Die Erde ist rund, und der Mensch arbeitet

„In einer freien Gesellschaft hat jeder das Recht, ungestraft zu behaupten, daß die Erde eine Scheibe ist“, schrieb einer. Ungestraft ja, aber nicht vor Widerspruch geschützt. Allerdings haben die, die sich zu der Erkenntnis durchgerungen haben, daß die Erde eine Kugelgestalt hat, einen schlechten Stand bei den flach-sinnigen.
So erging es Volker Braun, dessen Buch „Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“ von Gudrun Norbisrath in der WAZ rezensiert wurde. Sie schreibt: „Ärgerlich ist, daß das Buch unausgesprochen der simplen Doktrin folgt, Arbeit mache den Menschen aus.“ Falsch! Ärgerlich ist, daß der Rezensentin die simple Erkenntnis fremd ist, daß Arbeit den Menschen ausmacht.

Frau Fischer hat in der WAZ einen Kommentar zusammenphilosophiert

„Die Generation 30+ … Jobs gibt es nicht, Rente kaum. Die Beiträge steigen, die Erträge sinken, nicht einmal Riestern wird noch reichen. Gearbeitet wird mehr, verdient weniger. Und was reinkommt, fließt in Versicherungen, die wohl nie leisten werden, was sie nun noch versprechen. In einem Alter, in dem sie angekommen sein wollten, hangeln sich Zigtausende von Praktikum zu Befristung, und wenn sie in ihre Träume investieren wollen, zeigt ihnen der Finanzberater ihre Rentenlücken. Die Generation hat Ausbildung, Auslandserfahrung und trotzdem Angst… Der Staat führt das Rundum-Sorglos-Paket nicht mehr…“
Ein Kommentar, der (wie sagt man?) „schonungslos offenlegt“ – ja, was legt er offen? Das, woran man sich mittlerweile gewöhnt zu haben hat.
Es wäre ja schon ein kleiner Erkenntnisgewinn, wenn Journalisten aufhören könnten, dauernd alberne Bezeichnungen für „Generationen“ zu erfinden, wenn es in Wahrheit um Gesellschaft geht, und wenn sie damit aufhören könnten, selbstverliebt schnittige Formulierungen zu erfinden. Das „Rundum-Sorglos-Paket“ ist ein schicker Spruch und zugleich eine Diffamierungs-Floskel für den Sozialstaat, den es hier wohl mal in Ansätzen gegeben haben soll und der nun perdu ist. Der Staat verweigert die sozialstaatlichen Leistungen, und zwar nicht etwa deshalb, weil er diese Leistungen nicht mehr erbringen kann, sondern weil er sie nicht mehr erbringen will. Er könnte schon, wenn er wollte. Aber er will nicht. Und auch das hat sich verändert in den letzten 16 Jahren: Die, die in dieser Gesellschaft die Entscheidungen treffen, halten es nicht mehr für nötig, das System, in dem wir leben, als die beste aller Welten anpreisen zu lassen. Sollen die Leute doch maulen!
Ja, in Ansätzen hat es den hier wohl mal gegeben, den Sozialstaat. Hier konnte man zwar krank werden oder einen Unfall erleiden. Hier konnte man zwar infolge von Invalidität oder wegen fortgeschrittenen Alters seine Arbeitskraft einbüßen. Hier konnte man zwar (anders als in der DDR) arbeitslos werden. Aber in einem gewissen Maße sollte sich die Gesellschaft für die Sicherung gegen die Lebensrisiken zuständig fühlen, was heute als „Rundum-Sorglos-Paket“ bemäkelt wird.
Das Gegroll der Frau Annika Fischer ist der Katzenjammer, der sich immer einstellt, wenn man billigen Sekt getrunken hat. Am 3. Oktober 1990 knallten die Korken, weil man glaubte, fröhlich sein zu müssen, als die alte Tante DDR sich verabschiedete (Annika Fischer hat damals bestimmt mitgeprostet). Nur hat man übersehen, daß damals eben nicht nur die DDR zu Ende ging. Auch die gute alte Bonner Republik ging damals mit zugrunde. Die Bundesrepublik Deutschland, die wir mal kannten, konnte den Fall der Mauer ebenso wenig überleben wie die DDR – sie hat ihn nicht überlebt.
Den Katzenjammer der Leute, die sich mal für die Sieger hielten, will ich nicht hören.
aus DER METZGER 76 (2006)

Die WAZ-Leser schreiben Leserbriefe an die WAZ

„Der Streik im öffentlichen Dienst ist unverschämt. Während in der privaten Wirtschaft Tausende Menschen um ihre Jobs bangen, tiefgreifende Gehaltseinbußen hinnehmen müssen und mit erhöhtem Leistungsdruck ihre Arbeit verrichten, leben die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes immer noch auf der Insel der Glückseligen. Dieser Streik ist ein Schlag ins Gesicht für alle Beschäftigten in der privaten Wirtschaft“, meint Thomas Doof aus Essen (Name geändert), der zwar nicht durchblickt, aber den Phrasen-Jargon des Christiansen-Palavers aufsagen kann („Insel der Glückseligen“, „Schlag ins Gesicht“). Und Schweinchen Schlau aus Bottrop meint: „Daß Verdi wegen 18 Minuten Mehrarbeit am Tag ohne Lohnausgleich, in dieser Zeit, gleich streikt, finde ich übertrieben, sinnlos. Die Bevölkerung leidet darunter am meisten. Man sollte verhandeln, daß wenn die 40-Stunden-Woche kommt, es fünf Jahre keine Entlassungen mehr gibt.“
Von dem Vorschlag, als Gegenleistung für längere Arbeitszeit fünf Jahre lang auf Entlassungen zu verzichten, werden die Arbeitgeber so angetan sein, daß sie dem ohne Arbeitskampf glatt zustimmen, nachgiebig und einsichtig, wie sie nun mal sind. Fragt sich nur, warum die Arbeitgeber gerade auf das verzichten sollen, was sie mit der Arbeitszeitverlängerung doch erreichen wollen, nämlich die Vernichtung von Arbeitsplätzen. „Stelleneinsparungen“ sind das erklärte Ziel der Arbeitgeber im öffentlichen Dienst. Die erreicht man allerdings nicht bloß durch Entlassungen, sondern viel eleganter durch Nicht-Neubesetzung. Darunter leidet die Bevölkerung letztlich mehr als unter den zeitweiligen Auswirkungen eines Streiks.
Und dem Thomas Doof aus Essen (Name passend) müßte mal erklärt werden, daß die „Insel der Glückseligen“, der öffentliche Dienst nämlich, in den letzten 15 Jahren der Wirtschaftsbereich mit dem größten Verlust von Arbeitsplätzen war. Die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes spielen für die Arbeitgeber der „privaten Wirtschaft“ die Vorreiterrolle bei der Arbeitsplatzvernichtung.
aus: DER METZGER 76 (2006)