Heiligabend

oder: Wir müssen die Feste feiern wie sie uns gefallen.
In Zeiten der massenweisen sozialen Deklassierung tritt das Religiöse wieder in den Vordergrund. Im Fernsehen wird über Religion diskutiert. Kurz vor Weihnachten war es auch bei Plasberg so weit. Jutta Ditfurth war dabei, und auf Heiligabend angesprochen, bemerkte sie, für sie als Atheistin gebe es keinen „heiligen Abend“.
Am 23. Dezember 1978 wurde anläßlich des neunten Jahrestages unseres Abiturs ein Klassentreffen veranstaltet. Das fand im Duisburger Hof statt (der Lothar Röse hatte immer so komische Ideen). Es war, wie gesagt, der Tag vor Heiligabend. Es war ein sehr kalter Dezember, und zu der Zeit streikten die Mannesmann-Arbeiter für die 35-Stunden-Woche.
Nach dem Treffen fand sich ein Grüppchen von Kameraden zusammen, die noch nicht gleich nach Hause gehen, sondern noch irgendwo zusammen einen trinken gehen wollten. Ich schloß mich an und schlug vor, zum Finkenkrug zu fahren. Das war praktisch bei der Kälte. Denn vom Finkenkrug aus hatte ich nur noch 200 Meter Heimweg.
Also fuhren wir zum Finkenkrug. Reiner Wagner meinte, wir sollten einfach erzählen, wir wären streikende Mannesmann-Arbeiter, dann kriegten wir bestimmt einen ausgegeben.
Das klappte aber nicht. Unsere Beteuerung, streikende Arbeiter von Mannesmann zu sein, veranlaßte niemanden, eine Runde für uns zu schmeißen.
Reiner Wagner war ganz empört: „Was ist das denn hier? Wir sind doch die streikenden Mannesmann-Arbeiter! Warum kriegen wir denn keinen ausgegeben? Ist doch schließlich Heiligabend heute!“
Die Chuzpe, uns nicht nur fälschlich als streikende Mannesmann-Arbeiter auszugeben, sondern den Leuten im Finkenkrug auch noch ein falsches Datum unterzujubeln, erheiterte mich sehr. Das fand ich nicht weniger komisch als die Physiker, die alles mit Fett beschmieren. Jedenfalls ist der Ausdruck „Heiligabend“ seither wieder für mich verwendbar.

P.S.: Axel Eggebrecht berichtete in seinen Memoiren, Anfang der 20er Jahre seien in allen möglichen linken Versammlungen junge Männer in Matrosenanzügen aufgetaucht, die vom Nimbus des Kieler Matrosenaufstandes zehrten. Kaum einer von denen hätte sich jemals in der Nähe der Küste aufgehalten. Ich immerhin habe mal im Stahlwerk bei Mannesmann gearbeitet, und durch die Politik kam ich mit einigen Mannesmännern zusammen: Artur Reisch vom Betriebsrat, Herbert Dräger vom IG-Metall-Vertrauenskörper. Und auch den Herbert Knapp, der damals Betriebsratsvorsitzender war, lernte ich kennen. Man hätte uns also ruhig einen ausgeben können.

Die Kö am Samstag

KoenigstrasseJusos in der SPD.
Ich ging vorgestern nichtsahnend die Königstraße entlang, und da waren Infostände angesammelt wie noch nie. Die ersten 200 Meter hatte die evangelische Kirche für sich in Beschlag genommen. Ein evangelischer Infostand nach dem anderen: Diakonisches Werk, Bank für Kirche und Diakonie, evangelisches Hilfswerk, evangelische Gemeinde, evangelische Frauen, evangelische Jugend, Kirchenkreis Nord, Kirchenkreis Süd, Kirchenkreis Mitte.
Und darum las ich erst: Jesus in der SPD.

Praktische Philosophie

Philosophieunterricht hatten wir nur ein Jahr lang, in der Oberprima, und zwar samstags in den letzten beiden Stunden. Das traf sich gut. Es wäre nicht so gut gewesen, die Philosophie zwischen Mathematik und Französisch zu quetschen. Die letzten beiden Stunden vor der Entlassung ins freie Wochenende sind eine gute Zeit für die Philosophie, die, wie ich finde, am besten gedeiht in einer Atmosphäre der Entspanntheit.
Vor den beiden Philosophiestunden war die große Pause. Meine Mitschüler verließen den Klassenraum. An einem Samstag nutzte ich die Gelegenheit, die Utensilien meiner Mitschüler, die auf den Tischen herumlagen, zu vertauschen. Ich nahm das Heft von diesem Tisch und legte es auf jenen, das Buch entfernte ich dort und legte es dahin, wo ich den Füllfederhalter wegnahm. Die Schultaschen leerte ich zwar nicht aus, aber verteilte sie kreuz und quer im Raum. In fünf Minuten gelang es mir, ein enormes Tausch-Pensum zu schaffen, so daß jeder, dem drei oder vier Utensilien fehlten, sie auch an drei oder vier verschiedenen Stellen ausfindig machen mußte.
Die Unterrichtsstunde in Philosophie begann mit erheblicher Verzögerung. Der Klassenraum hatte sich vorerst in eine Börse für vermißte und vorgefundene Gegenstände verwandelt. Man hätte auch mit Fug sagen können: es fand eine Übung in praktischer Philosophie statt: Aus dem Chaos zur Ordnung mit den Mitteln der Kommunikation, oder so ähnlich.
Es hätte auffallen müssen, daß ich für diesen Zustand verantwortlich war, denn ich war der einzige, der das alles lustig fand. Und: meine Utensilien waren allesamt da, wo sie hingehörten. Ich wurde darauf nicht angesprochen, wahrscheinlich deshalb, weil ich mit Abstand der Beste im Fach Philosophie war – dies aber wohl deshalb, weil Herbert Marcuse durchgenommen wurde.

Herbert Marcuse (1955)

Herbert Marcuse (1955)

Im mündlichen Abitur wurde ich über Herbert Marcuse geprüft. Auf die Frage, wie man diesen Philosophen anhand der Textpassage, die mir vorgelegt worden war, politisch verorten könne, antwortete ich: Herbert Marcuse ist ein Linker.
Für diese enorme textanalytische Leistung bekam ich die Note Eins, und später erfuhr ich, ich sei im mündlichen Abitur der Jahrgangsbeste gewesen – aber nur, weil ich in Philosophie geprüft wurde. Wäre ich in Französisch geprüft worden, wäre ich vielleicht der Jahrgangsschlechteste gewesen.

1. Juni

Am 1. Juni 2012 startete das Weblog „Amore e rabbia“. Bis gestern waren es also 365 Tage mit 303 Notaten.
Das Versprechen, die Leserschaft mit Nachrichten, Reflexionen, Kommentaren, Widerworten, Wiederholungen, philosophischem Kabarett, Beobachtungen und Erinnerungen zu versorgen, wurde wohl ganz passabel erfüllt. Weiterhin wird garantiert für einseitige Beeinflussung und tendenziöse Berichterstattung. Wo ALLSEITIGKEIT entwickelt wird, bleibt für das Nullsummenspiel der Ausgewogenheit kein Platz übrig. Und so bleibt das.

Mit Statistik beschäftigen wir uns nächste Tage.

Der 1. Juni ist kein zufälliges Datum. Denn einige wichtige Wendepunkte meines Lebenslaufs fielen zufällig auf einen 1. Juni. Als meine Frau noch lebte, feierten wir den 1. Juni wie einen heimlichen Geburtstag. Seit Jahren, so auch heute, verbringe ich eine Zeit des höchstpersönlichen Feiertags auf dem Kaiserberg, denn an dem wohl wichtigsten 1. Juni meines Lebens war ich auch auf dem Kaiserberg. Traditionen solcher Art pflege ich, denn die ZEIT ist besser zu reflektieren, wenn sie einen Rhythmus hat.
Daß auch dieses Weblog aus gutem Hause zufällig an einem 1. Juni begonnen wurde, ist also kein Zufall.

Bilder vom Kaiserberg

Bilder vom Kaiserberg

Kaiserberg02..

Kriterium: schräg oder Heute vor 5 Jahren: DCPAS im HundertMeister

Vorgeschichte.
Die Duisburg City Poetry All Stars waren ein Otz-Projekt. Rammis Otz-Verlag, so könnte man sagen, war ein kollektiver Selbstverlag der Poeten aus dem Eschhaus. Kriterium: schräg. Es erschienen vor & nach 1980 ein paar Bücher von Pelikan, Motte und Karlheinz Burandt, die einzig & allein im Eschhaus-Buchladen zu kriegen waren. Es gab auch einen Sammelband: „Duisburg City Poetry All Stars“ (1977) u.a. mit Max van Donken, Detlef Klein, Claudia Hamacher, Pelikan, Motte, Burandt & ich auch. Da jemand in der Zeitung (ich weiß nicht mehr: WAZ? Rheinische Post? NRZ?) genölt hatte, man bräuchte ein Wörterbuch, um den Titel zu verstehen, legte der Otz-Verlag ein Lexikon auf (wohl das kleinste der Welt), in dem die Begriffe All, All Stars, City, Duisburg, Poetry und Stars erklärt wurden. Zwei Jahre später kam ein Nachfolgeband: „Löffelvoll zum Lesen“. Da gab es sogar eine richtige Premiere, eine Gemeinschaftslesung in der Stadtbibliothek.
OtzBücherGeschichte.
Dann begann 2006 eine Serie von Eschhaus-Revival-Feten, zuerst im Pulp (siehe DER METZGER 76), dann im HundertMeister, und da mußte immer etwas Eschhäusiges revivelt werden. So wurden also 2008 die Duisburg City Poetry All Stars revivelt, und das war keine schlechte Idee.
Die Zusammensetzung 2008: Rolf Menrath, A.S.H. Pelikan, Hansjürgen Bott & ich.

Rolf Menrath, ...

Rolf Menrath, …

... A.S.H. Pelikan, ...

… A.S.H. Pelikan, …

... Hansjürgen Bott ...

… Hansjürgen Bott …

... und ich.

… und ich.

Der 31. Mai 2088 (Samstag) war ein wunderschöner frühsommerlicher Tag, bestens geeignet für eine Demonstration, daß zwar die Zeit vergeht, wir aber nicht. Außerdem wurde die vereinbarte Gage verdoppelt. Zum Gelingen der Veranstaltung trug sicher auch die Bekanntgabe bei, daß Mißfallensbekundungen genehmigungspflichtig sind. Zum ersten Mal wurde der Fliegende Koffer präsentiert.

The Kamerafrau wa amused

The Kamerafrau was amused

Die Videoaufzeichnung wurde wegen technischer Mängel nicht veröffentlicht (sie befindet sich im Nachlaß von Hansjürgen Bott).
CD-DCPASDie Tonaufzeichnung der Lesung ist in der Situationspresse als Doppel-CD erschienen (117 Minuten) und noch erhältlich. In der Buchhandlung Weltbühne gibt es sogar noch ein paar Bücher vom Otz-Verlag.
P.S.: Das HundertMeister heißt jetzt Grammatikoff.

Scheiße! Bayern München!

Es war ja erstaunlich, vorgestern, daß auch solche Leute, die sich sonst eigentlich gar nicht für Fußball interessieren, sich auf das Fest am Abend gefreut haben.
Ich hab ja noch die Zeiten gekannt, als noch längst nicht jeder einen Fernsehapparat hatte. Dann kamen die Verwandten zusammen, zu den Finalspielen am Ende der Saison, im Frühsommer. Die Männer hatten ihre Jacken ausgezogen und saßen vor dem Schwarzweißgerät in ihren weißen Hemden (bis 1968 trugen alle Männer weiße Hemden), und es wurde gefachsimpelt auf die knappeste Art: „Paßauf, jetz!“ – „Hasse gesehn?“ – „Jetz abber!“ – „Mensch schieß doch!“ Danach saß man noch im Garten, auf den Tischen standen die Pilsgläser. Oder es gab Bowle.
Ich wußte ja gar nicht, daß ich ein Experte bin. Ich hatte vorhergesagt: Dortmund drängt, aber dann schießt München das Tor. In der 89. Minute. (Es war dann allerdings nicht das 1:0, sondern das 2:1).
Mir wäre es ja lieber gewesen, wenn Borussia Dortmund gewonnen hätte. Ich nenne nicht die vielen Gründe, nur einen: Weil ich auch ausm Ruhrgebiet bin. Die Liebe zur Heimat ist nirgendwo so stark wie im Ruhrgebiet. Woran erkennt man das? Das erkennt man daran, daß nie darüber gesprochen wird. Was so stet und selbstverständlich ist, ist nicht der Rede wert. Ich renne ja auch nicht auf die Straße, um den Leuten zu erzählen: „Gucken Sie mal hier! Ich habe eine Nase!“

Ostermarsch 2013 (6)

An einem schönen Ostersamstagmorgen im Jahre 2013.
OM2013-07Was ist das denn schon wieder! Die Heinis von der Bandbreite haben einen Infotisch aufgebaut? Monty Schädel (links im Bild) weiß wohl auch nicht so recht, was er davon halten soll.
OM2013-03Mir war gar nicht bewußt, was für schöne Häuser an der Königstraße stehen. Früher war das mal die Top-Adresse: Königstraße. Für Fachgeschäfte (unten), Praxen (Rechtsanwälte, Ärzte dadrüber) und zum gediegenen Wohnen in hohen Etagen.
OM2013-08So ist das richtig! Am Büchertisch den METZGER beachten!

Ostermarsch 2013 (5)

OM2013-04Der Ostermarsch Ruhr 2013 beginnt.

OM2013-05Die Ostermarschierer kommen noch.

Später:

OM2013-02Monty Schädel (DFG-VK) spricht eine Rede.

OM2013-06Nein, ich sage es nocheinmal:
Die Dame, die auf dem Plakat abgebildet ist, ist nicht Sahra Wagenknecht.

Fotos (c) DFG-VK

Ostermarsch 2013 (3): Hoch die Tasse(n)!

Der Antimilitaristische Buchbasar der Duisburger DFG-VK hat bei der Auftaktkundgebung des Ostermarsches am Samstag stattgefunden.
Außer Büchern (und anderen Medien) wurde wie immer auch Kaffee angeboten (und angenommen), und zwar in Tassen, aber nicht in irgendwelchen, sondern in unseren. Zum Tassen-Arsenal der DFG-VK gehören zum einen ein Sammelsurium gestifteter Tassen, zum anderen aber ein paar Dutzend besonders schöner Tassen mit dem auffälligen grünen Rand, die eigentlich erst dann eingesetzt werden, wenn alle anderen schon verbraucht sind. Aber es gibt Ostermarschierer, die Wert darauf legen: „Ich möchte gerne eine von DIESEN Tassen.“
TasseDDREs handelt sich nämlich um Exemplare der DDR-Einheits-Kantinentassen.
Ich habe mal ein Fernsehspiel (West) gesehen, in dem eine Szene in einer DDR-Kantine spielte. Da hatten die auch DIESE Tassen. Tüchtige Requisiteure!
Wie ich an mehrere Stapel dieser Tassen gekommen bin, weiß ich gar nicht mehr. Es geschah in den Wirren der „Wende“. Von der Treuhand hab ich sie jedenfalls nicht. Bei mir stapeln sie sich als gesicherte sozialistische Errungenschaft.
Vielleicht haben manche am Ostersamstag so eine Tasse mitgenommen, weil sie den ideellen Wert erkannten, und auf die Rückgabe des 1-Euro-Tassenpfands verzichtet. Es kann also sein, daß ich jetzt nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.

Ostermarsch 2013 (2)

Liebe Leute, lest mal, was die WAZ (Duisburger Lokalteil) gestern über den Ostermarsch 2013 geschrieben hat:

http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/duisburger-ostermarsch-fuer-den-frieden-id7771194.html

Korrigierend muß gemeldet werden, daß der Ostermarsch sich nach der Auftaktkundgebung nicht um 13 Uhr, sondern um 12 Uhr in Bewegung setzt.
Auf dem Foto erkenne ich auch den, für den der Ostermarsch infolge meiner Machenschaften vorletztes Jahr zu einem traumatischen Erlebnis wurde. Das ist nämlich der Heini, der überhaupt nicht einsehen wollte, daß er, genau wie alle anderen, am Kaffeestand der DFG-VK einen Euro Pfand für die Tasse bezahlen mußte. Noch stundenlang hat er sich dadrüber aufgeregt. Ich sagte ihm: „Ich sehe natürlich ein, daß du unbedingt eine Extrawurst haben mußt. Aber du kriegst keine.“
Am Samstag (30. März, ab halbelf am Kuhtor) wird der ANTIMILITARISTISCHE BUCHBASAR der DFG-VK Duisburg (in Connection mit der Buchhandlung Weltbühne) noch einmal stattfinden (sofern das Wetter es nicht verhindert und auch sonst nichts dazwischen kommt). (Die Buchhandlung bleibt an dem Tag dann zu). Traditionsgemäß gibt es da auch Kaffee: in Tassen! Und jeder (jeder! jeder!) muß über den Kaffee-Portionspreis von 1 Euro hinaus auch noch 1 Euro Pfand hinterlegen, der bei Rückbringung der Tasse erstattet wird. Ich wiederhole: Jeder. Auch wenn Fidel Castro persönlich vorbeikommen würde, um beim Ostermarsch eine Tasse Kaffee zu bestellen, müßte auch der für die Tasse einen Euro Pfand bezahlen, und DER würde das auch anstandslos tun.

Samstag hör ich Radio

Samstags abends, wenn ich zu Hause bin, höre ich Radio (und an den meisten Samstagabenden bin ich zu Hause). Auf WDR 2 läuft dann von 19 bis 22 Uhr „Yesterday“ mit Roger Handt. Da wird dann Musik der 90er, 80er, 70er und 60er Jahre gespielt, nicht unbedingt die allerallerbeste, aber auch nicht die schlechteste, eben das, was „populär“ war, also Radiomusik, die einen beim Arbeiten nicht stört. Es gibt auch ein „Yesterday Quiz“ mit Kandidaten am Telefon. Etwa: Wer hat dieses Buch geschrieben? Wer hat die Hauptrolle in dem Film gespielt? Wer hat das Tor geschossen?
Das ist nicht die Sendung, die man unbedingt nicht verpassen darf. Aber sie ist eine nette Angewohnheit. Es erinnert mich an die Samstagabende, die ich mit Magda zu Hause verbrachte. Das Radio lief sowieso, und um 19 Uhr kam „Yesterday“ mit Roger Handt. Magda (als Kind ohne Fernsehen aufgewachsen) liebte das Radio. Sie hörte sogar am Samstagnachmittag die Fußballübertragungen, obwohl sie sich gar nicht für Fußball interessierte. Aber es war eben: Radio.
Jetzt Samstag, am 30. März, kommt „Yesterday“ zum letzten Mal. Moderator Roger Handt geht in Rente, und mit dem Moderator verschwindet auch die ganze Sendung. Das ist kein Verlust, den man nicht verschmerzen kann, aber ein bißchen schade ist es doch.
An einem der vielen Samstagabende bescherte uns die Sendung eine Überraschung, als nämlich meine Freundin Erika als Quizkandidatin sich hören ließ. Die wurde natürlich gefragt, wer sie ist und was sie so macht.

Erika: „Ich zeichne und male.“ (Das kann sie wirklich! Sie ist eine ausgereifte Künstlerin!) „Und ich schreibe.“
Roger Handt: „Was schreiben Sie denn?“
Erika: „Erotische Miniaturen.“
Roger Handt: „Kann man die auch lesen?“
Erika: „Ja, die werden auch veröffentlicht, in einer kleinen Zeitschrift, die heißt Der Metzger.“
Roger Handt: „Wie heißt die Zeitschrift?? Der Metzger???“

Wir haben uns kaputtgelacht.
Am Montag danach rief Erika mich an.

„Du kennst doch bestimmt die Sendung im WDR ‚Yesterday‘. Letzten Samatag…“
„Ja. Ich hab das gehört.“
„Du hast das gehört?“
„Ja. Und wir mußten noch schnell in den Buchladen rennen, um ein paar Hefte ins Schaufenster zu legen.“

E.B. fotografiert von H.L. im Büro

E.B. fotografiert von H.L. im Büro

„Erotische Miniaturen“: Erika wollte unbedingt, daß ihre Geschichte „Wat kochse denn da oder Vier Tomaten.“ (DER METZGER 52) mit diesem Bild von ihr illustriert wird: „Ein Popo, auf den man gerne draufhaut.“

HofgartenHLErotische Miniatur: Bonn, Hofgarten 1998. H.L. liest interessiert in Maud Sacquard de Belleroche „Geständnisse – Memoiren einer Frau von 40 Jahren“. Foto: E.B.

HofgartenEBErotische Miniatur: Bonn, Hofgarten 1998: E.B. liest vergnügt in Golo Jacobsen „Memoiren eines Apfelessers“. Foto: H.L.

Ostermarsch 2013 (1)

Der Ostermarsch Ruhr beginnt wie jedes Jahr am Ostersamstag in Duisburg.

Ostermarsch 2011

Ostermarsch 2011

Ostermarschierer bin ich seit 1967.
Damals, im Alter von 17 Jahren, in all meiner Unerfahrenheit, wußte ich gar nicht, ob man da einfach hingehen und einfach mitmachen kann, oder ob man erst fragen muß, ob man da mitmachen darf. Komisch, nicht? Aber Jahrzehnte später stellte sich heraus, daß das tatsächlich so ist.
Schon 1968, und dann in all den Jahren danach, habe ich an der Vorbereitung und Organisation des Ostermarsches mitgearbeitet (in einem der Jahre war ich sogar Pressesprecher des Ostermatsch-Komitees), bis ich mich Mitte der 90er Jahre wegen Arbeitsüberlastung aus dem Duisburger Friedensforum zurückziehen mußte.
Aber weiterhin blieb der ANTIMILITARISTISCHE BUCHBASAR, eine Gemeinschaftsanstrengung der DFG-VK Duisburg und der Buchhandlung Weltbühne, eine feste Größe und Hauptattraktion der Auftaktkundgebung – wenngleich beargwöhnt von den Gerüchtemachern, die mich für einen Zionisten, Anarchisten, Pornographen, Hedonisten, Trotzkisten/Stalinisten oder irgendwas davon oder das alles zusammen halten. (Merke: Die meisten Teilnehmer am Ostermarsch beteiligen sich am Boylott der Buchhandlung Weltbühne).

Ostermarsch 2007

Ostermarsch 2007

Der knaatschgelbe Sonnenschirm war jedes Jahr im Fernsehen zu sehen. Später wurde er durch einen weniger auffälligen, aber nicht minder bedeutsamen Sonnenschirm ersetzt.
2012 gab es keinen Antimilitaristischen Buchbasar. Aber an uns lag’s nicht.

Ostermarsch 2011

Ostermarsch 2011

Dieses Jahr (Ostersamstag, 30 März ab 10.30 Uhr, Kuhtor) soll es noch einmal unseren Büchertisch geben (mit Kaffee!), vorausgesetzt, es kommt nichts dazwischen und das Wetter ist nicht so wie in den letzten Tagen.
Weitere Informationen zum Ostermarsch in den nächsten Tagen.
Fotos: (c) DFG-VK

Der Wander-Zyklus beginnt heute

Der Zyklus der Spaziergänge (nicht ohne Ironie auch „Wanderungen“ genannt) beginnt traditionsgemäß an dem Samstagnachmittag, an dem sich im Wald die Ankündigungen des Vorfrühlings erahnen lassen. Bevor die Zweige ergrünen, zeichnen sie noch ein bizarres Muster in den Himmel. In der Vegetation beginnt ein Umbruchprozeß, in dem kolossale Kräfte sich entfalten werden, die die Landschaft umgestalten. Zeuge dieser Naturprozesse zu sein gehört zu dem großen Gefühlen.
In diesem Jahr mußte ich länger warten, nämlich bis März, um mich auf den Weg zu machen, weil den ganzen Februar über der Winter sich nicht vondannen machen wollte – womit nicht gesagt ist, daß ich im Winter nie unterwegs bin. Aber die Wintertage sind kurz, und dadurch sind die Wander-Radien eingeschränkt.
Mehr darüber wird zu berichten sein, wenn ich in den kommenden Monaten – wie gewohnt – eher bekannte Orte aufsuche als neue zu entdecken. Wer einen neuen Ort entdeckt, sieht ihn in seinem ZUSTAND, wer vertraute Orte aufsucht, sieht ENTWICKLUNGEN und erlebt zudem das Wachwerden von Erinnerungen und Assoziationen.
Ich erinnere an Friedrich Nietzsche, der mal gesagt hat: Mißtraue einem Gedanken, der nicht beim Gehen entstanden ist. So ist das Gehen eine Arbeitsmethode. Indem ich die Wälder, die Auen und die Siedlungen durchstreife, arbeite ich.

DIE ARBEIT IST NICHT FLUCH FÜR DIE NICHT SKLAVEN SIND“, sagte der Dichter.

Duisburger Wald bei Neudorf. Trüber Himmel im Vorfrühling.

Duisburger Wald bei Neudorf. Trüber Himmel im Vorfrühling.

Aber das habe ich alles doch schon mal erzählt.

Ein Samstag im Jahre 1969

Das war gar nicht im Jahre 1969, fällt mir gerade ein. Das war im Jahre 1970, und zwar im Februar. Es hätte aber auch im Jahre 1969 sein können, dann aber im November, denn im November ist ein ähnliches Wetter wie im Februar. Jedenfalls ging man damals mit den Samstagen um, als gäbe es genug davon.
Wir waren an diesem Samstag am frühen Nachmittag verabredet, um uns in die Politische Ökonomie einzuarbeiten. Das wurde „Schulung“ genannt. Die „Schulung“ sollte stattfinden bei Dietmar Ernst, also in Neudorf. Der Dietmar Ernst paßte in unsere KPD/ML-Gruppe genauso wenig hinein wie die meisten von uns. Leute wie ihn pflegte man als „zornige junge Männer“ zu bezeichnen. Er war ein paar Jahre älter als ich, wohl schon Mitte 20, trug wie fast alle männlichen KPD/ML-Mitglieder dieses Alters einen Stalin-Schnurrbart, war wirklich ein „zorniger junger Mann“, lachte nie, brachte aber unentwegt andere zum Lachen mit seinen kunstvoll vorgetragenen Sarkasmen. Er wohnte auf der Blumenstraße in einem riesigen Altbau (Foto) im Dachgeschoß, das ebenfalls riesig war, bestehend aus sehr vielen kleinen Zimmern.


Wir hatten uns also zu fünft dort eingefunden, vier Männer und eine Frau. Anne fehlte noch. Sie wollte etwas später kommen. Ich sollte sie zur verabredeten Zeit von der Straßenbahnhaltestelle abholen.
Anne war meine Freundin. Sie war die hübscheste von allen. Sie hatte wunderschönes langes dunkelbraunes Haar. Jedem gefiel sie, mancher begehrte sie, aber mich hatte sie erhört. Niemand hatte gewußt, daß ich in sie verliebt war, aber alle hatten gewußt, daß sie in mich verliebt war, bloß ich nicht. Wir haben dann aber doch zueinander gefunden und waren ein richtiges Traumpaar.
Anne war sehr gescheit und von unbändiger Neugier auf alles, was man wissen und erfahren kann. Man hätte ihr über alles mögliche etwas erzählen können, über Astronomie, über Geologie oder über isländische Literatur – sie hätte sich das alles aufmerksam angehört.
Sie hatte eine Schwäche: Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Den Weg von ihrer Haustür zur Straßenbahnhaltestelle fand sie zwar, auch gelang es ihr, an der richtigen Station aus der Bahn auszusteigen. Aber den Weg von der Haltestelle Neudorfer Straße zur Blumenstraße (etwa hundert Meter geradeaus) konnte sie nur finden, wenn man sie an der Hand nahm und führte. Sie hatte mir eingeschärft, sie zur verabredeten Zeit an der Haltestelle abzuholen.
Ich ging also zur Haltestelle. Aus der Bahn, mit der sie kommen wollte, stieg sie aber nicht aus. Sie wird sie wohl verpaßt haben, dachte ich, und wartete auf die nächste. Mit der nächsten kam Anne auch nicht, auch nicht mit der übernächsten. Es wurde ein langes Warten.
Während ich wartete, fand sich an der Haltestelle ein alter Mann ein, der – das war leicht zu vermuten – zu denen gehörte, die über keine Wohnadresse verfügen. Sein Mantel war sehr abgetragen, die zahlreichen Plastiktüten, die er mit sich trug, enthielten wohl all seine Habseligkeiten. Auf dem Haupt hatte er kaum noch Haare, dafür hatte er einen langen Bart. Für die Comic-Figur „Herr Natürlich“ von Robert Crumb hätte er das Modell sein können.


Als die nächste Straßenbahn eintraf, begann er, hastig die Plastiktüten aufzuheben. Als dann endlich all seine Tüten hochgehoben waren, war die Bahn schon abgefahren, und er ließ sie wieder zu Boden sinken. Das wiederholte sich noch ein paar mal. Nie war er schnell genug mit dem Zusammenraffen der Tüten, immer fuhr die Bahn ohne ihn ab. Mir fiel auf, daß die Bahnen, in die mit seinen Tüten einzusteigen er nie schaffte, von verschiedenen Linien waren und auf verschiedenen Wegen zu verschiedenen Stationen fuhren. Er wollte mit der Straßenbahn wegfahren, und es kam ihm offensichtlich nicht darauf an, mit welcher und wohin.
Nachdem er auf diese Weise wohl schon ein halbes Dutzend Straßenbahnen verpaßt hatte, begann er, mit durchdringender Stimme und in erheblicher Lautstärke ein Lied zu singen, das auch nach der vierzigsten Strophe noch nicht zu Ende war. Der Text war dermaßen bescheuert, daß er nur selbstgedichtet gewesen sein konnte. Die erste Zeile lautete:
„Was ist das Leben heut‘ so schwer! Man findet keine Ruhe mehr!“
Die Botschaft des Liedes läßt sich etwa so zusammenfassen: Wie man es auch dreht und wendet, das Leben bringt doch nur Verdruß.
„Hast du einen kleinen Laden, hast du auch so deine Plagen!“
Die beiden älteren Damen, die da auch auf eine Straßenbahn warteten, sagten zwar nichts, aber die Indigniertheit über den lautstarken Balladenvortrag war ihnen anzumerken. Als der Sänger dessen gewahr wurde, stellte er sich vor eine der beiden Damen hin, nahm eine Boxerstellung ein, tänzelte mit erhobenen Fäusten vor ihr hin und her und ließ die Fäuste durch die Luft sausen, immer die Nase der Dame knapp verfehlend. Die Damen waren fassungslos über das Geschehen. Weniger fürchteten sie sich, von einem Boxhieb getroffen zu werden. Aber es war ihnen furchtbar unangenehm, daß da einer sich dermaßen aufführte.
Ich verbrachte wohl eine Stunde an der Haltestelle und entfernte mich dann, so daß ich nicht weiß, wie die Geschichte mit den vergeblichen Abreiseversuchen ausging, und ich Ihnen nicht sagen kann, welche Wendung schließlich dazu führte, daß der Mann mit seinen Tüten jetzt nicht mehr an der Haltestelle steht. Anne war nicht gekommen; es wird ihr wohl – so vermutete ich – etwas dazwischengekommen sein. Ich ging also wieder dorthin, wo nun mit Verspätung die Schulung auf der Grundlage des Lehrbuchs der Politischen Ökonomie (Dietz-Verlag 1955) beginnen sollte.
Als wir uns in das Studium der Produktionsweise in der Urgemeinschaft eingearbeitet hatten, klingelte es. Dann stand Anne in der Tür. Sie sah zu mir hin mit einem so vorwurfsvollen Blick, wie ich ihn nie zuvor und auch nie danach in meinem Leben im Angesicht eines Menschen wahrgenommen habe. Sie sagte kein Wort. Warum ich nicht auf sie gewartet hatte, wollte sie gar nicht wissen. Da gab es nichts zu erklären, nichts auf der Welt hätte meinen frevelhaften Akt der Untreue rechtfertigen können, und auch dafür, daß ich mich jetzt nicht einfach vom Erdboden verschlingen ließ, gab es keine Entschuldigung.
Ein halber Samstag Studium der Politischen Ökonomie ist überaus anstrengend und erschöpfend. Um acht Uhr wurde was von der Pommesbude geholt und um viertel nach acht kam im Fernsehen ein Miss-Marple-Film. Den sahen wir uns an, das mußte einfach sein. Anne aß nichts und schaute völlig desinteressiert auf den Fernsehbildschirm. Ebensogut hätte sie anderthalb Stunden lang vor einem ausgeschalteten Fernsehapparat sitzen können.

Anne mit 15, hier sehr freundlich

Als wir etwa um zehn Uhr das Haus verließen, hatte ich erstmals wieder Gelegenheit, mit dieser Unerbittlichen Worte zu wechseln. Ich war darauf gefaßt, die halbe oder die ganze Nacht damit zuzubringen, sie zu besänftigen, hoffte aber, auf dem kurzen Weg zum Taxistand am Osteingang des Hauptbahnhofs die Sache halbwegs geradebiegen zu können. Denn ich wollte in der Nacht noch „Nummer Sechs“ sehen. Das war eine TV-Serie, die war noch schräger und abgefahrener als „Mit Schirm, Charme und Melone“, noch undurchsichtiger und mit psychedelischem Anhauch. Und an jenem Tag sollte der letzte Teil kommen, in dem sich alles auflöst. Würde es mir gelingen, meine Anne zurückzugewinnen und mich dann noch rechtzeitig allein vor den Fernsehapparat zu setzen? Heutzutage, wo man alles auf Video aufzeichnen kann, erscheint einem eine solche Überlegung vielleicht unvorstellbar.
Immerhin: sie öffnete den Mund. Und sie erklärte, daß sie ja vielleicht mal darüber nachdenken könne, ob sie es sich vielleicht überlegt, vielleicht in Betracht zu ziehen, es vielleicht doch noch mal mit mir zu versuchen. Sie gestattete mir sogar, im Taxi mitzufahren. Mehr war an diesem Abend wirklich nicht mehr rauszuholen.

aus Der Gartenoffizier. 124 komische Geschichten. Situationspresse 2008. 268 S. 16,50 Euro. ISBN 978-3-935673-24-2

P.S.: Als Anne diese Geschichte las, machte sie mir Vorwürfe. Sie war richtig ungehalten: „Das stimmt doch gar nicht! So habe ich dich nie behandelt! Ich war zu dir nie ungehalten, und ich habe dir nie Vorwürfe gemacht! Wie konntest du nur sowas schreiben? Ich fasse es nicht! Was bist du überhaupt für ein Mensch?“

DER METZGER wird 100: Schreibmütze? Nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee. nee!

Ein weiterer Auszug aus „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“ in DER METZGER Nr. 100 (Mai 2012):

Pelikan: Wie schreibst du? Computer? Maschine? Hand? Bleistift? Füllfederhalter Marke Pelikan?

Computer.

Pelikan: Wo schreibst du? Wann schreibst du?

Ich schreibe in der Abgeschiedenheit meiner vier Wände, nachts, meistens samstags nachts, weil man dann Zeit hat, weil am nächsten Tag kein Wecker klingelt. Und so dehne ich den Samstagabend mitunter bis zum Sonntagvormittag aus.

Pelikan: Du hast doch gesagt, du hörst eh‘ keinen Wecker.

Eben. Sonntags habe ich ja meistens nichts vor und kann dann Ende offen arbeiten, brauche nicht darauf zu achten, daß ich ja dann doch mal abbrechen müßte, weil ich ein bißchen Schlaf brauche. Ich kann die Samstag Nacht ausdehnen. Ich gehe dann schlafen, wenn die Spätaufsteher sonntags aufstehen.

Pelikan: Du schreibst jeden Samstag?

In der Regel ja.

Pelikan: Nur für den Metzger? Oder überhaupt schreiben?

Überhaupt schreiben. Ich schreibe ja, was ich früher nicht für möglich gehalten habe, auch für die Schublade, wo ich gar keine Vorstellung davon habe, ob das jemals und wie das jemals veröffentlicht werden sollte.
Und im Schlafanzug. Ich sitze da im Schlafanzug. Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, den Schlafanzug nicht erst dann anzuziehen, wenn ich mich zu Bett lege, sondern sobald ich zu Hause bin und dann am Abend nichts mehr vorhabe, also nicht mehr aus dem Haus gehen muß. In meinen vier Wänden bin ich ein Fanatiker der Behaglichkeit. Brecht sagte schon: Zum Lernen soll man eine bequeme Haltung einnehmen. Bequemlichkeit der Haltung macht den Kopf frei. Dann kann man denken, wenn man sich völlig entspannen kann.
Es sind immer zwei Arbeitsphasen: Die Rohfassung, und dann gründliche Überarbeitung.

Pelikan: Wenn du soweit bist, daß du glaubst, daß du das komplette Material für einen METZGER zusammen hast? Oder nach jedem Artikel?

Nach jedem Stück. Das wird erst in der Rohfassung hergestellt, und dann wird es gründlich überarbeitet.
Das ist aber nicht alles. Das „Schreiben“ fängt eigentlich schon vorher an, ohne den Bildschirm und die Tastatur vor mir zu haben. Nämlich: Ich mache sehr gern sehr ausgedehnte Spaziergänge. Da setzen sich Assoziationsketten in Gang. Wenn ich von einem Spaziergang – die dauern manchmal einen halben Tag – zurückkomme, dann zieht es mich an den Schreibtisch, dann habe ich Einfälle gehabt. In der letzten Zeit bin ich auch viel mit dem Fotoapparat unterwegs. Ich hab mir überlegt: Man könnte gut die Texte illustrieren mit den Bildern von den Landschaften, die ich gesehen habe, als mir das einfiel. Dann denken die Leute: Was hat denn jetzt diese Landschaftsaufnahme mit dem Thema zu tun? Das ist ein sehr enger Zusammenhang. Man sieht das, was ich gesehen habe, während mir das eingefallen ist.
Ich erinnere an Friedrich Nietzsche, der mal gesagt hat: Mißtraue einem Gedanken, der nicht beim Gehen entstanden ist.
Was sich im Laufe der Zeit auch verändert hat: früher waren meine Arbeiten immer nach Gattungen unterscheidbar. Dann habe ich eine Glosse geschrieben, dann habe ich einen Aufsatz geschrieben. Heute verbindet sich das alles. Man kann den einen oder anderen Text ebenso der erzählenden Prosa wie der Essayistik zuordnen.
In der Nationalbibliografie habe ich über mich gelesen: Helmut Loeven, geboren 1949, Glossenschreiber. Das ist alles, die gesamte Biografie, die in der Nationalbibliothek drinsteht. Das ist nicht ganz falsch.
Ich habe früher oft sehr lange Aufsätze geschrieben, und hab dafür gesammelt und recherchiert und Notizen gemacht und alle in einen Kasten reingelegt, Zeitungsausschnitte, die dazu paßten. Heute mache ich das anders. Ich erinnere mich an ein Zitat von Karl Kraus, der mal gesagt hat: Ich achte auf das, was der Wind durchs offene Fenster hineinweht. Also das, was ich so mitkriege, ohne daß ich etwas hinterherlaufen müßte. Und das, was mir so einfällt, oder woran ich mich plötzlich erinnere. Ich hab beim letzten Klassentreffen, als über Sachen von früher erzählt wurde, und wo ich gesagt habe: Neenee, das war gar nicht so, das war ganz anders, oder das hat der nicht so gesagt, sondern der hat das so gesagt, da sagte man mir: Mensch, du hast ja ein fotografisches Gedächtnis. Da habe ich gesagt: Erinnern ist meine Hauptbeschäftigung. Das ist vielleicht auch die Kunst. Es gibt allerdings auch Erinnerungstechniken. Zum Beispiel suche ich gerne Orte auf, die ich von früher kenne, manchmal nach Jahren oder nach Jahrzehnten. Das setzt Assoziationsketten und Erinnerungsketten in Gang.


Ich produziere nicht pure Texte. Das pure Schreiben würde mich nicht interessieren. Sondern ich überlege immer auch, wie das zu präsentieren ist. Also beim Schreiben auch an Typographie denken, wie ein Text illustriert wird, also einen Text nicht nur schreiben, sondern den auch edieren, also Fläche gestalten, mit Bildern in Zusammenhang bringen. Ein Text ist auch ein Bild.
Ich zeichne auch Karikaturen, und das geht bis zum Film.
Ich mache mir auch immer Gedanken darüber: Ein Text muß klingen. Wenn ich was schreibe, dann überlege ich: Wie klingt das? Denn die ursprünglichste Form der Literatur ist ja nicht das Geschriebene und Gelesene, sondern das Gesprochene und Gehörte. Die ersten Lyriker waren die Bänkelsänger, die ersten Prosaisten waren die Märchenerzähler auf dem Marktplatz. Ich finde: Auch Prosa muß einen Rhythmus haben. Man muß immer darauf achten: Wie klingt das, was ich da schreibe. Darum halte ich auch gerne Vorträge vor Publikum.

Die Hüttenschenke in Hüttenheim.
Was will der Künstler damit sagen?

Pelikan: Samstags ist dein Schlafanzug also quasi dein Schreibanzug.

Das ist meine Arbeitskleidung. Vielleicht fragt mich mal jemand, ob ich mir nicht vielleicht auch noch ‘ne Schlafmütze aufsetzen sollte. Aber ich wüßte nicht, inwieweit die Schlafmütze, die Zipfelmütze zur Steigerung der Behaglichkeit beitragen könnte. Eine Schlafmütze ist nicht nötig.

Pelikan: Eine Schreibmütze brauchst du nicht.

Schreibmütze? Nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee. nee.

Das ganze Gespräch ist auf Papier nachzulesen in DER METZGER Nr. 100,
und im Netz bei Gasolin Connection.
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