Neu in der Weltbühne: Anne Wiazemsky über den Mai ’68 in Paris

Anne Wiazemsky: Paris, Mai ’68. Ein Erinnerungsroman. Aus dem Französischen von Jan Rhein. Verlag Klais Wagenbach 2018 (Reihe SALTO). 168 S. Fadengeheftet. Rotes Leinen. Gebunden mit Schildchen und Prägung. 18 Euro

Verlagstext:
Für die junge Schauspielerin ist alles neu: ihre plötzliche Berühmtheit und die Ehe mit Jean-Luc Godard, die Welt ihres Mannes und die Themen, die Studenten, Arbeiter und Intellektuelle auf die Barrikaden treiben.
Januar 1968. Das frisch verheiratete Paar Godard-Wiazemsky bezieht sein »Liebesnest« im Pariser Quartier Latin. Godard ist siebenunddreißig, Wiazemsky zwanzig Jahre alt. Als im Mai die Revolte losbricht, verfolgt Anne das mit Sympathie und Interesse, ohne selbst politisiert zu werden. Sie steht mit Jacques Brel vor der Kamera und nimmt gelegentlich auf Rollschuhen an den Demonstrationen teil. Anne Wiazemsky erzählt von Dreharbeiten in Italien oder von der Rückreise aus Cannes mit Gilles Deleuze, von ihrem Jugendfreund Daniel Cohn-Bendit und von der Begegnung mit den Beatles in London, wo Paul McCartney sie auffordert, mit ihm unterm Tisch Tee zu trinken. Während sie ihre Jugend und den neuen Ruhm genießt, erwachsener wird und sich befreit, radikalisiert sich Godard zusehends. Er träumt von einem revolutionären Kino und wird zugleich krankhaft eifersüchtig auf seine junge Frau.
Nach dem erfolgreichen Roman »Mein Berliner Kind« erscheint nun dieses spannende, subjektive Erinnerungsbuch voller Anekdoten – ein authentisches Zeugnis der 68er-Aufstände in Frankreich und eine berührende Liebesgeschichte.

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Strukturen der Aufklärung müssen gerettet werden. Weltbühne muß bleiben.

Zu Anne Wiazemsky siehe auch DER METZGER Nr. 124

Mein „68“

Am 11. April 1968, heute vor 50 Jahren, wurde auf den bekanntesten Vertreter der Studentenbewegung Rudi Dutschke ein Pistolen-Attentat verübt, (das er schwer verletzt überlebte und an dessen Spätfolgen er 12 Jahre später starb). Ich erfuhr davon, als ich die Königstraße entlang ging. Ich weiß nicht mehr, wer es mir zugerufen hatte. Hundert Meter weiter, vor Karstadt, traf ich Bernhard Klaas, der Flugblätter für den Ostermarsch verteilte. „Werden die jetzt alle erschossen?“ fragte er. Denn wenige Tage zuvor war Martin Luther King ermordet worden.
Fast meine ganze Zeit in jenen Tagen verbrachte ich mit meinem Freund Werner Widmann, mit dem ich eine Zeitschrift gründen wollte (die jetzt noch erscheint). Er hatte eine große Schwester, die hieß Barbara.
Am kommenden Tag, Karfreitag, hockten wir auch wieder in WWs Neudorfer Dachkammer und sahen in dem Schwarzweißfernseher die Berichte über spontane Demonstrationen in vielen europäischen Städten und Blockaden vor Druckereien des Springer-Konzerns. Wir sagten: Da fahren wir jetzt auch hin.
Wir fuhren in Barbaras klapperigen Opel nach Essen. Vor der Springer-Druckerei hatten sich bis dahin ca. 200 Personen versammelt, die die Ausfahrt der Druckerei blockierten. Die Auslieferung der Samstags-Ausgabe der Bildzeitung war nicht möglich.
Vor dem Tor stand eine Reihe von Polizisten, die das Eindringen in das Gebäude verhinderten. In der ersten Reihe der Blockierer wurde ein Transparent hochgehalten. Was darauf stand, weiß ich nicht. Um das zu lesen hätte ich mich unter die Polizisten einreihen müssen.
Es war eine gewaltfreie Aktion. Weder die Polizisten, noch die Demonstranten waren gewalttätig. Die Blockierer redeten miteinander und begnügten sich damit, durch ihre bloße Anwesenheit die Auslieferung des Hetzblattes zu verhindern. Jemand benutzte ein Megaphon für Mitteilungen. Uns dem Gebäude nähernd hörten wir als ersten Satz: „Unser Vietnam ist hier.“
Daß Barbara immer von zwo Männern begleitet wurde, fiel auf. Die beiden Begleiter hatten aber zu ihr verschiedene Beziehungen. Der eine war ihr Bruder, der andere ihr Verehrer.
Barbara studierte Jura in Bonn. Da ich mich schon immer für Rechtswissenschaft interessierte, suchte ich ihre Nähe. Es vergingen nur noch ein paar Wochen, bis sie mir eine gewissen Ausschließlichkeit gewährte.

Bonn, Kaiserstraße, 1968. Barbara kocht für uns beide.

Unter den geschilderten Umständen würde ich das Projekt „68“ also als vollauf gelungen bezeichnen. Ich könnte Ihren noch viele Geschichten aus der Zeit erzählen, die genau 50 Jahre her ist. Ich könnte Ihnen auch erzählen, was 51 bzw. 46 Jahre her ist oder was in einem Jahr 24 Jahre her gewesen sein wird. Rückblicke auf „68“ sind wertlos, wenn die Vorgänge als abgeschlossen betrachtet werden.
Ich könnte Ihnen auch noch viele Barbara-Geschichten erzählen. Sie war eiskalt, sie erkannte bei jedem die unangenehmen Seiten sofort. Mit einem ihrer sarkastischen Sätze hätte sie das Mittelmeer in ein Eismeer verwandeln können. Wie sie Männer abblitzen ließ war einfach gekonnt. Ich erzähle das, damit Sie mich umso mehr um diese Frau beneiden.

..

Dr. Martin Luther King’s Dream

Am 4. April 1968, heute vor 50 Jahren, wurde Martin Luther King ermordet. An den Tag und an die Nachricht erinnere ich mich.
Fünf Jahre zuvor, auf dem Marsch auf Washington 1963 hielt Martin Luther King eine Rede vor 250.000 Menschen, die vor dem Lincoln Memorial gegen Rassenhaß demonstrierten.
Im improvisierten Teil seiner Rede sage er:
I have a dream that one day this nation will rise up, and live out the true meaning of its creed: ‘We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal.’
I have a dream that one day on the red hills of Georgia the sons of former slaves and the sons of former slave owners will be able to sit down together at a table of brotherhood.
I have a dream that one day even the state of Mississippi, a state sweltering with the heat of injustice and sweltering with the heat of oppression, will be transformed into an oasis of freedom and justice.
I have a dream that my four little children will one day live in a nation where they will not be judged by the color of their skin, but by the content of their character.

Der „Traum“ ist eine Reflexion auf dem „Amerikanischen Traum“, auf den das Zitat aus der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung hinweist.
Als Obama zum Präsidenten gewählt wurde, wurde sichtbar, daß man auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit, zu mehr Selbstverständlichkeit voran kommen kann.
Als Trump zum Präsidenten gewählt wurde, wurde sichtbar, daß das Erreichte wieder verloren gehen kann.
Nichts, was gewonnen wurde, ist sicher für alle Zeiten. Wir müssen kämpfen und streiten in beide Richtungen.
King-Statue an der Westminster Abbey als Teil des Denkmals für 10 Märtyrer des 20. Jahrhunderts.

Bilder: Wikimedia Commons

„Kritik und Kriminalität“

Auszüge aus einem Text aus dem Jahre 2007 über einen Vorgang, der im Jahre 1968 ausgelöst wurde.
Hintergrund: Am 2. April 1968, heute vor 50 Jahren, brannte es in Frankfurt in zwei Kaufhäusern.

[…] Es ist oberflächlich und ungerecht, Ulrike Meinhof einzig und allein mit der RAF zu assoziieren. Sie hat eine Fülle von niedergeschriebenem Material hinterlassen, und fast alles stammt aus der Zeit bevor sie sich der Roten Armee Fraktion anschloß. Man könne von den zwei Leben der Ulrike Meinhof sprechen, oder, noch überspitzter, daß es zwei Personen namens Ulrike Meinhof gab: Die Journalistin, die für den Rundfunk arbeitete, Kolumnen in Konkret schrieb, zeitweise Chefredakteurin dieses Blattes war, deren Kommentare zu den scharfsinnigsten gehörten, die in den 60er Jahren geschrieben wurden, und die Teilnehmerin an bewaffneten Aktionen als Mitglied der RAF. Diese zweite Phase ist eine Verneinung der ersten.
[…] Indem ich Ulrike Meinhof zitiere, nehme ich für sie Partei. Ich mache sie wieder diskutabel. Ich beschütze sie – nicht vor denen, die sie kritisieren, aber vor denen, die sie verteufeln. Schließlich beschütze ich sie vor sich selbst, die eine vor der anderen, die Journalistin vor der „Terroristin“.
Die zwei Personen, als die Ulrike Meinhof uns Zeitgenossen entgegentrat, sind allerdings nicht scharf voneinander zu trennen. So sehr ihr Eintritt in die RAF überrascht haben mag, so erscheint er beim Studium ihrer Kolumnen im Nachhinein nicht ganz zufällig. Das, worin die Journalistin Vorzeichen für ihre spätere „terroristische“ Wendung erkennen ließ, hat seinerzeit nicht nur mich irritiert.
Ihren Namen las ich zum ersten Mal, als ich 16 Jahre alt war. Der Vorsprung der Autorin vor ihrem Leser war beträchtlich. Den Einfluß der meinhofschen Kommentierung auf den lernbereiten Leser überschätze ich nicht. Ich hing ihr nicht an den Lippen, ich habe ihre Texte nicht verschlungen, sondern mit Interesse gelesen. Da gab es was zu lernen über Zusammenhänge (etwa über das Verhältnis von „politisch“ und „privat“). Aber der Abstand verringerte sich kaum. Die radikale Kritikerin radikalisierte sich mit der zunehmenden Radikalisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen (die Rede ist von der Zeit zwischen 1966 und 1969). Ihre Radikalisierung verlief über Stationen, die nicht immer nachzuvollziehen waren:
Im Februar 1969 erschien in Konkret eine Kolumne, mit der sie ihre Arbeit und das Feld, auf dem sie ihre Arbeit leistete, in Frage stellte: „Kolumnismus“.
„Kolumnisten haben Entlastungsfunktionen… Seine eingezäunte Unabhängigkeit gibt der Zeitung den Geruch der Unabhängigkeit. Seine Extravaganz gibt ihr den Geruch von Extravaganz. Sein gelegentlicher Mut zu unpopulären Ansichten gibt ihr den Geruch von Mut zu unpopulären Ansichten… Davon kein Wort, daß der Kolumnist der beste Untertan des Verlegers ist, der Geld bringt, Prestige und regelmäßig so tut, als könnte man alle Themen der Welt auf immer der gleichen Länge abhandeln. Kolumnisten sind … Feigenblatt, Alibi, Ausrede… Kolumnismus ist Personalisierung. Die Linke Position z.B., erarbeitet von vielen … wird im Kolumnismus wieder zur Position Einzelner, Vereinzelter runtergespielt, auf den originellen, extravaganten, nonkonformistischen Einzelnen reduziert, der integrierbar, weil als Einzelner ganz ohnmächtig ist… Eingezäunte Spielwiesenfreiheit für den Kolumnisten … ist … marktkonformes Verhalten, … ein Leserbetrug, ein Selbstbetrug… Opportunismus ist, wenn man die Verhältnisse, die man theoretisch zu bekämpfen vorgibt, praktisch nur reproduziert… konkret ist weniger eine linke als eine opportunistische Zeitung.“
Inwieweit hier die Arbeits- und Produktionsbedingungen des von Röhl geleiteten Konkret treffend geschildert sind, ist nebensächlich. Man mußte kein Prophet sein, Weiterlesen

Aus der Welt der Literatur oder der Aufsprung auf die Bimmelbahn

… es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände …


Da kann man (respective „frau“) nicht abseits stehen, sonst ist man abgehängt.
Das Anfassen am Gesäß (neudeutsch: Po-Grapschen – mit oder mitohne Bindestrich) ist die Lieblings-Obsession der Wohlfühl-Empörer (respective _*Innen). Der schaurig-schöne Schauer ist nur in der Pose der Entrüstung gestattet.
Die Wohlfühl-Empörer (respective _*Innen) haben den Skandal sehr gern. Damit rechtfertigen Sie ihre Existenz.

Aus einem Notruf wurde ein Reflex. Der Anlaß ist im Spektakel zum Vorwand eskaliert.

Anti-Sexismus ist der Vorwand.

Anti-Sex ist die Absicht (zumindest die nicht unwillkommene Wirkung).

Das Resultat ist die neue, zeit- und marktgerechte Einordnung der Sexualität – in einer Atmosphäre der Anschuldigung, Verdächtigung, Verteuferung der Lust, Unsachlichkeit, Zweifel-Losigkeit, Delegitimierung.

Die Geschlechterbeziehung wird aus kalkuliertem Interesse zu einem Schlachtfeld, auf dem am Ende die am meisten verlieren, die den Notruf ausgesendet hatten.

Aus Anti-Sexismus ist längst Antisex-ismus geworden.

„Mitgliederinnen“. Die haben doch einen Knall haben die doch.

Sie wissen ja:
Ich bin ein deutschen Schriftsteller.
Ich traf mal eine deutsche Schriftstellerin, das war auf einer Veranstaltung, und aus reiner Wiedersehensfreude streichelte ich ihren Hintern.
Die Kollegin rief (so laut, daß das weit und breit zu hören war): „Nicht aufhören! Das ist seeehr angenehm!“
Damit war sie natürlich als Hauptschuldige entlarvt. Aller Sittsamkeits-Furor richtet sich in letzter Konsequenz gegen Frauen.

Noch ein Vorkommnis, das zur Skandalisierung benutzt werden kann:
Ich traf eine deutsche Schriftstellerin. Wir hatten uns in einem Park verabredet. Zur Begrüßung faßte ich ihr an den Hintern. Das überraschte sie gar nicht. Ein Fahrradfahrer (älterer Jahrgang) rief im Vorbeifahren empört: „In aller Öffentlichkeit!“
„Tja,“ sagte meine Kollegin, „wir sind hier nicht im Ruhrgebiet. Wir sind im katholischen Bonn. Da hören die Leute noch darauf, was der Pastor sagt.“

„Die Frauenbewegung war und ist in ihren Resten als ‚Politik für Frauen‘ (vulgo Staatsfeminismus) eine Angelegenheit der akademisch qualifizierten Mittelklasse. Ihr Problembewusstsein reichte nur zur Etablierung einer Beschwerdekultur, mit den Männern als Adressaten und Papa Staat als Medizinmann. […] Schon die Studentinnen von 1968 waren nicht benachteiligt, sondern von einer Freiheit gefordert, für die es in der Geschichte kein Beispiel gibt. Statt hier anzusetzen, hat man das überholte Modell der ewig nörgelnden Ehefrau auf Politikformat gepustet.“
Katharina Rutschky

„Nehmt eure Wünsche für die Wirklichkeit!“

Neuigkeit gemeldet aus der Weltbühne:
In diesen Tagen erscheint:
Katharina Picandet (Hg.): 1968 – Bilder einer Utopie. Ein Album. Edition Nautilus. 112 S. im Großformat. Mit Schutzumschlag, durchgehend illustriert. 24 Euro.

Ein schönes Buch, von außen gesehen,und man ist gespannt darauf, es aufzuschlagen.

Der Verlag stellt sein Buch vor:
„1968“ ist längst zur Chiffre geworden. Mit Parolen wie „Arbeitet nie!“, „Verbieten ist verboten“ oder „Nehmt eure Wünsche für die Wirklichkeit“ ist der Mai ‘68 verheißungsvoll utopisch gestartet. Heute, ein halbes Jahrhundert später, darf man die Frage stellen, was von dieser Utopie bewahrenswert ist, bewahrt wurde, vielleicht verloren gegangen ist. Anhand ikonischer oder unbekannter Objekte, Bilder und Momente der Utopie „1968“ erinnern sich die Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld des Verlags an die Ereignisse vor 50 Jahren: Von der Fliegerjacke der Black Panther über heute noch im widerständischen Einsatz befindliche Traktoren, Angela Davis’ Frisur und Uwe Nettelbecks Glossen bis hin zu Nachbeben im Punk und der Politik der Re-Education: 1968 wirkt vielfältig weiter.
„1968 – Bilder einer Utopie“ ist ein persönliches, mitreißendes utopisches Album, mit Beiträgen von:
Michèle Bernstein, Wolfgang Bortlik, Lutz Dammbeck, Hans-Christian Dany, John Jordan, Isabelle Fremeaux, Annett Gröschner, Stewart Home, Jan Kuhlbrodt, Hanna Mittelstädt, Roberto Ohrt, Mithu M. Sanyal, Jochen Schimmang, Peter Wawerzinek.

Über die Autorin bzw. Herausgeberin ist zu erfahren:
Katharina Picandet, geboren 1974 in Hannover, frühkindliche Bildung im antiautoritären Kinderladen, viel später Studium der Deutschen Sprache und Literatur, Geschichte und Philosophie in Hamburg und Bordeaux. Seit 1996 Mitarbeit bei Edition Nautilus; seit 2003 im Lektorat. Seit 2016 ist Katharina Picandet Verlegerin der Edition Nautilus.

Eben weil „1968“ eine Chiffre ist, mißtraue ich den Retrospektiven. Die Edition Nautilus hat Vertrauensvorschuß verdient. Diese Wette gehe ich ein.
Zu dem, „was von dieser Utopie bewahrenswert ist“, gehört selbstverständlich (selbstverständlich?) das in diesem Jahr 50. Geburtstag feiernde Unfug-Unzucht-Umsturz-Magazin DER METZGER nebst die dadran hängende Buchhandlung Weltbühne.
Darum dieser Appell an die Phantasie, an die Traktoren, an die Frisur und an das Nachbeben:
Bestellt dieses Buch, und bestellt es in der Buchhandlung Weltbühne (abholen oder schicken lassen).

Buchhandlung Weltbühne
Gneisenaustraße 226
47057 Duisburg
Tel. 0203 – 375121
bestellungen@buchhandlung-weltbuehne.de

Weltbühne muß bleiben.

Jutta Ditfurth über Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof

Daß es eine „68er-Generation“ überhaupt gegeben hat, habe ich wiederholt bestritten. Allein schon vom Begrifflichen: Der Zeitraum einer „Generation“ ist immer länger als vom 1. Januar bis zum 31. Dezember eines einzigen Jahres. Wer Interessen folgend die Achsenzeit auf eine Saison reduzieren will, dem kommt die Mystifizierung der Ziffernfolge „68“ recht.
Wem man in der Reflexion des Themas vertrauen kann ist Jutta Ditfurth. Von ihr soll in diesem Monat ihr Buch über die politische Freundschaft von Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof erscheinen.
Aus dem Vorwort:

Um „weiterzumachen“ (wozu, das weiß ich, nicht ich allein entschlossen bin) muß man nicht nur Ideen im Kopf behalten, sondern Strukturen erhalten. Früher hätte man eher gesagt „Strukturen stärken“. Heute muß man sagen „Strukturen retten“.
Um Vorbestellungen wird gebeten.
Das Buch ist nirgendwo besser zu kaufen als in der Buchhandlung Weltbühne. (Auch im Versand).
Bestelladresse: Gneisenaustraße 226, 47057 Duisburg.
Oder: bestellungen@buchhandlung-weltbuehne.de

Apo muß bleiben.
Weltbühne muß bleiben.

Jetzt geht das mit den Jahrestagen los

Hier darf ich es ja sagen.
Am 1. Januar 1968, gestern vor 50 Jahren, entschied ich mich, Schriftsteller zu werden, was der Entscheidung gleichkam, Schriftsteller zu sein.
Einen Tag später, also heute vor 50 Jahren, war ich mit meinem Vorhaben noch gar nicht vorangekommen.

Aber trotzdem habe ich Grund genug, Ihnen zu gratulieren.

P.S.: Das allermeiste, was Ihnen dieses Jahr in den Zeitungen, Fernseh- und Radiorückblicken über „68“ erzählt wird, wird Quatsch sein.

Gestern: Heinrich Böll 100 Jahre

Ich will nicht leugnen, daß Heinrich Böll (1917-1985, Nobelpreis 1972) einen inspirierenden Einfluß auf mich hatte.
Erstmals mit Heinrich Böll konkret konfrontiert wurde ich 1964 durch den Fernsehfilm „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Allein schon der Titel! Und dann noch der Hildebrandt! Ich fand den Film gut, weil der so seltsam war. Sonst (Nachbarn, Bekannte, Verwandte) fand den Film keiner gut, weil der so seltsam war. (Damals gab es nur ein Fernsehprogramm, und Volk hatte sich abends vor dem Fernsehapparat einzufinden und zu gucken, was ihm vorgesetzt wurde). Wie kann man sich nur einen Namen wie Burmalottke einfallen lassen!
„Ansichten eines Clowns“ habe ich mit 15 Jahren gelesen. Ein Roman, der an einem einzigen Nachmittag und Abend spielt, durch viele Rückblenden eine nicht-chronologische Handlung bekommt, eine Collage aus Situationen. Thema: Die Unbestechlichkeit eines Menschen in schwacher Position. Das Buch war für den 15jährigen Leser eine Quelle der Kraft, die für all den Widerstand und all die Verweigerung, die ich um der Menschenwürde Willen in den weiteren Jahren und Jahrzehnten meines Lebens zu leisten hatte. Das Buch habe ich in verschiedenen Lebensabschnitten wieder gelesen. Eine neue Lektüre wäre mal wieder fällig. „Billard um halbzehn“ habe ich nur angefangen zu lesen. Darauf kann ich also noch gespannt sein.
In der Verfilmung von „Ansichten eines Clowns“ kommt eine Szene vor, die fand ich zum Lachen. Ein etwa elfjähriger Junge geht im strömenden Regen langsam die Straße entlang. Er trägt seine offene Schultasche vor sich her, damit es da reinregnet.
Den Böll muß man hören. Diesen rheinischen Akzent! Das ist die Stimme eines Mannes, der sich nicht aus der Ruhe bringen läßt.
Ich hörte den Böll reden auf der Kundgebung im Bonner Hofgarten gegen die Notstandsgesetze am 11. Mai 1968. Er sagte (unter anderem), der Widerstand müßte gewaltlos sein. Daraufhin ein paar Pfiffe aus dem Auditorium. Böll: „Jaja. Feifense ruhich. Feifense ruhich.“
Bei der Kundgebung am selben Ort am 10. Oktober 1981 (gegen die Atomrüstung) war er als letzter Redner dran. Da die Zeit schon weit fortgeschritten war, verzichtete er auf die ursprünglich vorgesehene Rede und improvisierte stattdessen. Nur war die improvisierte Rede dann länger als die nach dem ursprünglichen Manuskript.
Heinrich Böll wußte mit seinem Nobelpreisehren und seinem Prominentenstatus wirkungsvoll zu wuchern, um den Widerstand gegen Militarismus, gegen dioe Baader-Meinhof-Hysterie und gegen die Springerpresse zu unterstützen. Das war riskant. Die Niedertracht seiner Gegner, vornehmlich aus der CSU/CDU wurde sichtbar. Willy Brandt schrieb an ihn: „Resignieren sollten Sie nicht. Ich habe es auch nicht getan.“ Günter Grass forderte Böll auf, sich für die von der SPD geführte Bunesregierung einzusetzen. Böll antwortete, er würde sich immer für Willy Brandt einsetzen, aber nicht für die Regierung.
Willy Brandt, der antifaschistische Widerstandskämpfer, mußte auf seinem Weg einige seiner Ideale dem Kompromiß opfern – nicht aus Schwäche, sondern aus Unvermeidlichkeit. Das mußte Heinrich Böll nicht. Man ist besser beraten, nicht Politiker, sondern Schriftsteller zu werden. Man kann dann mehr bewirken.
In diesen Tagen denkt man vielleicht an die Geschichte „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. Eine alte Frau, vom Krieg traumatisiert, will täglich Heiligabend feiern. Die Geschichte wurde auch verfilmt.
Dieser Film würde seine satirische Kraft erst dann vollkommen entfalten, wenn er täglich gesendet würde, jeden Abend zur Hauptsendezeit, auf allen Kanälen.
Hüten Sie sich also davor, mich zum Diktator über Deutschland zu machen.

Heute ist der 1. Dezember

Heute ist der 1. Dezember 2017. Und das heißt: DER METZGER hat Geburtstag. Am 1. Dezember 1968, also vor 49 Jahren, erschien Heft Nr. 1.
In einem Monat also, am 1. Januar 2018 beginnt das Jabiläums-Jahr, in dessen Verlauf der 50. Geburtstag stattfindet.

Heft Nr. 1, Dezember 1968, alle Seiten mit Wachsmatrizen gedruckt.

Heft Nr. 14, Mai 1971. Cover entworfen von Willi Kissmer.

Heft Nr. 37, Januar 1985, Cover entworfen von Peter Dietz.

Es wird nicht EIN Jubiläums-Heft vorbereitet, sondern in allen im Jahr 2018 erscheinenden Heften wird das 50-Jahre Ding thematisiert sein.
Wer will dazu was sagen (und hat nichts dagegen, wenn es dann auf Papier gedruckt wird)? Wer kramt Fotos und Dokumente aus der Schublade?
Beiträge, kurz oder lang, elaboriert oder kurz notiert, etwa nach dem Motto „Wie DER METZGER mir dazu verholfen hat, den Sinn des Lebens zu erkennen“, werden mit Freude erwartet.
Emil-Adresse:
loeven@buchhandlung-weltbuehne.de

von den bisher 124 Ausgaben sind die meisten noch lieferbar.

Itzo: Gänge unter dem Himmel (8-14)

Das habe ich Ihnen doch schon mal gezeigt.

Wer behauptet eigentlich ständig, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen?

Brennesseln und Brombeeren. Die können uns Freude bringen.
Brombeeren? Klar. Gelee und so. Aber Brenn(n)esseln auch?
Dann lesen Sie doch mal: Maud Sacquard de Belleroche: Geständnisse, Memoiren einer Frau von vierzig Jahren (1968), das Kapitel über die Französischlehrerin, ziemlich am Anfang.

Hier, mitten im Walde, hat irgendson Klöckner oder Thyssen oder Stinnes oder Thynnes ein Waldschloß errichten lassen.

Man muß schon eine Lücke finden, um eine Vorstellung von der Dimension des Repräsentations-Wochenendhauses zu bekommen. Vorn im Bild ist ja wohl das „Gesindehaus“.
Es wird ringend mit Händen nach neuen Benutzern der Immobilie gesucht. Die Thynnesse wohnen heute nicht mehr so klassizistisch.

Das ist nicht etwa, wie Sie glauben, das Eschhaus, sondern die Akademie Wolfsburg. Nicht Anarchie, sondern Katholie.

Dahinter, auf Mülheimer Gebiet schon, haben die Wichtigleute von heute sowas für sich hinplanen lassen.
Das Haus vorn: Nach einem Besuch kann die Gattin sagen: „Hast du gesehen? DIE haben eine runde Wand. Und was haben wir?“
Das Haus dahinter: DIE haben immerhin ein Dach (fast) bis auf die Erd‘.
Hoffentlich gibt es da auch mal leckeren Nudelsalat.

Fürtsetzöng fülgt.

Barbara werden Sie nicht entgehen

Barbara überlegt.

Barbara findet Anlehnung (bei ihrem jugendlichen Liebhaber).

Barbara küßt (und zwar ihn. Er faßt sie).

Barbara wohnt (in der Nähe)*.

Barbara schaut aus dem Fenster (und sieht das)*.

Barbara kauft ein (Obst & Gemuese)*.

Barbara ist in der Nähe.
Barbara lächelt.

* Stills aus „Der 11. Mai“, Hut-Film.

Renate Rasp

Ich wußte gar nicht, daß die Schriftstellerin Renate Rasp (1935-2015) die Tochter des Schauspielers Fritz Rasp war. Ihr letztes Buch erschien 1979. Da könnte man meinen, es wäre nicht verwunderlich, daß man sie, sofern man sie erwähnt, bei den „Vergessenen“ einordnet.
Mitte der 60er Jahre als Debütantin erregte sie Aufsehen durch ein Erscheinen, das bis dahin als „nicht damenhaft“ angesehen wurde. Ihr Auftritt 1967 bei der Gruppe 47 war furios. Vielleicht erinnert sich noch jemand an ihren Auftritt bei der Buchmesse 1968 („ach, die war das?“), wo sie „ihre Lesung barbusig abhielt“, was von manchen von denen, die immer alles schon gewußt haben, als „billiger PR-Gag“ abgetan wurde. („Barbusig“ – was für ein Wort! Von „busig“ abgeleitet).
RaspSpiegelRenate Rasps Lyrik und Prosa war von einer brillanten Aggressivität. Darin war sie ihrer rasierklingenscharfen Kollegin Gisela Elsner (1937-1992) ähnlich.
Renate Rasps wohl am meisten verstörendes Buch war „Chinchilla“ (1973), das als Leitfaden zur praktischen Ausübung der Prostitution gelesen werden kann und eine völlig der Verwertung unterworfene Sexualität vorführt.
„Vergessen“ ist nicht nur eine psychische (Fehl?-)Funktion, sondern auch ein gesellschaftlicher Abwehrmechanismus.
VLBRaspFehlanzeigeDieses Bildschirmfoto zeigt die Trefferquote für die Suche nach „Renate Rasp“ in Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB).
Renate Rasp war mit dem Schriftsteller und Kabarett-Exporten und -Historiker Klaus Budzinski (geb. 1921) verheiratet. Auch von seinen Standardwerken über das Kabarett ist keines mehr lieferbar.
RaspChinchillaAls ich „Chinchilla“ las, hatte ich das meiste noch vor mir.

Bilder einer Vergewisserung (16-24)

pf2015-16Nachdem man die Häuser in Vordergrund passiert hat, dort hinter den sieben Platanen (oder acht. Oder neun):
Stand einst die Mülheimer Villa.
In DER METZGER Nr. 24 (Februar 1975) schrieb Rolf Menrath über das „selbstverwaltete Wohnprojekt“.
Da wohnten sie alle. Ich wohnte nicht da, war aber oft zu Besuch. (Was Kommune betrifft: Der Besucher ist stets besser dran).
Hinter dem Haus war eine große Veranda, von der aus man weit ins Tal blicken konnte. Ich erinnere mich an eine ganz große Sommernachts-Party. Mit der Zeit drang durch, daß hier die Verlobung von Che und Frauke gefeiert wurde – oder war es sogar die Hochzeitsfeier? Nein, ich spreche nicht von Che Guevara, sondern von Che Urselmann, der die Zeitschrift ZERO herausgab. Und Frauke managte die Theke im Eschhaus. Ich bewunderte sie, weil eine solche Arbeit angesichts einiger sehr schräger Vögel, die da ihre Schrägheit ventilierten, nur mit einem sehr hohen Maß an Souveränität zu bewältigen war.
Von der Mülheimer Villa – nach ihrem Abriß – ist nochmal in DER METZGER Nr. 39 die Rede. Heute steht an der Stelle irgendeine andere „Wohnbebauung“. Villen baut man stattdessen an Stellen, wo sie nicht hingehören.
Über ein etwas komisches Erlebnis in der Villa berichtete ich in meinem Buch „Der Gartenoffizier“ auf Seite 163f.

pf2015-17Die Landschaft hinter der Villa.

pf2015-18Ach, erzählen Sie ruhig, die Elektrizität wäre hier erfunden worden. Weil das so aussieht: in dem Häusken hinter den Häuskes. Das können Sie getrost erzählen, weil das sowieso keiner glaubt.
Bringen Sie die Oberleitung als Argument ins Spiel.

pf2015-19Das Haus habe ich Ihnen doch schon mal gezeigt und gesagt, daß ich Ihnen die Geschichte dazu vielleicht mal erzähle. Also:
In diesem schönen Haus wohnte eine, die ich kannte, Schülerin des Frau-Rat-Goethe-Mädchengymnasiums, die unserer kleinen und sehr agilen Radikal-Gruppe angehörte, die sich „Kommune“ nannte (und, das darf ich sagen, es besser machte als die meisten Gruppen, die sich so bezeichneten. Außer mir zwei Arbeiter, ein Lehrling, drei Schülerinnen, kein Student). Wir hatten gerade an den Weihnachtstagen (1968) auf dem Bahnhofsvorplatz einen Hungerstreik veranstaltet (wegen Vietnam). Der Vater der Villenbewohnerin, der Villenbesitzer also, zeigte Sympathie für unsere umstürzlerischen Konzepte und lud uns ein. Es ging wohl darum, uns finanziell unter die Arme zu greifen.
Die Genossin (Christiane hieß sie) hatte ein sehr großes Zimmer. Da stand auch ein Klavier, auf dem ich dann spielte – obwohl ich gar nicht klavierspielen kann. Aber mit einem Klavier funktioniert sowas, anders als – etwa – mit einer Klarinette. In einem Regal standen viele Bücher, und zwar alle aus der rororo-Taschenbuchreihe. (Vielleicht hat sie Bücher aus anderen Verlagen irgendwo verborgen aufbewahrt).
An der Wand hing ein großes pygophiles Poster, was meine Sympathie für die Zimmerbewohnerin weiter steigerte. Ich finde es gut, wenn Frauen auch einen Blick für sowas haben.
Das Gespräch mit ihrem Vater, der nach langem Zögern sein Lampenfieber überwand und sich uns Revoluzzern aussetzte, verlief eigentlich sehr harmonisch.
Viel hat er dann jedenfalls nicht springen lassen.
Nach der Rückfahrt mit der Straßenbahn nach Duisburg (Oberleitung siehe oben) brachte ich die Genossin Anne nach Hause. Es war ein Schnee gefallen. Der trockene Pulverschnee knirschte unter unseren Schritten. Wir waren schon auf dem Lith. Ich dachte: Nur noch da vorn die Ecke rum, dann ist sie zu Hause. Und ich dachte: Jetzt! Jetzt! Jetzt! werde ich sie einfach in’n Arm nehmen und küssen! Und dann stellte sich heraus, daß sie schon seit Monaten darauf gewartet hatte.
Pech für die Mädchen, die sich in so einen schüchternen Jungen verlieben. Da dauert das immer moo-naa-tee-laang.

pf2015-20Ich kann mir nicht helfen und ich weiß nicht warum. Immer wenn ich hier unterwegs bin, wo zwischen Radweg und Fahrbahn ein Parkstreifen angelegt ist, überkommt mich eine geheimnisvolle Melancholie. Da kann der Herr Nappenfeld noch so viel Metall gestalten.

pf2015-21pf2015-22Jetzt die Biege ins Gewerbegebiet, zur Ruhr? Nein, heute nicht.

pf2015-23In irgendeiner Nebenstraße – diese war’s wohl nicht, aber so ähnlich – bin ich mal mit dem Strähler gewesen. Das war Ende der 70er Jahre. Wir (Hut-Film) besuchten da den Dokumentar- und Experimental-Filmer Reinald Schnell. Der wohnte da mit seiner Mutter, der Frau des Schriftstellers Robert Wolfgang Schnell. Ich war froh, mal eine Wohnung zu betreten, in der es so aussah wie bei mir zu Hause. Überall Zeitungen und Bücher auf Tischen und Stühlen.
An der Wand hing ein Miró, ein Original.
Soll ich Ihnen mal was sagen: Der Schnell fand meine Filme nicht so gut. Der fand die Filme von dem Strähler besser! Aber seine Mutter war von dem, was ich sagte, sehr angetan.
Wir organisierten dann einen Filmabend mit Reinald Schnell im Eschhaus. Er hielt einen einführenden Vortrag, von dem mir ein Satz besonders in Erinnerung blieb. Ein Zitat von Mitscherlich: „Was wir heute bauen sind die Slums von morgen.“

KneipeMuelheimDer Wendepunkt eines Pfingst-Ausgangs zum Zwecke der Vergewisserung (woher kommen wir, wohin gehen wir, hier: wo machen wir kehrt).
Das Bild habe ich Ihnen doch auch schon mal gezeigt. In dem Lokal hatten wir mal Klassentreffen. Das muß im Dezember 1974 gewesen sein (kurz nachdem Sartre Baader in Stammheim besucht hatte).
Als ich nach Hause ging, Mitternacht war schon vorbei, da merkte ich, daß ich ohne Hausschlüssel unterwegs war.

Alles war, nix is mehr (1)

Ach! Sieh an!

nixis01Ein Zeichen der Zeit! Muß nicht heißen: Zeichen der Gegenwart. Die Gegenwart ist nicht die einzige Zeit. Auch die Vergangenheit sendet Zeichen, die vergleichbar sind mit dem sprichwörtlichen Stein im Schuh.
„Oma Kohl“ war mal der INOFFIZIELLE Name dieser Kneipe auf der Börsenstraße. Offiziell hieß diese Kneipe anders, hatte irgendeinen nichtssagenden Kneipen-Namen wie Soundso-Stube oder Zum-Soundso. Die winzige Kneipe wurde von einem älteren Ehepaar betrieben. Die hießen Kohl. Darum ging man zu „Oma Kohl“.
Um die Mittagszeit, manchmal nachmittags, ging man da hin. Die antiautoritären, die radikalisierten und radikalisierenden APO-Schüler. Warum gerade da hin? Weiß ich nicht. Weiß wahrscheinlich kein Mensch. Die Kneipe hatte nicht besonderes. Sie war nicht schön, die war nicht originell, sie war nicht besonders gemütlich. Sie war einfach nur übriggeblieben. Das Wirts-Ehepaar Kohl (beide mindestens 70) müssen gedacht haben: „Wo kommen bloß die ganzen jungen Gäste her?“ Na, ihnen konnte es recht sein.
Vorne war die Theke, hinten paßten gerade mal zwei große Tische rein.
Ich ging da mal an einem Nachmittag hin, um den Dichter Willy Blassen zu treffen. Der schrieb existentialistische Gedichte, die nicht zum Lachen waren, richtig mit Reimen und Strophen. Und ich hatte mich entschlossen, eine Zeitschrift herauszugeben, und wollte Beiträge von dem kriegen. Meine Freundin Barbara begleitete mich. Die fand den Willy Blassen gar nicht gut, weil der so auf ernst und existentialistisch macht, so auf superlässig (heute würde man sagen, der „macht auf cool“). Die Barbara war eine ganz kühle, die bei jedem auf Anhieb die unangenehmen Seiten entdeckte. Aber mich liebte sie erstaunlicherweise.
Daß die Wirtsleute, die vielleicht gar nicht wußten, wie ihre Kneipe wirklich hieß, diese Nachfolgern überließen, habe ich nicht mehr mitgekriegt. Aber der Name hat sich anscheinend erhalten. Irgendwann haben sie da das Schild drüber gehängt und fanden das lustig, und wissen nicht was ich weiß.
Wenn man genau hinguckt, sieht man: Steht leer. Nachmieter gesucht.

nixis02Das Kellerlokal, das heute Djäzz heißt, gab es auch damals schon, hieß aber anders. Ich war da nie drin. In ein Etablissement, das sich „Börsenstreet“ nennt, gehe ich nicht.

nixis03Das war in der Zeit, von der hier die Rede ist, gewissermaßen das Gegenteil von Oma Kohl. In der Gaststätte mit dem bezeichnenden Namen „Fürstenkrone“ auf der Claubergstraße trafen sich die elitären Schnösel, deren Lebensleistung darin bestand, aus besseren Kreisen zu stammen.
Ich war da auch mal drin. Wenn man da mal drin ist, ist das wichtigste, zu wissen, wo der Ausgang ist.
Das Gebäude war dem Forum-Bombastikum im Weg. Die Fassade stand unter Denkmalschutz. Also hat man das Gebäude zwar abgerissen, die Fassade aber stehenlassen. Wo einst Fürstenkrone war, ist nur noch Fassade, dahinter Karstadt, C&A und das alles. Die Eliten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wenn ich die heutigen Zustände sehe, tröste ich mich mit dem, was es nicht mehr gibt.

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Ein paar Häuser weiter. Da war ich nie drin. Das war mal so eine richtige Nepp-Bar, mit Bardamen/Animierdamen. Muß auch sein. Piccolöchen für 85 Mark.
Und jetzt? „Bistro Café“ Noch nicht mal zu einen accent aigu reicht’s bei denen.
Gucken Sie mal diese Schlucht zwischen den Häusern!
Nächste Tage erzähle ich Ihnen mehr über meinen Samstags-Nachmittags-Straßen-Spaziergang von voriger Woche.
Früher war ich ja einer von denen, die von der Zukunft künden. Jetzt krame ich vor Ihnen im Vergangenheit herum. Ich nehme also inzwischen eine radikalere Haltung ein.