemacht, über was ganz anderes zu reden, ein völlig zusammenhangloses Referat. Es war schlimm, daß ich das in einer öffentlichen Versammlung gemacht habe, obwohl gar keine Öffentlichkeit gekommen war, bloß der eine, der nicht in die Partei eintreten durfte, damit wir eine Massenbasis haben, eine Ausstrahlung nach außen. Ich hatte aber mit einem Lenin-Zitat begonnen. Gegen Lenin konnten sie ja nichts sagen.“ Und ganz plötzlich ist sie wieder ernst und melancholisch: „Ich hab mich so allein gefühlt. Ich hätte einen Komplizen gebraucht.“
„Wir hätten es weitertreiben müssen. Wir hätten eine gefälschte Roter-Morgen-Ausgabe in Umlauf bringen müssen, mit der Schlagzeile: ‚Eine schöne Hand ist wie ein Elefant‘.“
Sie lacht mehr als dieser Witz wert ist. Die Apfel-Pflaumen-Birnen-Weine haben uns schon weit getragen.
„Ach Ingrid! Warum haben wir eigentlich nicht geheiratet?“
„Ja, stimmt“, sagt sie nachdenklich, „das haben wir kein einziges mal gemacht. Wenn ich mich richtig erinnere, warst du aber schon in festen Händen.“
„Warum haben wir nicht einfach trotzdem geheiratet?“
„Du hast mir ja auch nie einen Antrag gemacht, trotz meiner Calypso-Vorzüge oder wie du das genannt hast, du Poet! Du Komplize, der nicht da war! Ich bin auf der Treppe vor dir her gestiegen, für dich Genießer! Aber nur schauen, nicht anfassen, heute noch nicht. Ich schpräsche als Antanz- als An-Stanz-Tante – danke – als Stanz-Dame in eigener Sache.“
Täusche ich mich? Es kommt mir so vor, als hätte sie es lieber, wenn mein Besuch nun nicht länger dauert, jetzt, wo ihre Haltung und ihr Sprechen ins Schwanken gekommen sind. Sie führt mich wieder nach unten, aber nicht zurück ins Zimmer, sondern zur Tür.
Wir stehen in der offenen Haustür und schauen zum verdunkelten Himmel dieses Frühherbsttages.

Buchholz03„Weißt du noch, als wir Kinder waren, sagte man uns: wenn der Himmel am Abend rot ist, dann backt das Christkind Plätzchen für Weihnachten.“
„Ja. Da drüben im Westen, hinter den Bäumen. Wenn bei Mannesmann Abstich war, leuchtete der Himmel. Das Abendrot unserer Heimat.“
„Du kannst ja nochmal zu mir kommen“, sagt sie leise. „Besuch mich. Aber nicht zu oft. Nicht jeden Tag. Nicht oft. Es könnte … ich würde … vielleicht … Ich mag dich. Aber versteh mich bitte.“
Trotzdem gebe ich ihr einen Kuß auf die Wange, schau sie an, und dann bin ich schnell verschwunden, auf der Straße zu der Eisenbahnbrücke, die in der Dämmerung kaum noch zu sehen ist.

Äpfel, Pflaumen, Birnen (Zweiter Teil)

Sie hat mich in das Zimmer geführt, das einstmals das Wohnzimmer ihrer Eltern war. Die ganzen alten Möbel stehen noch hier, nur jeglicher Zierrat ist entfernt. In der Vitrine des Wohnzimmerschranks liegen Stapel von Zeitungen. Ich sitze auf einem durchgesessenen Sofa, sie sitzt mir gegenüber auf einem Sessel mit durchgewetzten Armlehnen.
Sie hat zwei Gläser auf den Tisch gestellt und gießt aus einer Flasche ohne Etikett ein.
„Das ist unser klassischer Birnenwein. Der ganze Keller ist davon voll, und jedes Jahr kommen neue Flaschen hinzu.“
„Du machst immer noch Wein aus Birnen?“
„Ich hab‘s mir von meinem Vater zeigen lassen. Nur das Schnapsbrennen hab ich nicht kapiert. Der Schnaps geht irgendwann zur Neige. Aber alles andere, die Gelees, den Kompott mache ich immer noch selbst. Das habe ich an den Wochenenden gemacht. Jetzt hab ich mehr Zeit dafür, seitdem ich arbeitslos bin.“
„Ach!“
„Ja. Komm, laß uns anstoßen! Auf die neue Zeit! Und auf die gute alte!“
Kling!
Kling!

Unsere Volksschule

Unsere Volksschule

„Hmm!“
„Schmeckt dir, was? Ja, die haben mich wegrationalisiert. Ich war bei Bayer, erst in Uedringen, dann in Wuppertal. Ich hab ja Betriebswirtschaft studiert mit Doktor.“
„Frau Doktor Ulmer!“
„Hör auf! Ich bin froh, daß ich nicht mehr jeden Morgen nach Wuppertal brausen muß und nicht mehr jeden Nachmittag im Stau stehen muß.“
Jetzt reden wir über unsere Lebensläufe. Wir beide sind fast auf den Tag genau aus unseren KPD/MLen rausgeflogen. „Ausgeschlossen! Um mich loszuwerden, mußten die mich rausschmeißen.“ (Gilt für sie und für mich). „Schade um die vergeudeten anderthalb Jahre! Hätten wir mehr draus machen können.“
„Die Bücher da draußen“, sagt sie, „habe ich für dich da hingestellt.“
„Ach was!“
„Dochdochdoch! Ich wußte, daß du irgendwann mal kommst, daß du dich irgendwann mal traust.“
„Und was bedeutet das? Räumst du auf mit deiner revolutionären Vergangenheit?“
„Beleidige mich nicht! Für was hältst du mich? Neinnein. Das sind die Bücher, die ich doppelt habe.“
„Bücher doppelt?“
„Sowas passiert. Einmal hab ich zum Geburtstag drei mal das gleiche Buch geschenkt gekriegt. Neenee, ich bin nicht vom Glauben abgefallen, falls du das meinst. Besser gesagt: Ich bin nicht übergelaufen. Aber ich bin in keinem Verein mehr drin. In keinem. Nie wieder! Nach der ML war ich beim Sozialistischen Büro. Aber das hat sich ja auch in Wohlgefallen aufgelöst. Immerhin war ich zehn Jahre lang im Betriebsrat, bis die von der IG Chemie mich nicht mehr sehen wollten.“
Sie erzählt, daß sie kaum ein Konzert verpaßt, ob Rockkonzerte oder Jazz oder Chanson. Sie erzählt von ihrer Plattensammlung (fast tausend LPs), von ihren Büchern, ihren Lektüren und ihren Zeitungen: „Die Taz hab ich abbestellt, das Käseblatt. Stattdessen lese ich die Süddeutsche. Die Junge Welt kaufe ich nur einmal im Monat, obwohl ich in der Genossenschaft bin – eine Genossenschaft ist ja kein Verein. Die UZ vergesse ich immer abzubestellen. Aber man braucht ja auch was, um den Rhabarber darin einzuwickeln.“
Sie erzählt von ihren Jobs. „Ich habe immer in diesem Haus gewohnt, nie woanders. Ich habe immer gependelt, zur Uni nach Bochum, dann zu meinen Jobs zuerst in Köln, zuletzt in Wuppertal. Jetzt habe ich mein Auto verkauft, weil ich niiie mehr pendeln will. Hier in Buchholz kann man ganz gut einkaufen, ich brauche kaum raus aus dem Viertel. Es gibt ja auch noch die Straßenbahn.“
„Du kriegst jetzt ALG 1?“
„Ja.“
„Und wenn du ALG 2 bekommen willst, nehmen die dir dann nicht das Haus weg und verfrachten dich nach Marxloh oder Bruckhausen?“
„Mich kriegt hier keiner weg. Dann sollen die doch ihr ALG Hartz einszwodreivier behalten und mich am Arsch lecken. Ich hab gut verdient, sehr gut verdient und gespart. Und viel brauch ich nicht. Das Haus gehört mir, ich bezahle keine Miete. Und einiges hole ich mir aus dem Garten. Gemüse, sogar Kartoffeln, und Obst natürlich. Ich hab noch nie Marmelade gekauft. Und ‘n Hühnerstall hab ich auch noch.“
Sie erzählt: „Ich hab nie mit einem Mann zusammengelebt. Ich war immer Single.“ Sie erzählt: „Einige Zeit habe ich – wie soll ich sagen – die Männer verschlissen. Aber sei mir nicht böse. Unglücklich gemacht hab ich sie nicht. Schon deshalb nicht, weil ich nie mit einem zusammengezogen bin. Früher hatte ich öfter was mit Frauen, mit Mädchen besser gesagt. Das hat mir mehr Spaß gemacht.“
„Ein bißchen bi schadet nie.“
„Ein bißchen bi, hihihi! Fünf Jahre war ich mit einer Frau zusammen, hier unter diesem Dach, mit allem drum und dran – wenn du weißt, was ich meine. Bis die sich ein anderes Modell gesucht hat“, sagt sie mit etwas Wehmut und etwas Zorn. „Wir sind gerade mal einen Monat auseinander. Prost!“
Sie erzählt, daß sie früher ein- oder zweimal in der Woche im Finkenkrug war.
„Im Finkenkrug? Das ist keine hundert Meter von meiner Wohnung entfernt.“
„Du wohnst in Neudorf?“
„Ja, auf der Finkenstraße. Das war immer mein Traum. Neudorf!“
„Das Intellektuellenviertel.“
„Ist auch nicht mehr das, was es mal war.“
„Aber Neudorf paßt zu dir.“
Sie hat, nun schon zum dritten Mal, von dem Birnenwein nachgeschenkt.
„Du mußt doch nicht noch gleich fahren, oder?“
„Neinnein. Ich bin auch ein Straßenbahnbenutzer. Aber transportiert die DVG auch Besoffene?“
„Soweit muß es ja nicht kommen. Hör mal, ich erzähl dir alles von mir, jetzt red du mal, du Rechtsabweichler oder Linksabweichler! Ich weiß gar nicht mehr, was für‘n Abweichler wir dich damals genannt haben. Bist du noch bei der Fahne? Bist du in einem Verein? Los! Rechenschaftsbericht! Erzähle!“
„Jaaa. Ich bin in einem Verein. Ich bin in der DKP.“
„Waas? Duu? In der Dekapée? Hahaha! Nee, is‘n Scherz, oder?“
„Kein Scherz.“
„In‘ner Dekapée! Ausgerechnet du! Du bist wohl auch nicht aus Schaden klug geworden. Aber beruhig dich. Ich hab euch immer gewählt. Die UZ werde ich jetzt doch nicht abbestellen, versprochen. Vielleicht lese ich die sogar mal dir zuliebe, du – Abweichler du!“
Sie hat wieder nachgegossen und hebt ihr Glas: „Auf die Genossen! Auf die Standhaften und ihre Gesichter!“
Kling!
Kling!
„Aber deine Party, deine Par! Tei! ist doch nicht dein ganzes Leben.“
„Also: Ich habe mir einiges vorgenommen: Einmal im Leben…“
„…Einmal im Leben ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, einen Sohn zeugen und einen Mann erschießen?“
„…Und in ein fremdes Land einmarschieren? Nichts davon! Einmal im Leben ein Buch schreiben. Einmal im Leben eine Schallplatte machen. Einmal im Leben einen Beitrag in Konkret unterbringen. Einmal im Leben in einer Rock-and-Roll-Band sein. Einmal im Leben einen Film machen. Einmal im Leben als Kabarettist vor Publikum auftreten. Das hab ich alles gemacht. Ich mußte es einmal machen und durfte es öfter machen. Ich habe ein paar Bücher geschrieben, ein paar Schallplatten gemacht – CDs, ein paar Filme gemacht – DVDs, bin unzählige Male als Kabarettist aufgetreten.“
„Hör mal, du hast doch auch mal so ein Blättchen herausgegeben mit so einem komischen Namen: Fritz oder Karl oder Otto.“
„Nein: ‚Der Metzger‘ heißt das.“
„Ach ja! ‚Der Metzger‘! So hieß das.“
„Das mache ich immer noch.“
„Immer noch? Immer noch ‚Der Metzger‘?“ Sie beugt sich zu mir vor und tippt mir auf die Nase. „Ich habe dich unterschätzt!“ Sie plumpst wieder in ihren Sessel. „Und du schreibst?“
„Früher schrieb ich lange Aufsätze. Heute schreibe ich eher Glossen und Geschichten.“
„Zum Beispiel über sowas wie die Begegnung mit einer alten Freundin?“
„Jjjjjjja, das könnte ich mir vorstellen, so eine Geschichte zu schreiben.“
Sie will einiges mehr wissen über meine Arbeit, und auch über meine Ökonomie.
„Wir haben beide diese Stadt nicht verlassen“, sage ich, „da wundert es mich, daß wir uns nie begegnet sind. Warst du eigentlich nie im Eschhaus?“
„Doch, ein paar mal.“
„Und wir sind uns nie begegnet?“
„Da war so‘n kleiner Buchladen drin. Hattest du damit was zu tun?“
„Das kann man wohl sagen. Das war mein Laden.“
„Ach! Da hab ich mir ab und zu mal einen Arm voll Bücher gekauft.“
„Dann verdanke ich also dir meinen Reichtum.“
„Da war immer so‘n großer Dicker in den Laden.“
„Das war der Eppler.“
„Eppler. Aha.“
„Und jetzt habe ich immer noch einen Buchladen. In Neudorf auf der Gneisenaustraße.“
„Ach, davon habe ich gehört. Das ist dein Laden? Ich muß wohl mal vorbeikommen.“
„Es wird die höchste Zeit.“
„Na hör mal! Du hast dir auch nicht wenig Zeit gelassen, du Abweichler!“

FORTSETZUNG FOLGT.

Äpfel, Pflaumen, Birnen (Erster Teil)

Man verliert Menschen aus den Augen, mit denen man mal viel zu tun hatte. Man hat lange nichts mehr von ihnen gehört. Und dann, nach langer Zeit, bekommt man eine traurige Nachricht. Manchmal aber ist diese Nachricht falsch. Das ist erleichternd, aber ein Rest von Verstörtheit bleibt.
Ich war in die Klassensprecherin verliebt. Sie war blond, sehr gescheit und sehr ordentlich. Ich wußte nicht, wie ich einem Mädchen sagen sollte, daß ich in sie verliebt war. Sie wußte also nichts davon. Meingott, wie alt war ich? Elf Jahre. Ich nenne ihren Namen nicht, sie könnte es lesen. Es wäre zu spät, würde sie es jetzt erfahren.
Sie wechselte zum Gymnasium, ein Jahr früher als ich. Weg war sie. Da blieb mir nichts anderes übrig, als mich in ihre Nachfolgerin zu verlieben. Das war Ingrid Ulmer. Sie hatte flammenrotes Haar, wirres, wildes Haar, das in alle Richtungen stand, und sie war sehr gescheit und sehr ordentlich. Sie hatte ein rundes Gesicht, und ein Vorderzahn stand ein bißchen schief. Sie hatte ein bißchen mehr Temperament als ihre Vorgängerin und lachte mehr. Ein paar Jungens in der Klasse sagten immer „jaa, jaa!“, wenn ich den Namen Ingrid aussprach. „Jaa, jaa! Du und die Ingrid!“ Die fanden, Ingrid und ich müßten ein Paar sein. Das würde sich so gehören, daß wir ein Paar sind.
Als wir dann auf „Höhere Schulen“ (wie man damals sagte) wechselten, auf verschiedene, denn es gab damals nur Jungens- und Mädchensgymnasien, waren wir getrennt. Ich zog auch noch in einen anderen Stadtteil, wir wußten nichts mehr voneinander. Aber dann begegneten wir uns wieder, ein paar Jahre später, und zwar auf einer Demonstration.
„He, du! Auch hier?“
Es war die Zeit gekommen, in der eine intelligente junge Frau, um ihre Intelligenz nicht zu verraten, demonstrieren mußte, und zwar für ein Ganzes gegen ein Ganzes. Da war ich dann manchmal wieder bei ihr zu Besuch. Da waren viele zu Besuch, die wenigsten kannte ich. Es wurde viel und schnell geredet. Manchmal waren außer mir nur ein oder zwei Besucher da. Da wurde weniger und langsamer geredet.

Buchholz01Sie hatte immer noch ihr Zimmer unter dem Dach des alten Hauses, wo wir auch schon mal Kindergeburtstag gefeiert hatten. Jetzt hatte das Zimmer eine weiß-rote Tapete mit großem Muster. An der Wand hing ein Plakat von Rudi Dutschke und ein Plakat von Che Guevara. Später hing da auch ein Plakat von Mao, neben einem Plakat von Juliette Gréco.
Bevor wir uns dann wieder aus den Augen verloren (ich nahm an, daß sie wohl in eine andere Stadt gezogen war, um zu studieren), sahen wir uns öfter auf der Straße, wenn etwas los war, bei Demonstrationen etwa oder sonstigen Happenings. Unsere Kommunikation war allerdings blockiert, denn wir hatten uns beide in die KPD/ML verirrt. Sie war eine fleißige und sehr ordentliche KPD/MLerin.
„He, du! Wann kommst du denn mal wieder mich besuchen?“ fragte sie. Das irritierte mich. Denn wir gehörten zu zwei verschiedenen Fraktionen der KPD/ML, waren also Feinde. Ihre Freundlichkeit konnte nichts Gutes verheißen, dachte ich (so ein Idiot war ich mal).
„Komm doch einfach mal vorbei. Es gibt Birnenkompott“, sagte sie mit etwas Spott in der Stimme.
Ich mußte mir wehmütig eingestehen, daß die bewundernswert war, wie sie immer da stand, alles überblickte, sich nie aus der Ruhe bringen ließ, manchmal überlegen lächelte. Ach, wäre sie doch bloß nicht in dem falschen Verein! Sondern bei uns! (Dann wäre sie in einem genauso falschen Verein gewesen).
Das alte Haus, in dem sie mit ihren Eltern wohnte, war typisch für dieses Viertel am südlichen Rand der Stadt. Da gab es nur alte Häuser und noch ein paar Bauernhöfe. Die Häuser hatten große Gärten mit Hühnerställen, Gemüsebeeten und Obstbäumen. Hinter Ingrids Haus war eine große Wiese mit hohem Gras und einige Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume, dazwischen Sträucher mit Himbeeren, Stachelbeeren, roten und schwarzen Johannisbeeren, ein Kirschbaum. Für die Äpfel mußte man in die Bäume klettern; die Birnen fielen herunter, und man mußte sie aufheben. Viele Birnen blieben im hohen Gras liegen, es war ein Überfluß an Früchten, aus denen alles gemacht wurde, was man sich nur vorstellen konnte: Apfelkuchen, Pflaumenkuchen, Birnenkompott, Marmeladen, Gelees, Pflaumenmus, sogar Liköre, Schnäpse und ein Birnenwein. Im Herbst und im Winter, wenn es schon nachmittags dunkel wurde, dann gab es was zu genießen: Pflaumenkuchen mit Sahne und schwarzem Kaffee, vorher ein Glas Birnenwein, danach ein Glas von dem Birnenschnaps, der einem für einen Moment die Stimme raubte. Der wurde im Keller schwarz gebrannt. Alle Nachbarn wußten das. Das Zollamt brauchte es nicht zu erfahren. Hinter dem Fenster wiegten sich die Zweige der kahlen Bäume in der Abenddämmerung, und wir waren selig von den Genüssen, die Gespräche wurden leiser und langsamer. manchmal wurde sogar geschwiegen.
„Die Ingrid Ulmer ist tot.“ Das sagte mir einer, und zwar unser Lehrer von damals, den ich zufällig getroffen hatte und der mir von denen berichtete, von denen er noch etwas wußte. „Die Ingrid Ulmer ist tot.“
Ich hörte es und sagte dann nichts. Man fragt dann immer: „Woran ist sie…“ Ich wollte es nicht erfahren. Ich erinnerte mich wieder daran, daß ich sie bewundert hatte, und daß ich in sie verliebt war, mit der Herzensglut eines zwölfjährigen Jungen. Ich erinnerte mich an den Schmerz einer Liebe, die sprachlos bleibt.
Ich erinnerte mich daran, daß ich in dem Zimmer unter dem Dach, von wo man die schwarzen Äste und Zweige der Bäume vor dem Abendhimmel sah, einen Frieden gespürt hatte, der so zerbrechlich und verletzlich war wie alle Kreatur.
Ich hätte gern gewußt, ob das alte Haus noch da steht, ob hinter dem Haus noch das Gras wächst und ob die Bäume noch in den Abendhimmel ragen.
In dem dörflichen Viertel am südlichen Rand der Stadt war ich lange nicht mehr gewesen. Ich fürchtete, hier könnten meine Erinnerungen beschädigt worden sein von Abrißbaggern und Baulanderschießern. Ich war wieder da und war beruhigt. Die Bauernhöfe gibt es zwar nicht mehr (wozu auch). Mehr Autos an den Straßenrändern, statt der Hühnerställe sind jetzt da Garagen, hinter den Häusern wächst kein Gemüse mehr. Aber sonst hat sich wenig verändert.
Vor einem der Häuser, mitten auf dem Gehweg, steht ein kleiner Tisch, darauf ein paar Stapel mit Büchern und ein Schild: „Bitte mitnehmen!“ Was sind das für Bücher? Lenin! Stalin! Dietz-Verlag!Aufbau-Verlag! Wer soll das hier mitnehmen?
„He, du! Die hab ich extra für dich da hingelegt, Helmut!“
Jetzt sehe ich, daß eine Frau hinter der wohl zwei Meter hohen Hecke steht. Flammenrotes Haar sehe ich zwischen den Zweigen, und ein rundes Gesicht, das mich angrinst.
„Ingrid! Ingrid! Ich dachte, du wärst…“ Ich breche den Satz rechtzeitig ab.
„Da bist du also doch noch! Komm rein!“ sagt sie. Sie dreht sich zu mir um: „Komm mit rein auf ein Glas Birnenwein. Du erinnerst dich.“
„Jaa. Äpfel, Pflaumen, Birnen.“
„Genau! Apfel! Pflaumen! Birnen!“

FORTSETZUNG FOLGT.

Das sexuelle Elend

Wenn das Ficken städtisch verwaltet wird, dann ist alles aus. (Möchte man sagen).
Der mit einem Filzstift (er würde vielleicht sagen: Fickstift) ausgestattete Waldbesucher hat wohl kaum eine Vorstellung davon, was in einer städtischen Dienststelle, die das Ficken verwaltet, vonstatten gehen würde. Vom Ficken selbst hat er genauso wenig eine Vorstellung, so daß der Unterschied zwischen Ficken und nicht Ficken bedeutungslos ist für den, der den Filzstift zum Fickstift macht und die Forstverwaltung zur Fickverwaltung umwidmet. Aufschluß gibt seine Mitteilung allerdings über das Ausmaß des sexuellen Elends, das uns umgibt.
Ich unterstelle, daß bei dem Mitteilenden das Ficken, sollte es denn mal stattfinden, dieselbe Art des Empfindens hinterläßt wie die, wenn er seine Botschaft auf einem Hinweisschild im Naherholungsgebiet (hier: Sechs-Seen-Platte) anbringt: Druck, laß nach!. Der fickt so wie er frißt und säuft: Ohne Lust.
Der Mensch hat im Umgang mit den elementaren Bedürfnissen die elementaren Künste geschaffen.
Der menschliche Geist hat sich mit der puren Triebabfuhr nicht zufriedengeben wollen. So stellte er das Bewußtsein, die Reflexion und die Phantasie über den Instikt und den Genuß über die besinnungslose Triebbefriedigung. Der menschliche Geist will sich vom Trieb nicht beherrschen lassen. Er versucht, den Trieb zu beherrschen. Die Fähigkeit zum Genuß setzt die Fähigkeit zum vorläufigen Triebverzicht voraus.
Der Geschlechtstrieb hat am stärksten die gestalterische Phantasie herausgefordert, Lust zu verzögern, zu steigern, zu verlängern und zu differenzieren, so daß die menschliche Sexualität sich vom Fortpflanzungstrieb loslöste. Die Phänomene der Erotik sind die vielfältigsten, ihre Umwege die weitesten.
Zugleich werden ihr die größten Hindernisse in den Weg gelegt. Noch keiner Gesellschaft ist es gelungen, mit dem Eros Einklang zu finden. Die menschliche Sexualität wird im Elend steckenbleiben, wenn sie aus der Intimität herausgerissen und aus der Öffentlichkeit verbannt wird.
Und darum verstehen Sie jetzt auch, daß man mir kaum eine größeres Kompliment machen kann als mich der Pornographie zu bezichtigen!

Bissingheim

Warum Bissingheim Bissingheim heißt und wer da wohnt, will Margarete Unverzagt wissen (Kommentar zu „Das Foto zum Zwanzigsten“).
„Bissingheim“ könnte ein Synonym für „Abgeschiedenheit“ sein. Der Stadtteil im Duisburger Süden ist im Norden, Süden und Osten vom Wald umgeben und grenzt im Westen an den riesigen (stillgelegten) Wedauer Rangierbahnhof.
Bissingheim wurde von 1916 bis 1920 als Siedlung für Kriegsverletzte gebaut und benannt nach dem Gründer des „Vereins Mustersiedlungen für Kriegsbeschädigte“, dem preußischen General Moritz von Bissing (nach dem ist auch Bissingheim, Ortsteil von Hagen, benannt).
Zur gleichen Zeit wurde auch Wedau (auf der westlichen Seite des Rangierbahnhofs) als Eisenbahnersiedlung errichtet. Auch Bissingheim wurde zu einer reinen Eisenbahnersiedlung.
Die Stadtteile sind nicht „gewachsen“, sondern wurden „in einem Guß“ geplant. Beide Orte haben ein einheitliches Bild. Im Unterschied zu Wedau wurde Bissingheim kaum erweitert. Bissingheim und der Ortskern von Wedau haben ihren altmodisch-dörflichen Charakter erhalten. Die Eisenbahnersiedlungen unterschieden sich von den „Mietskasernen“ der um die großen Fabriken Es wurden großzügig Flächen für Gartenwirtschaft und Kleinviehhaltung eingeplant.
Da der Bahnhof und das Ausbesserungswerk stillgelegt wurden, wohnen dort kaum noch aktive Eisenbahner, aber noch viele Eisenbahnpensionäre. Bissingheim ist ein Alte-Leute-Viertel. Die Bahn hat ihre Immobilien verkauft, die Wohnungen sind also nicht mehr Bahnbeschäftigten vorbehalten. Wer nach Bissingheim ziehen will, hat wohl einen Hang zur kollektiven Einsiedelei.
Wedau und Bissingheim und der Rangierbahnhof liegen auf einem Gebiet, das vorher dem Grafen Spee gehörte. Der war durch die Bewirtschaftung seines riesigen Grundbesitzes schon sehr reich. Aber der Flächenbedarf für die Ansiedlung von Industriewerken und Wohnraum für die wachsende Bevölkerung machte ihn noch reicher.


Der Wedauer Bahnhof war der größte Rangierbahnhof der Welt (Foto: heutiger Zustand). Wegen des Eisenbahnanschlusses wollte Krupp sein Hüttenwerk im Norden von Wedau ansiedeln. Dann entschied er sich aber für den Stadtort Rheinhausen. Das Gelände zwischen Kalkweg und Masurenallee überließ er der Stadt für die Errichtung von Sportanlagen („Sportpark Wedau“). Wo das Wedaustadion und der Regattasee liegen, sollten zuerst Hochöfen hin. Krupp nutzte das Gelände für Werkswohnungen und für das Ablagern von Hochofenschlacke.


Auf dem Schlackeberg (Foto) hat man seine Ruhe. Kaum jemand kommt auf die Idee, da hochzuklettern (obwohl das keine alpinistische Höchstleistung verlangt). Darum kennt kaum noch jemand die Flak-Anlage (Foto), die seit dem Kriegsende vor sich hin verwittert.

Heute ist diese Anlage von Bäumen und Sträuchern verborgen. Als junger Mensch habe ich die Flak-Anlage entdeckt und hatte von dort einen Überblick über große Teile des Duisburger Südens. Dorthin hatte man 15jährige Jungens postiert, um sie zu verheizen für den Führer, das Arschloch.