1. Juni

Am 1. Juni 2012 startete das Weblog „Amore e rabbia“. Bis gestern waren es also 365 Tage mit 303 Notaten.
Das Versprechen, die Leserschaft mit Nachrichten, Reflexionen, Kommentaren, Widerworten, Wiederholungen, philosophischem Kabarett, Beobachtungen und Erinnerungen zu versorgen, wurde wohl ganz passabel erfüllt. Weiterhin wird garantiert für einseitige Beeinflussung und tendenziöse Berichterstattung. Wo ALLSEITIGKEIT entwickelt wird, bleibt für das Nullsummenspiel der Ausgewogenheit kein Platz übrig. Und so bleibt das.

Mit Statistik beschäftigen wir uns nächste Tage.

Der 1. Juni ist kein zufälliges Datum. Denn einige wichtige Wendepunkte meines Lebenslaufs fielen zufällig auf einen 1. Juni. Als meine Frau noch lebte, feierten wir den 1. Juni wie einen heimlichen Geburtstag. Seit Jahren, so auch heute, verbringe ich eine Zeit des höchstpersönlichen Feiertags auf dem Kaiserberg, denn an dem wohl wichtigsten 1. Juni meines Lebens war ich auch auf dem Kaiserberg. Traditionen solcher Art pflege ich, denn die ZEIT ist besser zu reflektieren, wenn sie einen Rhythmus hat.
Daß auch dieses Weblog aus gutem Hause zufällig an einem 1. Juni begonnen wurde, ist also kein Zufall.

Bilder vom Kaiserberg

Bilder vom Kaiserberg

Kaiserberg02..

Gedankenlos entschlossen

„Das starke Geschlecht sucht seine neue Rolle“, stand auf dem Cover vom Spiegel der letzten Woche. Muß es denn unbedingt eine Rolle sein?
„Männerdämmerung: Ist das männliche Geschlecht vom gesellschaftlichen Wandel überfordert? Jungen versagen in der Schule, Männer verlieren ihren Job, Kinder wachsen ohne Vater auf. Gesucht wird der moderne Mann.“ (Inhaltsverzeichnis).
Spiegel-1-2013Männerdämmerung? Ich habe viele Männer erlebt, denen nie was gedämmert hat.
In Kindertagen erschien mir die Aussicht, ein Mann zu werden, nicht sehr verheißungsvoll. Die Männer, die ich mit Kinderaugen beobachtete, taugten nicht als Vorbild. In der „jungen“ Bundesrepublik (die doch in Wirklichkeit eine Gerontrokratie war) waren die hauruckmäßigem Durchschnittsmänner unsensibel, empathielos, verständnislos, phantasielos, unerotisch, unmusikalisch, absichtsvoll begriffsstutzig, gedankenlos entschlossen, unfähig, sich leise auszudrücken. Die Fähigkeit zum Mitgefühl war bei denen – gelinde gesagt – unterentwickelt. (Mitfühlende Menschen sind weniger gut verwertbar). Mitgefühl galt als Schwäche, und Schwäche galt als Schande. Sie waren in der HJ und in der Wehrmacht erzogen worden.
„Gelobt sei, was hart macht“ hörte ich aus ihren Mündern oft. Sie lobten und liebten die Unannehmlichkeit. In der Sexualität waren sie verklemmt und grob zugleich, zotig und prüde.
Was mir in Aussicht gestellt war und was anscheinend von mir erwartet wurde, gefiel mir nicht. Auch ich sollte ein „richtiger Mann“ werden. Ich wollte kein „richtiger Mann“ werden, sondern ein echter. Ich sollte „groß und stark“ werden. Ich wollte lieber schlau werden.
In meiner Kinderzeit waren die meisten alten Frauen Witwen – und verängstigt. Sie meinten, es würden nachts immer irgendwelche „Kerle“ ums Haus schleichen. Ja, wenn doch ein Mann im Hause wäre!
Meingott! Sollte es eines Tages meine Aufgabe sein, fortwährend irgendwelche nachts ums Haus schleichenden „Kerle“ in die Flucht zu schlagen?
Zur völligen Verständnislosigkeit meiner Mitwelt machte ich mir nichts aus Schneeballschlachten, Lagerfeuern und gemeinsamen atonalen Gesängen. Die Bücher von Karl May, die ich unbedingt zu lesen hatte, fand ich langweilig. Ich mied jede Rauferei. Ich kletterte nicht auf Bäume, weil die Gefahr des Abstürzens mir bewußt war. Bewußtheit und Bewußtsein war nicht so sehr gefragt während des Wirtschaftswunders. Fassungslos mußte meine Mitwelt mit ansehen, daß ich mich gut mit mir selbst beschäftigen konnte und gern allein war.
Abstoßend erschien mir die Ouvertüre des Mann-Seins: das Militär. Es war ja wieder eine Armee aufgestellt worden. Die Nation mußte ja unbedingt der Welt beweisen, daß sie aus zwei Weltkriegen nichts gelernt hatte.
„Da muß man durch!“ Nein, da muß man nicht durch. Da muß man drumrumkommen. Die Unterbringung im Acht-Mann-Zimmer, diese dampfende „Männerkameradschaft“, und Leuten zu gehorchen, die dümmer sind als ich – das war nicht erstrebenswert.
Stellen wir also fest: Ein „richtiger Mann“ bin ich nicht geworden.
Allerdings: ein „anderer Mann“, einer von den „neuen Männern“, die „das Land braucht“, will ich auch nicht sein.

Äpfel, Pflaumen, Birnen (Dritter Teil)

Sie will noch mehr wissen: „Über die Liebe und so.“ Und ich kann ihr, ohne gar zu sehr ins Detail zu gehen, auch darüber etwas erzählen.
„Und du? Auch ein bißchen bi?“
„Bi? Nie! Ich bin Ultra-Hetero!“
Ich sage ihr dann noch (an dieser Stelle vielleicht etwas deplaziert?): „Ich muß sagen, Ingrid, ich war damals nicht wenig beeindruckt von dir. Du standest da immer so souverän im Getöse. Mit deinen flammenroten Haaren warst du ein Wahrzeichen. Du warst durch nichts aus der Ruhe zu bringen, hast alles überblickt, und du hattest so ein überlegenes, manchmal spöttisches Lächeln auf den Lippen.“
„Ja. Beeindruckt warst du. Und du hast mir immer auf den Hintern gestiert. Bei jeder Gelegenheit. Meinst du, ich hätte das nicht gemerkt? Hast du doch vorhin auch wieder getan. Hör mal, das ist aber jetzt kein Grund, um rot zu werden! Mann! Das steht dir schließlich zu! Mann!“ Sie sieht zum Fenster und sagt leise: „Eigentlich fand ich das irgendwie nett von dir. Außerdem habe ich dich auch gern angesehen. Du hattest so schööne Häände.“
„Es ist doch erstaunlich, mit wie wenig die Frauen sich zufriedengeben.“
„Sag das nicht!“ sagt sie laut. „Eine schöne Hand ist wie ein Elefant.“
„Was??“
„Das ist zwar Unsinn, aber es reimt sich.“
Sie sieht mich scharf an: „Und? Dein Urteil? Gut in Form?“
„Was?“
„Das Urteil des Paris! Sprich!“
„Das Urteil?“
„Das! Wo! Du! Immer! So! Gern! Hin! Schaust! Und! Vorhin! Auch! Wieder! Hingeschaut! Hast!“
„Hm. Hm. Ich würde sagen: Kallipygisch!“
„Kalli…? Ist wohl ein Kompliment?“
„Das bedeutet ins Deutsche übersetzt das, was du hören wolltest.“
„Hm! Hm, hm, hm! hmhmhm! Wir haben uns, als die Zeit dafür am besten war, zu wenig mit den wesentlichen Dingen beschäftigt.“
„Ja! Es ging in Wirklichkeit doch gar nicht um die richtige Losung, sondern um das richtige Leben.“
„Ja! Das richtige Leben!“
„Ich meine: mit allem drum und dran.“
„Mit allem drum und dran. Mit allem Pipapo. Mit Pipa und: Po!“
Kling!
Kling!
Plötzlich schweigen wir. Ist es Verlegenheit? Täusche ich mich? Es kommt mir vor, als wäre sie jetzt den Tränen nahe. Es kommt mir vor, als hätte sie es nicht gern, wenn ich sehe, wenn sie weint.
„Was ist mit deinem alten Zimmer?“
Sie wacht auf. „Mein altes Zimmer! Ja! Komm! Ich zeig es dir. Komm mit rauf. Wir nehmen die Gläser mit. Die Flasche ist leer. Ich nehm diese mit: Pflaumenwein. Aber komm erst mit in die Küche. Hier, steck dir das ein: Pflaumenmus. Und Birnenkompott, mit ein bißchen Honig, viel Zimt und wenig Nelken. Du erinnerst dich?“
„Erinnern ist meine Hauptbeschäftigung.“
„Die Gläser muß du mir zurückbringen. Jedes Einweckglas in diesem Haus ist mindestens hundert Jahre alt.“
Sie geht mir voraus die Treppe hinauf. Wir kommen in ihr Zimmer.
„Hier ist ja gar nichts verändert.“
„Nicht ganz. Schau mal da.“
Da hängen die Plakate von Dutschke und Che, und dazwischen ein leerer DIN-A-2-Bogen.
„Ich habe den MLern geschworen, das Mao-Bild nie von der Wand zu nehmen. Da hab ich es einfach verkehrt herum aufgehängt, mit dem Gesicht zur Wand. Soll der sich doch die Tapete näher ansehen. Außerdem: Mao ist tot. Die beiden anderen leben noch.“
Jetzt füllt der Pflaumenwein die Gläser.
„Auf Mao!“
„Auf den Großen Steuerberater!“
Kling!
Kling!
„Die haben ein Theater gemacht die MLer damals, weil hier noch ein Bild von Dutschke hing. Bei Che waren sie sich nicht sicher. Aber Dutschke: unmöglich! Ich dachte: Jetzt muß ich denen noch etwas über Juliette Gréco erzählen, damit sie darauf noch wütender werden. Die mußten mich rausschmeißen, konnten aber nicht. Ich habe viele Rote Morgens verkauft, von denen ist keiner jemals einen Roten Morgen losgeworden. Weil die wußten, daß sie mich brauchten, habe ich mir einige Frechheiten erlaubt. Ich mußte mal ein Referat halten in einer öffentlichen Versammlung. Ich habe mir den Spaß gemacht, über was ganz anderes zu reden, ein völlig zusammenhangloses Referat. Es war schlimm, daß ich das in einer öffentlichen Versammlung gemacht habe, obwohl gar keine Öffentlichkeit gekommen war, bloß der eine, der nicht in die Partei eintreten durfte, damit wir eine Massenbasis haben, eine Ausstrahlung nach außen. Ich hatte aber mit einem Lenin-Zitat begonnen. Gegen Lenin konnten sie ja nichts sagen.“ Und ganz plötzlich ist sie wieder ernst und melancholisch: „Ich hab mich so allein gefühlt. Ich hätte einen Komplizen gebraucht.“
„Wir hätten es weitertreiben müssen. Wir hätten eine gefälschte Roter-Morgen-Ausgabe in Umlauf bringen müssen, mit der Schlagzeile: ‚Eine schöne Hand ist wie ein Elefant‘.“
Sie lacht mehr als dieser Witz wert ist. Die Apfel-Pflaumen-Birnen-Weine haben uns schon weit getragen.
„Ach Ingrid! Warum haben wir eigentlich nicht geheiratet?“
„Ja, stimmt“, sagt sie nachdenklich, „das haben wir kein einziges mal gemacht. Wenn ich mich richtig erinnere, warst du aber schon in festen Händen.“
„Warum haben wir nicht einfach trotzdem geheiratet?“
„Du hast mir ja auch nie einen Antrag gemacht, trotz meiner Calypso-Vorzüge oder wie du das genannt hast, du Poet! Du Komplize, der nicht da war! Ich bin auf der Treppe vor dir her gestiegen, für dich Genießer! Aber nur schauen, nicht anfassen, heute noch nicht. Ich schpräsche als Antanz- als An-Stanz-Tante – danke – als Stanz-Dame in eigener Sache.“
Täusche ich mich? Es kommt mir so vor, als hätte sie es lieber, wenn mein Besuch nun nicht länger dauert, jetzt, wo ihre Haltung und ihr Sprechen ins Schwanken gekommen sind. Sie führt mich wieder nach unten, aber nicht zurück ins Zimmer, sondern zur Tür.
Wir stehen in der offenen Haustür und schauen zum verdunkelten Himmel dieses Frühherbsttages.

Buchholz03„Weißt du noch, als wir Kinder waren, sagte man uns: wenn der Himmel am Abend rot ist, dann backt das Christkind Plätzchen für Weihnachten.“
„Ja. Da drüben im Westen, hinter den Bäumen. Wenn bei Mannesmann Abstich war, leuchtete der Himmel. Das Abendrot unserer Heimat.“
„Du kannst ja nochmal zu mir kommen“, sagt sie leise. „Besuch mich. Aber nicht zu oft. Nicht jeden Tag. Nicht oft. Es könnte … ich würde … vielleicht … Ich mag dich. Aber versteh mich bitte.“
Trotzdem gebe ich ihr einen Kuß auf die Wange, schau sie an, und dann bin ich schnell verschwunden, auf der Straße zu der Eisenbahnbrücke, die in der Dämmerung kaum noch zu sehen ist.

Äpfel, Pflaumen, Birnen (Zweiter Teil)

Sie hat mich in das Zimmer geführt, das einstmals das Wohnzimmer ihrer Eltern war. Die ganzen alten Möbel stehen noch hier, nur jeglicher Zierrat ist entfernt. In der Vitrine des Wohnzimmerschranks liegen Stapel von Zeitungen. Ich sitze auf einem durchgesessenen Sofa, sie sitzt mir gegenüber auf einem Sessel mit durchgewetzten Armlehnen.
Sie hat zwei Gläser auf den Tisch gestellt und gießt aus einer Flasche ohne Etikett ein.
„Das ist unser klassischer Birnenwein. Der ganze Keller ist davon voll, und jedes Jahr kommen neue Flaschen hinzu.“
„Du machst immer noch Wein aus Birnen?“
„Ich hab‘s mir von meinem Vater zeigen lassen. Nur das Schnapsbrennen hab ich nicht kapiert. Der Schnaps geht irgendwann zur Neige. Aber alles andere, die Gelees, den Kompott mache ich immer noch selbst. Das habe ich an den Wochenenden gemacht. Jetzt hab ich mehr Zeit dafür, seitdem ich arbeitslos bin.“
„Ach!“
„Ja. Komm, laß uns anstoßen! Auf die neue Zeit! Und auf die gute alte!“
Kling!
Kling!

Unsere Volksschule

Unsere Volksschule

„Hmm!“
„Schmeckt dir, was? Ja, die haben mich wegrationalisiert. Ich war bei Bayer, erst in Uedringen, dann in Wuppertal. Ich hab ja Betriebswirtschaft studiert mit Doktor.“
„Frau Doktor Ulmer!“
„Hör auf! Ich bin froh, daß ich nicht mehr jeden Morgen nach Wuppertal brausen muß und nicht mehr jeden Nachmittag im Stau stehen muß.“
Jetzt reden wir über unsere Lebensläufe. Wir beide sind fast auf den Tag genau aus unseren KPD/MLen rausgeflogen. „Ausgeschlossen! Um mich loszuwerden, mußten die mich rausschmeißen.“ (Gilt für sie und für mich). „Schade um die vergeudeten anderthalb Jahre! Hätten wir mehr draus machen können.“
„Die Bücher da draußen“, sagt sie, „habe ich für dich da hingestellt.“
„Ach was!“
„Dochdochdoch! Ich wußte, daß du irgendwann mal kommst, daß du dich irgendwann mal traust.“
„Und was bedeutet das? Räumst du auf mit deiner revolutionären Vergangenheit?“
„Beleidige mich nicht! Für was hältst du mich? Neinnein. Das sind die Bücher, die ich doppelt habe.“
„Bücher doppelt?“
„Sowas passiert. Einmal hab ich zum Geburtstag drei mal das gleiche Buch geschenkt gekriegt. Neenee, ich bin nicht vom Glauben abgefallen, falls du das meinst. Besser gesagt: Ich bin nicht übergelaufen. Aber ich bin in keinem Verein mehr drin. In keinem. Nie wieder! Nach der ML war ich beim Sozialistischen Büro. Aber das hat sich ja auch in Wohlgefallen aufgelöst. Immerhin war ich zehn Jahre lang im Betriebsrat, bis die von der IG Chemie mich nicht mehr sehen wollten.“
Sie erzählt, daß sie kaum ein Konzert verpaßt, ob Rockkonzerte oder Jazz oder Chanson. Sie erzählt von ihrer Plattensammlung (fast tausend LPs), von ihren Büchern, ihren Lektüren und ihren Zeitungen: „Die Taz hab ich abbestellt, das Käseblatt. Stattdessen lese ich die Süddeutsche. Die Junge Welt kaufe ich nur einmal im Monat, obwohl ich in der Genossenschaft bin – eine Genossenschaft ist ja kein Verein. Die UZ vergesse ich immer abzubestellen. Aber man braucht ja auch was, um den Rhabarber darin einzuwickeln.“
Sie erzählt von ihren Jobs. „Ich habe immer in diesem Haus gewohnt, nie woanders. Ich habe immer gependelt, zur Uni nach Bochum, dann zu meinen Jobs zuerst in Köln, zuletzt in Wuppertal. Jetzt habe ich mein Auto verkauft, weil ich niiie mehr pendeln will. Hier in Buchholz kann man ganz gut einkaufen, ich brauche kaum raus aus dem Viertel. Es gibt ja auch noch die Straßenbahn.“
„Du kriegst jetzt ALG 1?“
„Ja.“
„Und wenn du ALG 2 bekommen willst, nehmen die dir dann nicht das Haus weg und verfrachten dich nach Marxloh oder Bruckhausen?“
„Mich kriegt hier keiner weg. Dann sollen die doch ihr ALG Hartz einszwodreivier behalten und mich am Arsch lecken. Ich hab gut verdient, sehr gut verdient und gespart. Und viel brauch ich nicht. Das Haus gehört mir, ich bezahle keine Miete. Und einiges hole ich mir aus dem Garten. Gemüse, sogar Kartoffeln, und Obst natürlich. Ich hab noch nie Marmelade gekauft. Und ‘n Hühnerstall hab ich auch noch.“
Sie erzählt: „Ich hab nie mit einem Mann zusammengelebt. Ich war immer Single.“ Sie erzählt: „Einige Zeit habe ich – wie soll ich sagen – die Männer verschlissen. Aber sei mir nicht böse. Unglücklich gemacht hab ich sie nicht. Schon deshalb nicht, weil ich nie mit einem zusammengezogen bin. Früher hatte ich öfter was mit Frauen, mit Mädchen besser gesagt. Das hat mir mehr Spaß gemacht.“
„Ein bißchen bi schadet nie.“
„Ein bißchen bi, hihihi! Fünf Jahre war ich mit einer Frau zusammen, hier unter diesem Dach, mit allem drum und dran – wenn du weißt, was ich meine. Bis die sich ein anderes Modell gesucht hat“, sagt sie mit etwas Wehmut und etwas Zorn. „Wir sind gerade mal einen Monat auseinander. Prost!“
Sie erzählt, daß sie früher ein- oder zweimal in der Woche im Finkenkrug war.
„Im Finkenkrug? Das ist keine hundert Meter von meiner Wohnung entfernt.“
„Du wohnst in Neudorf?“
„Ja, auf der Finkenstraße. Das war immer mein Traum. Neudorf!“
„Das Intellektuellenviertel.“
„Ist auch nicht mehr das, was es mal war.“
„Aber Neudorf paßt zu dir.“
Sie hat, nun schon zum dritten Mal, von dem Birnenwein nachgeschenkt.
„Du mußt doch nicht noch gleich fahren, oder?“
„Neinnein. Ich bin auch ein Straßenbahnbenutzer. Aber transportiert die DVG auch Besoffene?“
„Soweit muß es ja nicht kommen. Hör mal, ich erzähl dir alles von mir, jetzt red du mal, du Rechtsabweichler oder Linksabweichler! Ich weiß gar nicht mehr, was für‘n Abweichler wir dich damals genannt haben. Bist du noch bei der Fahne? Bist du in einem Verein? Los! Rechenschaftsbericht! Erzähle!“
„Jaaa. Ich bin in einem Verein. Ich bin in der DKP.“
„Waas? Duu? In der Dekapée? Hahaha! Nee, is‘n Scherz, oder?“
„Kein Scherz.“
„In‘ner Dekapée! Ausgerechnet du! Du bist wohl auch nicht aus Schaden klug geworden. Aber beruhig dich. Ich hab euch immer gewählt. Die UZ werde ich jetzt doch nicht abbestellen, versprochen. Vielleicht lese ich die sogar mal dir zuliebe, du – Abweichler du!“
Sie hat wieder nachgegossen und hebt ihr Glas: „Auf die Genossen! Auf die Standhaften und ihre Gesichter!“
Kling!
Kling!
„Aber deine Party, deine Par! Tei! ist doch nicht dein ganzes Leben.“
„Also: Ich habe mir einiges vorgenommen: Einmal im Leben…“
„…Einmal im Leben ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, einen Sohn zeugen und einen Mann erschießen?“
„…Und in ein fremdes Land einmarschieren? Nichts davon! Einmal im Leben ein Buch schreiben. Einmal im Leben eine Schallplatte machen. Einmal im Leben einen Beitrag in Konkret unterbringen. Einmal im Leben in einer Rock-and-Roll-Band sein. Einmal im Leben einen Film machen. Einmal im Leben als Kabarettist vor Publikum auftreten. Das hab ich alles gemacht. Ich mußte es einmal machen und durfte es öfter machen. Ich habe ein paar Bücher geschrieben, ein paar Schallplatten gemacht – CDs, ein paar Filme gemacht – DVDs, bin unzählige Male als Kabarettist aufgetreten.“
„Hör mal, du hast doch auch mal so ein Blättchen herausgegeben mit so einem komischen Namen: Fritz oder Karl oder Otto.“
„Nein: ‚Der Metzger‘ heißt das.“
„Ach ja! ‚Der Metzger‘! So hieß das.“
„Das mache ich immer noch.“
„Immer noch? Immer noch ‚Der Metzger‘?“ Sie beugt sich zu mir vor und tippt mir auf die Nase. „Ich habe dich unterschätzt!“ Sie plumpst wieder in ihren Sessel. „Und du schreibst?“
„Früher schrieb ich lange Aufsätze. Heute schreibe ich eher Glossen und Geschichten.“
„Zum Beispiel über sowas wie die Begegnung mit einer alten Freundin?“
„Jjjjjjja, das könnte ich mir vorstellen, so eine Geschichte zu schreiben.“
Sie will einiges mehr wissen über meine Arbeit, und auch über meine Ökonomie.
„Wir haben beide diese Stadt nicht verlassen“, sage ich, „da wundert es mich, daß wir uns nie begegnet sind. Warst du eigentlich nie im Eschhaus?“
„Doch, ein paar mal.“
„Und wir sind uns nie begegnet?“
„Da war so‘n kleiner Buchladen drin. Hattest du damit was zu tun?“
„Das kann man wohl sagen. Das war mein Laden.“
„Ach! Da hab ich mir ab und zu mal einen Arm voll Bücher gekauft.“
„Dann verdanke ich also dir meinen Reichtum.“
„Da war immer so‘n großer Dicker in den Laden.“
„Das war der Eppler.“
„Eppler. Aha.“
„Und jetzt habe ich immer noch einen Buchladen. In Neudorf auf der Gneisenaustraße.“
„Ach, davon habe ich gehört. Das ist dein Laden? Ich muß wohl mal vorbeikommen.“
„Es wird die höchste Zeit.“
„Na hör mal! Du hast dir auch nicht wenig Zeit gelassen, du Abweichler!“

FORTSETZUNG FOLGT.

Äpfel, Pflaumen, Birnen (Erster Teil)

Man verliert Menschen aus den Augen, mit denen man mal viel zu tun hatte. Man hat lange nichts mehr von ihnen gehört. Und dann, nach langer Zeit, bekommt man eine traurige Nachricht. Manchmal aber ist diese Nachricht falsch. Das ist erleichternd, aber ein Rest von Verstörtheit bleibt.
Ich war in die Klassensprecherin verliebt. Sie war blond, sehr gescheit und sehr ordentlich. Ich wußte nicht, wie ich einem Mädchen sagen sollte, daß ich in sie verliebt war. Sie wußte also nichts davon. Meingott, wie alt war ich? Elf Jahre. Ich nenne ihren Namen nicht, sie könnte es lesen. Es wäre zu spät, würde sie es jetzt erfahren.
Sie wechselte zum Gymnasium, ein Jahr früher als ich. Weg war sie. Da blieb mir nichts anderes übrig, als mich in ihre Nachfolgerin zu verlieben. Das war Ingrid Ulmer. Sie hatte flammenrotes Haar, wirres, wildes Haar, das in alle Richtungen stand, und sie war sehr gescheit und sehr ordentlich. Sie hatte ein rundes Gesicht, und ein Vorderzahn stand ein bißchen schief. Sie hatte ein bißchen mehr Temperament als ihre Vorgängerin und lachte mehr. Ein paar Jungens in der Klasse sagten immer „jaa, jaa!“, wenn ich den Namen Ingrid aussprach. „Jaa, jaa! Du und die Ingrid!“ Die fanden, Ingrid und ich müßten ein Paar sein. Das würde sich so gehören, daß wir ein Paar sind.
Als wir dann auf „Höhere Schulen“ (wie man damals sagte) wechselten, auf verschiedene, denn es gab damals nur Jungens- und Mädchensgymnasien, waren wir getrennt. Ich zog auch noch in einen anderen Stadtteil, wir wußten nichts mehr voneinander. Aber dann begegneten wir uns wieder, ein paar Jahre später, und zwar auf einer Demonstration.
„He, du! Auch hier?“
Es war die Zeit gekommen, in der eine intelligente junge Frau, um ihre Intelligenz nicht zu verraten, demonstrieren mußte, und zwar für ein Ganzes gegen ein Ganzes. Da war ich dann manchmal wieder bei ihr zu Besuch. Da waren viele zu Besuch, die wenigsten kannte ich. Es wurde viel und schnell geredet. Manchmal waren außer mir nur ein oder zwei Besucher da. Da wurde weniger und langsamer geredet.

Buchholz01Sie hatte immer noch ihr Zimmer unter dem Dach des alten Hauses, wo wir auch schon mal Kindergeburtstag gefeiert hatten. Jetzt hatte das Zimmer eine weiß-rote Tapete mit großem Muster. An der Wand hing ein Plakat von Rudi Dutschke und ein Plakat von Che Guevara. Später hing da auch ein Plakat von Mao, neben einem Plakat von Juliette Gréco.
Bevor wir uns dann wieder aus den Augen verloren (ich nahm an, daß sie wohl in eine andere Stadt gezogen war, um zu studieren), sahen wir uns öfter auf der Straße, wenn etwas los war, bei Demonstrationen etwa oder sonstigen Happenings. Unsere Kommunikation war allerdings blockiert, denn wir hatten uns beide in die KPD/ML verirrt. Sie war eine fleißige und sehr ordentliche KPD/MLerin.
„He, du! Wann kommst du denn mal wieder mich besuchen?“ fragte sie. Das irritierte mich. Denn wir gehörten zu zwei verschiedenen Fraktionen der KPD/ML, waren also Feinde. Ihre Freundlichkeit konnte nichts Gutes verheißen, dachte ich (so ein Idiot war ich mal).
„Komm doch einfach mal vorbei. Es gibt Birnenkompott“, sagte sie mit etwas Spott in der Stimme.
Ich mußte mir wehmütig eingestehen, daß die bewundernswert war, wie sie immer da stand, alles überblickte, sich nie aus der Ruhe bringen ließ, manchmal überlegen lächelte. Ach, wäre sie doch bloß nicht in dem falschen Verein! Sondern bei uns! (Dann wäre sie in einem genauso falschen Verein gewesen).
Das alte Haus, in dem sie mit ihren Eltern wohnte, war typisch für dieses Viertel am südlichen Rand der Stadt. Da gab es nur alte Häuser und noch ein paar Bauernhöfe. Die Häuser hatten große Gärten mit Hühnerställen, Gemüsebeeten und Obstbäumen. Hinter Ingrids Haus war eine große Wiese mit hohem Gras und einige Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume, dazwischen Sträucher mit Himbeeren, Stachelbeeren, roten und schwarzen Johannisbeeren, ein Kirschbaum. Für die Äpfel mußte man in die Bäume klettern; die Birnen fielen herunter, und man mußte sie aufheben. Viele Birnen blieben im hohen Gras liegen, es war ein Überfluß an Früchten, aus denen alles gemacht wurde, was man sich nur vorstellen konnte: Apfelkuchen, Pflaumenkuchen, Birnenkompott, Marmeladen, Gelees, Pflaumenmus, sogar Liköre, Schnäpse und ein Birnenwein. Im Herbst und im Winter, wenn es schon nachmittags dunkel wurde, dann gab es was zu genießen: Pflaumenkuchen mit Sahne und schwarzem Kaffee, vorher ein Glas Birnenwein, danach ein Glas von dem Birnenschnaps, der einem für einen Moment die Stimme raubte. Der wurde im Keller schwarz gebrannt. Alle Nachbarn wußten das. Das Zollamt brauchte es nicht zu erfahren. Hinter dem Fenster wiegten sich die Zweige der kahlen Bäume in der Abenddämmerung, und wir waren selig von den Genüssen, die Gespräche wurden leiser und langsamer. manchmal wurde sogar geschwiegen.
„Die Ingrid Ulmer ist tot.“ Das sagte mir einer, und zwar unser Lehrer von damals, den ich zufällig getroffen hatte und der mir von denen berichtete, von denen er noch etwas wußte. „Die Ingrid Ulmer ist tot.“
Ich hörte es und sagte dann nichts. Man fragt dann immer: „Woran ist sie…“ Ich wollte es nicht erfahren. Ich erinnerte mich wieder daran, daß ich sie bewundert hatte, und daß ich in sie verliebt war, mit der Herzensglut eines zwölfjährigen Jungen. Ich erinnerte mich an den Schmerz einer Liebe, die sprachlos bleibt.
Ich erinnerte mich daran, daß ich in dem Zimmer unter dem Dach, von wo man die schwarzen Äste und Zweige der Bäume vor dem Abendhimmel sah, einen Frieden gespürt hatte, der so zerbrechlich und verletzlich war wie alle Kreatur.
Ich hätte gern gewußt, ob das alte Haus noch da steht, ob hinter dem Haus noch das Gras wächst und ob die Bäume noch in den Abendhimmel ragen.
In dem dörflichen Viertel am südlichen Rand der Stadt war ich lange nicht mehr gewesen. Ich fürchtete, hier könnten meine Erinnerungen beschädigt worden sein von Abrißbaggern und Baulanderschießern. Ich war wieder da und war beruhigt. Die Bauernhöfe gibt es zwar nicht mehr (wozu auch). Mehr Autos an den Straßenrändern, statt der Hühnerställe sind jetzt da Garagen, hinter den Häusern wächst kein Gemüse mehr. Aber sonst hat sich wenig verändert.
Vor einem der Häuser, mitten auf dem Gehweg, steht ein kleiner Tisch, darauf ein paar Stapel mit Büchern und ein Schild: „Bitte mitnehmen!“ Was sind das für Bücher? Lenin! Stalin! Dietz-Verlag!Aufbau-Verlag! Wer soll das hier mitnehmen?
„He, du! Die hab ich extra für dich da hingelegt, Helmut!“
Jetzt sehe ich, daß eine Frau hinter der wohl zwei Meter hohen Hecke steht. Flammenrotes Haar sehe ich zwischen den Zweigen, und ein rundes Gesicht, das mich angrinst.
„Ingrid! Ingrid! Ich dachte, du wärst…“ Ich breche den Satz rechtzeitig ab.
„Da bist du also doch noch! Komm rein!“ sagt sie. Sie dreht sich zu mir um: „Komm mit rein auf ein Glas Birnenwein. Du erinnerst dich.“
„Jaa. Äpfel, Pflaumen, Birnen.“
„Genau! Apfel! Pflaumen! Birnen!“

FORTSETZUNG FOLGT.

Anne im Spiegel

Eine Spiegel-Titelgeschichte im Jahr 1971 erregte Aufsehen und hatte langwährende Nachwirkungen. Noch heute werde ich gelegentlich darauf angesprochen, und ich muß zugeben, daß ich an ihrem Zustandekommen nicht ganz unschuldig war.
In dem Buch „Bürgersinn mit Weltgefühl – Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren“ (hg. von Habbo Knoch, Wallstein Verlag, Göttingen 2007) ist ein Beitrag enthalten mit dem Titel „Inszenierung und Authentizität“ von Sven Reichardt. Es geht da um die vom „Spiegel-Reporter Peter Brügge“ verfaßte Spiegel-Titelgeschichte vom 9. August 1971 über den Underground („Flucht aus der Gesellschaft“). Reichardt zitiert mich mehrmals, in den Anmerkungen steht: „Gespräch mit Helmut Loeven in der Duisburger ,Weltbühne‘, 4.11.2006“. In meinem Tagebuch habe ich vermerkt: „Im Laden: Ein Wissenschaftler aus Konstanz, der mich zu der Spiegel-Titelgeschichte von 1971 interviewt“, und ich erinnere mich, daß der sich keine Notizen machte und kein Tonband mitlaufen ließ, sondern sich alles so gemerkt hat – und dann in seinem Aufsatz (ganz anders als damals „Peter Brügge“) auch richtig zitierte.
Es steht dort: „Laut Auskunft von Helmut Loeven handelt es sich bei Peter Brügge um ein Pseudonym von Ernst Hess. Loeven (Jahrgang 1949) ist ehemaliges Mitglied der Duisburger Musikband ,Bröselmaschine‘, war aktiv in der ,Agentur für Alles‘ und ist seit 1968 Herausgeber der Duisburger Underground-Zeitschrift Metzger. Er stellte seinerzeit den Kontakt zum Spiegel-Redakteur her“ – und das war eine meiner schlimmsten Fehlleistungen.


Denn Hess/„Brügge“ hatte die Absicht oder den Auftrag, den kaum auf einen Nenner zu bringenden Underground als „Jugendbewegung 71“ zu banalisieren und als „Flucht aus der Gesellschaft“ umzuinterpretieren und so darzustellen, wie Kleinfritzchen ihn in sein Bild von der Welt hineinflicken kann: daß die Abkehr vom Welt-Bild der Großfritzchens ein illusionärer Wahn sei. So machte er sich auf die Socken, um seine Story mit Namen, Ortsangaben und frei erfundenen Zitaten zu verzieren. Der Kreativzone, in der ich damals zuhause war (informelle Sammelbezeichnung: „Knubbel Afa“) dichtete er einen Webstuhl und eine Töpferwerkstatt an, und die Nähmaschine der schönen Ulrike machte er zur „Hippie-Schneiderei“, und das ganze war dann eine (natürlich – hahaha – unpraktikable) Illusions-Ökonomie.
Der Spiegel-Reporter führte einige Interviews, aber nicht mit den Exponenten, die etwas hätten sagen können. Die meisten seiner Gesprächspartner waren „Randfiguren“. Sie hatten mit der ganzen Sache wenig zu tun. Auch mich zitierte er im Spiegel, ohne allerdings je ein Wort mit mir gewechselt zu haben.
Der „18jährigen Knubbel-Schönheit Anna Block“ (recte: 17 Jahre) legte er die Aussage in den Mund, an Politik nicht interessiert zu sein. Aus Enttäuschung über die Linken habe sie sich entschlossen, „eine Unpolitische zu werden“. Anne (so ihr richtiger Name) erinnert sich nicht, daß sie das gesagt hätte oder irgendetwas gesagt haben könnte, was so hätte interpretiert werden können. In den Jahren seit ihrer Spiegel-Erwähnung hat sie mir unentwegt beteuert: „Das habe ich nicht gesagt!“

Gar nicht unpolitisch: Anne B. (hier ausnahmsweise mal im Mini)

Der Reporter hatte einen Fotografen dabei. Es ging das Gerücht, daß der Anne und ein paar andere Mädchen dazu überredete, sich nackt fotografieren zu lassen. Der brauchte sie gar nicht groß zu überreden, die waren sofort dazu bereit. Das hätte man ja als „demonstrative Verweigerung der bürgerlichen Moral“ oder als „Überwindung falscher Scham“ titulieren können, oder einfach als „schön unanständig“ (Motto: Warum eigentlich nicht?). Ich fand eher, das war Ausbeutung. Die Einwilligung der Mädels war mir unbehaglich.
Demonstrative Verweigerung der bürgerlichen Moral oder Ausbeutung? Oder doch bloß Eifersucht?Daß jemals die Darbietung weiblicher Schönheit vor der Kamera bei mir Mißmut erzeugt haben konnte, lag wohl in dieser speziellen Situation. Anne war meine Freundin gewesen. Wir waren getrennt und hatten uns noch nicht wiedervereinigt. In dieser quälenden Phase meines Lebens war mir eine Gunst entzogen, für deren Erlangung der Fotoreporter nur mit dem Finger zu schnipsen brauchte.
Später, als wir wieder zusammen waren, hat Anne mir bestätigt, was ich hatte läuten hören: „Der Fotograf hat Bilder von mir gemacht. Von meinem nackten Hintern!“
Diese Fotos wurden aber nicht gedruckt. Der Fotograf hielt es noch nicht einmal für nötig, seinem Modell Abzüge der Bilder, die er von ihr gemacht hatte, zuzusenden. Sie werden jetzt wohl in einem Privatarchiv gehütet – als Beutestücke gewissermaßen.
Erstaunlicherweise besitze ich kein einziges Foto von Annes nacktem Hintern. Ich habe unverzeihlicherweise nie ein solches aufgenommen. Aber ich bezeuge: Das ist der schönste Hintern, der je fotografiert wurde!

Edith und ich und die Jungens und die Mädchens

Ich weiß nicht, wie das heute ist. Früher war das jedenfalls so: Wer noch nicht volljährig war, durfte trotzdem schon heiraten, Jungens schon mit 18, Mädchens schon mit 16 Jahren. Volljährig wurde man erst mit 21. Wenn so eine minderjährige Person heiraten wollte, mußte das Vormunschaftsgericht zustimmen.
Die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend galten nicht für verheiratete Minderjährige. Die 16jährigen Mädchen durften all die Filme ab 18 sehen und die indizierten Bücher lesen. Das war doch wohl ein Grund zu heiraten!
„Was meinst du wohl, warum ich dich geheiratet habe? Damit ich endlich die Geschichte der O lesen kann.“ – „Aber dann hättest du doch auch in der Buchhandlung sagen können, daß du schon 21 bist.“ – „Quatsch nicht! Und zieh bloß keine falschen Schlüsse aus dem Thema meiner Lektüre!“ Ehealltag 1967.
In der zweiten Kommune, in der ich lebte, war kaum jemand volljährig, und keiner verheiratet. Wir haben und wurden ständig mißbraucht (würde man heute sagen). Was es da noch alles zu enthüllen und anzuprangern gibt!
Als 1969 der Bundestag gewählt wurde, durfte ich noch nicht wählen. Ich war 19. Ich hätte ADF gewählt. Kennen Sie nicht? Das war die DFU, nannte sich aber plötzlich ADF.
Als ich 21 und volljährig wurde, hatte ich Dienst: Zivildienst im Marienhospital in Herne. Die Schwester Oberin hat mir gratuliert. Aber erst, nachdem Schwester Edith ihr gesagt hatte, daß ich Geburtstag hatte. Schwester Edith wollte nämlich immer schon mal der Schwester Oberin ein‘n reinwürgen.
Wir haben das so hingekriegt, daß Schwester Edith den Wochenenddienst mit mir zusammen machte. Wir waren bestens miteinander eingespielt. Wir konnten ein Bett komplett neu beziehen in acht Sekunden.
Schwester Edith war von aparter Attraktivität: schlank und aufrecht und flink. Sie ähnelte der Tennisspielerin Chris Evert (falls Sie die kennen. Aber gucken Sie jetzt nicht bei Wikipedia nach. Auf dem Bild sieht sie sich gar nicht ähnlich).

Nein, das ist nicht Schwester Edith. Das ist Edith Cadivec.

Sie blätterte grinsend und kopfschüttelnd in den St-Pauli-Nachrichten, die damals überall herumlagen. Mit quietschvergnügter Mißbilligung lästerte sie über die „Jugend von heute“, hielt Miniröcke, Blue Jeans (bei Mädchens), lange Haare (bei Jungens), die laute Musik und das alles für „neumodischen Firlefanz“, vergnügte sich gleichwohl am Betrachten von Jungens mit langen Haaren und Mädchens in engen Jeans. In ihren Reden über die jungen Mädchens („die jungen Dinger“) ließ sie eine Affinität mit ihrer Namensvetterin Edith Cadivec erkennen („Allen höheren Töchtern sollte man einmal in der Woche den Hintern versohlen!“).

Ediths Rezept für eine bessere Welt: „Allen höheren Töchtern einmal in der Woche …“

Es gibt Bischöfe und Erzbischöfe. Es gibt Frachter und Erzfrachter. Es gibt Konservative und Erzkonservative. Schwester Edith war erzkonservativ. Eine Preußin. Deutschnational bis ins Mark. Da ließ sie nichts im Unklaren.
Die Regierung verachtete sie. Denn die Regierung hatte Ostpreußen dem Iwan geschenkt.
Den Iwan aber fand sie gut. Weil in Rußland ein autoritäres Regime herrschte, und nicht so ein pflaumenweicher Liberalismus wie bei uns.
Die antiautoritären Studenten aber fand sie wiederum gut. Weil das „ganze Kerle“ waren, die es „denen da oben“ mal so richtig zeigten. Die erzkonservative Preußin schwärmte für Rudi Dutschke.
Mich nahm sie in dieser Hinsicht aber gar nicht ernst. Wenn ich mal was Linkes und Antiautoritäres sagte, meinte sie: „Ich lach‘ mich schief!“
Aber sie hatte großen Respekt vor mir, weil ich Kriegsdienstverweigerer war. Verweigern – das wäre überhaupt das einzig Vernünftige. Denn: Die Bundeswehr – das wäre ja sowieso gar keine richtige Armee!

Tanz den Hanns Eisler

Wenn ich den Leuten von der MüllPD erzählen würde, daß ich ihrem Abgott, dem Willi Dickhut, persönlich begegnet bin, fünf mal sogar, würden sie vor Ehrfurcht erstarren und mich vielleicht sogar einladen, bei ihnen einen Vortrag als Zeitzeuge zu halten, in dessen Verlauf die Ehrfurcht aber der Verblüffung weichen würde: Wie kann aus einem, auf den das Angesicht ihres Gurus geschienen hat, so etwas werden?
Aus der KPD/ML wurde ich ausgeschlossen, weil ich eine eigene Zeitschrift herausgab und mich der Anweisung, es fortan zu unterlassen, mich auf einem Gebiet außerhalb der Partei politisch zu betätigen, widersetzte. Man hatte wohl auch mitgekriegt, daß ich heimlich fremdging, indem ich zum Beispiel Folkmusik hörte und dergleichen. Natürlich war der Anlaß nur „die Spitze des Eisbergs“, und dahinter wurde ein Abgrund linkssektiererischer, anarchistischer und trotzkistischer Verdorbenheit erkannt. Jedenfalls wurde ein Parteiausschlußverfahren gegen mich eingeleitet, und zwar wegen „Linksabweichung“, wie ich nicht ohne Stolz vermerke. Es gab allerdings eine Gegenstimme, nämlich von Bernd K., von dem der Verein dann bald ja auch nichts mehr wissen wollte und der später den Trikont-Verlag übernahm.
Ich war überrascht, als ich später zur Siebzig-einundsiebzig-Silvesterparty der Partei eingeladen wurde. Dahinter steckte wohl die Absicht, mich wieder für die Partei zu gewinnen. Die Absicht wurde aber nicht von allen geteilt. Einige ließen mich ihre Abneigung spüren. Aber ich wurde sowieso nicht sonderlich beachtet.
Zur Feier des neuen Jahres wurde eine Ernst-Busch-Platte abgespielt, und zwar nur ein einziges Stück: „Es geht durch die Welt ein Geflüster. Arbeiter, hörst du es nicht? Das sind die Stimmen der Kriegsminister. Arbeiter, hörst du es nicht?“ Neben dem Plattenspieler stand ein blonder Riese, der jedesmal, wenn das Stück zu Ende war, es von neuem abspielte, und die Begeisterung steigerte sich von Mal zu Mal. Die Fäuste flogen durch die Luft, es wurde mit den Füßen getrampelt. Die Begeisterung steigerte sich zu einem ekstatischen Taumel.


Unbemerkt verließ ich den Ort, an dem man aus Erich Weinert, Hanns Eisler und Ernst Busch Tanzmusik gemacht hatte (und wenn sie sich nicht gespalten haben, dann stampfen sie jetzt immer noch). Durch die kalte Winternacht ging ich die lange, lange Bismarckstraße entlang, froh darüber, daß ich längst auf neue Spuren gestoßen war, wovon auf diesen Seiten die Rede ist.
Bald darauf kam mir etwas zu Ohren, was bestimmt ich am allerwenigsten erfahren sollte: Der blonde Riese, der an der schrecklichen Schuld einer trotzkistischen Vergangenheit trug und darum um so vehementer auf einem unnachsichtigen Vorgehen gegen trotzkistische Abweichler bestand und der darum so vehement für meinen Ausschluß plädiert hatte, genau der ist dann mit der Parteikasse durchgebrannt.
Der Vorladung vor die Landeskontrollkommission, die über meinen Ausschluß zu entscheiden hatte, bin ich nicht gefolgt. Ich bin einfach nicht hingegangen. Meine sechste Begegnung mit Willi Dickhut kam nicht zustande. Die Kommission wird dann ja wohl entsprechend entschieden haben. Aber ich habe davon nichts mehr gehört. Ich gehe mal davon aus, daß ich nicht mehr in der KPD/ML bin.

Ein Samstag im Jahre 1969

Das war gar nicht im Jahre 1969, fällt mir gerade ein. Das war im Jahre 1970, und zwar im Februar. Es hätte aber auch im Jahre 1969 sein können, dann aber im November, denn im November ist ein ähnliches Wetter wie im Februar. Jedenfalls ging man damals mit den Samstagen um, als gäbe es genug davon.
Wir waren an diesem Samstag am frühen Nachmittag verabredet, um uns in die Politische Ökonomie einzuarbeiten. Das wurde „Schulung“ genannt. Die „Schulung“ sollte stattfinden bei Dietmar Ernst, also in Neudorf. Der Dietmar Ernst paßte in unsere KPD/ML-Gruppe genauso wenig hinein wie die meisten von uns. Leute wie ihn pflegte man als „zornige junge Männer“ zu bezeichnen. Er war ein paar Jahre älter als ich, wohl schon Mitte 20, trug wie fast alle männlichen KPD/ML-Mitglieder dieses Alters einen Stalin-Schnurrbart, war wirklich ein „zorniger junger Mann“, lachte nie, brachte aber unentwegt andere zum Lachen mit seinen kunstvoll vorgetragenen Sarkasmen. Er wohnte auf der Blumenstraße in einem riesigen Altbau (Foto) im Dachgeschoß, das ebenfalls riesig war, bestehend aus sehr vielen kleinen Zimmern.


Wir hatten uns also zu fünft dort eingefunden, vier Männer und eine Frau. Anne fehlte noch. Sie wollte etwas später kommen. Ich sollte sie zur verabredeten Zeit von der Straßenbahnhaltestelle abholen.
Anne war meine Freundin. Sie war die hübscheste von allen. Sie hatte wunderschönes langes dunkelbraunes Haar. Jedem gefiel sie, mancher begehrte sie, aber mich hatte sie erhört. Niemand hatte gewußt, daß ich in sie verliebt war, aber alle hatten gewußt, daß sie in mich verliebt war, bloß ich nicht. Wir haben dann aber doch zueinander gefunden und waren ein richtiges Traumpaar.
Anne war sehr gescheit und von unbändiger Neugier auf alles, was man wissen und erfahren kann. Man hätte ihr über alles mögliche etwas erzählen können, über Astronomie, über Geologie oder über isländische Literatur – sie hätte sich das alles aufmerksam angehört.
Sie hatte eine Schwäche: Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Den Weg von ihrer Haustür zur Straßenbahnhaltestelle fand sie zwar, auch gelang es ihr, an der richtigen Station aus der Bahn auszusteigen. Aber den Weg von der Haltestelle Neudorfer Straße zur Blumenstraße (etwa hundert Meter geradeaus) konnte sie nur finden, wenn man sie an der Hand nahm und führte. Sie hatte mir eingeschärft, sie zur verabredeten Zeit an der Haltestelle abzuholen.
Ich ging also zur Haltestelle. Aus der Bahn, mit der sie kommen wollte, stieg sie aber nicht aus. Sie wird sie wohl verpaßt haben, dachte ich, und wartete auf die nächste. Mit der nächsten kam Anne auch nicht, auch nicht mit der übernächsten. Es wurde ein langes Warten.
Während ich wartete, fand sich an der Haltestelle ein alter Mann ein, der – das war leicht zu vermuten – zu denen gehörte, die über keine Wohnadresse verfügen. Sein Mantel war sehr abgetragen, die zahlreichen Plastiktüten, die er mit sich trug, enthielten wohl all seine Habseligkeiten. Auf dem Haupt hatte er kaum noch Haare, dafür hatte er einen langen Bart. Für die Comic-Figur „Herr Natürlich“ von Robert Crumb hätte er das Modell sein können.


Als die nächste Straßenbahn eintraf, begann er, hastig die Plastiktüten aufzuheben. Als dann endlich all seine Tüten hochgehoben waren, war die Bahn schon abgefahren, und er ließ sie wieder zu Boden sinken. Das wiederholte sich noch ein paar mal. Nie war er schnell genug mit dem Zusammenraffen der Tüten, immer fuhr die Bahn ohne ihn ab. Mir fiel auf, daß die Bahnen, in die mit seinen Tüten einzusteigen er nie schaffte, von verschiedenen Linien waren und auf verschiedenen Wegen zu verschiedenen Stationen fuhren. Er wollte mit der Straßenbahn wegfahren, und es kam ihm offensichtlich nicht darauf an, mit welcher und wohin.
Nachdem er auf diese Weise wohl schon ein halbes Dutzend Straßenbahnen verpaßt hatte, begann er, mit durchdringender Stimme und in erheblicher Lautstärke ein Lied zu singen, das auch nach der vierzigsten Strophe noch nicht zu Ende war. Der Text war dermaßen bescheuert, daß er nur selbstgedichtet gewesen sein konnte. Die erste Zeile lautete:
„Was ist das Leben heut‘ so schwer! Man findet keine Ruhe mehr!“
Die Botschaft des Liedes läßt sich etwa so zusammenfassen: Wie man es auch dreht und wendet, das Leben bringt doch nur Verdruß.
„Hast du einen kleinen Laden, hast du auch so deine Plagen!“
Die beiden älteren Damen, die da auch auf eine Straßenbahn warteten, sagten zwar nichts, aber die Indigniertheit über den lautstarken Balladenvortrag war ihnen anzumerken. Als der Sänger dessen gewahr wurde, stellte er sich vor eine der beiden Damen hin, nahm eine Boxerstellung ein, tänzelte mit erhobenen Fäusten vor ihr hin und her und ließ die Fäuste durch die Luft sausen, immer die Nase der Dame knapp verfehlend. Die Damen waren fassungslos über das Geschehen. Weniger fürchteten sie sich, von einem Boxhieb getroffen zu werden. Aber es war ihnen furchtbar unangenehm, daß da einer sich dermaßen aufführte.
Ich verbrachte wohl eine Stunde an der Haltestelle und entfernte mich dann, so daß ich nicht weiß, wie die Geschichte mit den vergeblichen Abreiseversuchen ausging, und ich Ihnen nicht sagen kann, welche Wendung schließlich dazu führte, daß der Mann mit seinen Tüten jetzt nicht mehr an der Haltestelle steht. Anne war nicht gekommen; es wird ihr wohl – so vermutete ich – etwas dazwischengekommen sein. Ich ging also wieder dorthin, wo nun mit Verspätung die Schulung auf der Grundlage des Lehrbuchs der Politischen Ökonomie (Dietz-Verlag 1955) beginnen sollte.
Als wir uns in das Studium der Produktionsweise in der Urgemeinschaft eingearbeitet hatten, klingelte es. Dann stand Anne in der Tür. Sie sah zu mir hin mit einem so vorwurfsvollen Blick, wie ich ihn nie zuvor und auch nie danach in meinem Leben im Angesicht eines Menschen wahrgenommen habe. Sie sagte kein Wort. Warum ich nicht auf sie gewartet hatte, wollte sie gar nicht wissen. Da gab es nichts zu erklären, nichts auf der Welt hätte meinen frevelhaften Akt der Untreue rechtfertigen können, und auch dafür, daß ich mich jetzt nicht einfach vom Erdboden verschlingen ließ, gab es keine Entschuldigung.
Ein halber Samstag Studium der Politischen Ökonomie ist überaus anstrengend und erschöpfend. Um acht Uhr wurde was von der Pommesbude geholt und um viertel nach acht kam im Fernsehen ein Miss-Marple-Film. Den sahen wir uns an, das mußte einfach sein. Anne aß nichts und schaute völlig desinteressiert auf den Fernsehbildschirm. Ebensogut hätte sie anderthalb Stunden lang vor einem ausgeschalteten Fernsehapparat sitzen können.

Anne mit 15, hier sehr freundlich

Als wir etwa um zehn Uhr das Haus verließen, hatte ich erstmals wieder Gelegenheit, mit dieser Unerbittlichen Worte zu wechseln. Ich war darauf gefaßt, die halbe oder die ganze Nacht damit zuzubringen, sie zu besänftigen, hoffte aber, auf dem kurzen Weg zum Taxistand am Osteingang des Hauptbahnhofs die Sache halbwegs geradebiegen zu können. Denn ich wollte in der Nacht noch „Nummer Sechs“ sehen. Das war eine TV-Serie, die war noch schräger und abgefahrener als „Mit Schirm, Charme und Melone“, noch undurchsichtiger und mit psychedelischem Anhauch. Und an jenem Tag sollte der letzte Teil kommen, in dem sich alles auflöst. Würde es mir gelingen, meine Anne zurückzugewinnen und mich dann noch rechtzeitig allein vor den Fernsehapparat zu setzen? Heutzutage, wo man alles auf Video aufzeichnen kann, erscheint einem eine solche Überlegung vielleicht unvorstellbar.
Immerhin: sie öffnete den Mund. Und sie erklärte, daß sie ja vielleicht mal darüber nachdenken könne, ob sie es sich vielleicht überlegt, vielleicht in Betracht zu ziehen, es vielleicht doch noch mal mit mir zu versuchen. Sie gestattete mir sogar, im Taxi mitzufahren. Mehr war an diesem Abend wirklich nicht mehr rauszuholen.

aus Der Gartenoffizier. 124 komische Geschichten. Situationspresse 2008. 268 S. 16,50 Euro. ISBN 978-3-935673-24-2

P.S.: Als Anne diese Geschichte las, machte sie mir Vorwürfe. Sie war richtig ungehalten: „Das stimmt doch gar nicht! So habe ich dich nie behandelt! Ich war zu dir nie ungehalten, und ich habe dir nie Vorwürfe gemacht! Wie konntest du nur sowas schreiben? Ich fasse es nicht! Was bist du überhaupt für ein Mensch?“

Betrachtungen zum Bikini an Bushaltestellen

Nein: „Betrachtungen an Bushaltestellen zum Bikini“ muß es heißen.


Die Reklame, die jetzt wieder an jedem zweiten Bushaltestellenwartehäuschen zu sehen ist, verstehe ich nicht. „Gutgebaute“ junge Damen im Bikini. Angepriesen und mit Preisangabe versehen wird aber nur das Bikini-Top!


Per definitionem – und das wird durch das Bild durchaus bestätigt – besteht der Bikini als zwei Teilen.
Wir durften eine Zeit erleben, in der alles in Frage gestellt wurde – so auch die Zweiteiligkeit des Bikinis. Plötzlich gab es Bikinis, die nur noch aus einem Teil bestanden, nämlich dem unteren. Der obere Teil wurde ersatzlos abgestreift! „Oben ohne“ nannte man das.
Sind aus der Oben-ohne-Ära vielleicht viele Tops ungenutzt liegengeblieben, die jetzt an die Frau gebracht werden müssen? Müssen die sich den Unterteil dann selber stricken?
Daß sich als neue Mode eine Bikini-Variante durchsetzt, die nur noch aus dem Oberteil besteht, will ich nicht hoffen! Ein solcher „Bikini“ würde ein disproportionales Bild erzeugen! Ein Bikini nur aus einem Oberteil bestehend? Nein, das sieht nicht aus. Wenn der untere Teil verschwunden ist, muß der obere Teil schon vorher verschwunden sein. Denn bei der Entkleidung in erotischem Kontext ist die Reihenfolge von entscheidender Bedeutung.
Den Damen, die Wert darauf legen, daß man ihren nackten Hintern sieht, steht zu diesem Behufe als vortreffliches Hilfsmittel der Tanga zur Verfügung. Der ist – wegen des Stoff-Winkels – weitaus wirksamer als etwa der G-String, der ebenfalls ein disproportionales Bild erzeugt, weil er die Körperlinien an unpassender Stelle unterbricht (ich kann die Dinger nicht leiden).
Noch irritierender finde ich Darstellungen von nackten Frauen, die Schuhe tragen (hochhackig). Ganz nackig, aber noch Schuhe an? Da sehe ich überhaupt keinen Sinn drin! Wollen die nackig auf die Straße gehen?
Hören Sie die Erinnerungen eines schüchternen, aber genußfähigen Erdenmannes:
Es ist gelegentlich vorgekommen, daß Frauen sich vor mir ausgezogen haben. Sie taten es, um mir eine Freude zu machen – und auch zu ihrem eigenen Vergnügen. Sie waren nicht alle miteinander bekannt und können sich folglich auch nicht abgesprochen haben. Aber bei ausnahmslos allen begann die Entkleidung damit, daß sie sich die Schuhe auszogen. Eine nackte Frau mit Schuhen an den Füßen habe ich in natura noch nie gesehen.

Lina G.

Und bei ausnahmlos allen endete die Entkleidung nie mit dem BH. Der BH war immer spätestens das vorletzte Kleidungsstück, das abgelegt wurde, und jedesmal kam erst zuallerletzt der Hintern zum Vorschein.
Und so ist das auch richtig.

DER METZGER wird 100: Der schönste Arsch der Welt

Ein weiterer Auszug aus „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“ in DER METZGER Nr. 100 (Mai 2012):

Pelikan: Ist DER METZGER ein Sex-Blatt?

Ja selbstverständlich!

Pelikan: Hattest du eine Leserreaktion zu dem Thema?

Ich erinnere mich: Ich begegnete mal, das war 1972, auf dem Bahnhofsvorplatz dem Herrn Walter Schabronat. Das war ein Zufall, da war irgendwas los, irgendsoeine Zusammenkunft oder irgendsoeine Kundgebung. Ich ging da entlang, und da traf ich den Herrn Schabronat, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar, für das politische Ressort zuständig. Es verband sich zwischen ihm und den Leuten, die er beobachtete, so eine Haßliebe. Ich wußte damals noch nicht, daß er außerdem noch tätig war als Kundschafter der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik. Und der sagte mir: Na, Herr Loeven, Sie haben aus Ihrer Zeitung ja jetzt so eine Sankt-Pauli-Zeitung gemacht. Da war gerade die Nummer 18 erschienen, vielleicht sollte man die sich mal angucken, was ist denn da so Sankt-Paulihaftes dabei?
Viele Jahre später erschien mal jemand bei mir in der Buchhandlung, der war Mitarbeiter von „Who is who“, diesem Prominentenlexikon, und gab mir einen Fragebogen. Er sagte, es wäre ein Vorschlag gewesen, ich sollte in das „Who is who“ als Prominenter hinein. Ich habe den Fragebogen allerdings nie abgeschickt. Da war auch eine Rubrik: Hobby. Da hab ich überlegt: was schreibe ich denn unter Hobby. Da wollte ich reinschreiben: das Fotografieren nackter Frauen.

Das Original: Stefanie H. (in der Buchhandlung Weltbühne)

Ich habe zum Beispiel gern Fotografien gedruckt von der 18jährigen Stefanie H., die in mehreren Ausgaben unbekleidet zu bewundern ist in meiner Zeitung. Und daraufhin bekam ich erheblichen Ärger mit der Mitarbeiterin Erika B., die ja, wie bereits erwähnt, eine Zeitlang in der Emma-Redaktion gearbeitet hatte.

Das andere Original: Erika B. (selbstporträtiert)

Die fand das nicht gut, und zwar, daß nicht SIE da abgebildet worden ist. Ich hab ihr gesagt: Ja, meinegüte! Du warst doch schon öfter nackig in meiner Zeitung. Aber: „Egal! Eine andere hat da gar nichts zu suchen“, meinte sie, „wieso nimmst du da eine andere?“ SIE hätte doch den schönsten Arsch der Welt! Was ich ihr dann auch bestätigt habe. Das habe ich allerdings auch anderen gesagt. Sie schickte mir daraufhin eine Zeichnung, ein Selbstporträt von sich, eine Aktzeichnung, und sie schrieb darunter: Das ist gute alte linke Publizistik. Sie sprach darauf an, daß es früher in linken Blättern wohl üblich war, daß da auch Sex-Fotos erschienen sind, und das wäre eben eine gute Tradition, die leider verlorengegangen sei und nur noch in einer einzigen linken Zeitschrift weitergeführt wird.

Konkret entschuldigt sich ja alle Vierteljahre für ihre pornografische Vergangenheit.

Erika als Covergirl

Ein kluger Mann hat mal gesagt (ich zitiere aus einer unveröffentlichten Rede):
„Ich stehe dafür ein, die Sexualität von Doppelmoral, Angst, Sünde und Schulgefühlen zu befreien, das Schuldprinzip durch das Lustprinzip zu ersetzen, der Sexualität einen Raum in der Öffentlichkeit zu reklamieren, für die Sexualität einen Raum auch außerhalb fester Partnerbeziehungen zu reklamieren. Befreiung der Sexualität ist gleichbedeutend mit Reflexion und Ästhetisierung… Der Angriff auf die von Schulgefühlen und Tabus beladene bürgerliche Sexualmoral ist eine der besten Traditionen der Linken. Diese Tradition wurde verraten, oder besser gesagt: schlichtweg vergessen. Die Linke kriecht der Frauenbewegung hinterher oder hastet ihr mit vorauseilendem Gehorsam voraus, und merkt nicht, daß die Frauenbewegung an den tradierten weiblichen sexuellen Konservatismus appelliert.“
Der kluge Mann war ich.

„Der schönste Arsch der Welt“

Ein anderer kluger Mann hat mir einen Brief geschrieben: Ich sollte nicht solche Theorien verbreiten. Ich sollte das einfach machen, weil es schön ist und weil es geil ist.
Hat er recht oder hat er Unrecht? Ich finde, er hat recht. Aber so wie ich das mache ist auch richtig. Nämlich indem ich sage: indem ich mich auf die Debattenebene begebe, stecke ich euch auch alle in die Tasche.
Die Magda hat mal eine Zeitlang immer wieder den Satz gesprochen, wenn wir mal wieder zu tun hatten mit linkem Dogmatismus, mit wahnhaft gesteigerter Vernageltheit des Feminismus oder mit der Selbstsicherheit der Ignoranten: „Da hilft nur noch eine pornografische Offensive.“ Wo man mit Argumenten, Informationen und Fakten überhaupt nichts mehr ausrichten kann, da muß man reizen. Da bleibt einem gar nichts anderes übrig. Und das ist immer noch wirksam. Man möchte ja die einen erfreuen und die anderen schockieren. Und dazu bedarf es nur einer einzigen Strategie.
Von Obelix (Ripperger) stammt der Satz: „Politik ist wichtig, muß aber auch Spaß machen.“ Und ich sage: „Pornografie ist wichtig, muß aber auch schön sein“.

Das ganze Gespräch ist auf Papier nachzulesen in DER METZGER Nr. 100,
und im Netz bei Gasolin Connection.
Ein Abonnement von DER METZGER kostet 30 Euro für die nächsten 10 Ausgaben oder 50 Euro für alle zukünftigen Ausgaben.
Die Ausgaben ab Nr. 18 (1972) sind noch erhältlich. Die Ausgaben Nr. 1-17 (1968-1972) sind vergriffen.

DER METZGER wird 100: Ist die Alternative eine Alternative?

Ein weiterer Auszug aus „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“ in DER METZGER Nr. 100 (Mai 2012):

Hafenstaedter: In den frühen Ausgaben des METZGER sieht man sehr viele Anzeigen aus der Alternativszene. Wie war das Verhältnis des METZGER zu anderen Blättern und alternativen Projekten. Wie hat er sich damals schon von diesen unterschieden?

Die unterschieden sich alle voneinander. Da war keiner wie der andere. Wenn man sich die Underground-Zeitungen dieser frühen Phase ansieht. Die waren alle gleichweit voneinander entfernt, und waren aber doch in einem regen Austausch miteinander, und auch sehr praktisch. Man hat sich gegenseitig geholfen, eben z.B. durch Austausch von Anzeigen. Das war eine sehr wirksame Werbung, und man hatte auf diese Weise auch selber Werbung in der Zeitung drin. Denn ich finde: In eine Zeitung gehört auch Werbung rein, das muß man den Lesern schon bieten.
Es gab auch mehrere Konferenzen, wo man sich getroffen hat, und weil die Leute so verschieden waren, haben sie sich auch ganz gut vertragen. Das kann man heute vielleicht sich nicht so vorstellen, daß Individualisten, die ganz verschiedene Ansätze hatten, gut miteinander auskamen. Aber in Wirklichkeit ist es ja auch so: Je ähnlicher die Leute sich sind, je ähnlicher ihre Ansichten, desto zerstrittener sind sie miteinander. Die Zerstrittenheit der Gleichförmigen.


Aber über welche Zeit reden wir? Es kam danach, und zwar sehr bald, eine Zeit, wo die Alternativ-Bewegung ihren Charakter veränderte. Ich mag dieses Wort auch nicht mehr hören, weil man damit heute etwas anderes assoziiert. „Alternativ“ – das heißt „anders geboren“ wörtlich übersetzt. Das verflachte zu so einer Art moralischer Erneuerungsbewegung. Kommunen verflachten zu Wohngemeinschaften, und die verflachten dann sogar noch weiter zur WG. Ich hab in zwei Kommunen gelebt. […]
Trotzdem sage ich mit Stolz, daß ich nie in einer Wohngemeinschaft gelebt habe.
Dann kam auch noch so etwas hinzu: Das Postulat der Kollektivität. Das, was Wiglaf Droste mal bezeichnet hat als den „Mief der Gruppe“. Dem Individuum wurde mißtraut. Das wurde geradezu unterdrückt. Wenn mal jemand was auf eigene Faust tat, für eine Sache allein verantwortlich war, das KONNTE ja nichts sein. Das ging gar nicht. Man wurde auch immer als Gruppe angesprochen. Wenn ich einen Brief kriegte, wurde ich in der zweiten Person im Plural angesprochen. Wenn ich beschimpft wurde, wurde ich auch in der zweiten Person Plural beschimpft.
Also dann wurde der Unterschied doch schon sehr groß.

Pelikan: Aber die haben sich nicht so sehr als Konkurrenten verstanden?

Nee, ganz und gar nicht.

Das ganze Gespräch ist auf Papier nachzulesen in DER METZGER Nr. 100,
und im Netz bei Gasolin Connection.
Ein Abonnement von DER METZGER kostet 30 Euro für die nächsten 10 Ausgaben oder 50 Euro für alle zukünftigen Ausgaben.
Die Ausgaben ab Nr. 18 (1972) sind noch erhältlich. Die Ausgaben Nr. 1-17 (1968-1972) sind vergriffen.

Vollversammlung

Von den „Vollversammlungen“ im Eschhaus sind mir drei besonders in Erinnerung geblieben.
Ich nehme an, daß man das nicht nur im Eschhaus erlebt hat: Eine Vollversammlung (anderswo auch Plenum genannt) ist der Ort des Streites zwischen denen, die etwas tun mit denen, die reden. Unentwegt werden Fragen, die längst beantwortet sind, noch einmal gestellt, und Problemlösungen über den Haufen geworfen. In einer Vollversammlung kehrt man stets zum Nullpunkt zurück. „Basisdemokratie“ wird folglich nur von Leuten geschätzt, die sie noch nie am eigenen Leibe zu spüren bekommen haben, oder von Leuten, die zu nichts anderem fähig sind als beantwortete Fragen noch einmal zu stellen und Lösungen über den Haufen zu werfen.
Bei einer der drei Vollversammlungen im Eschhaus, die ich meine, war eine Pause eingelegt worden. Man konnte sich was zu trinken holen. Die Pause war zu Ende, also Weiterlesen

DER METZGER wird 100: Atmosphäre der Beobachtung (Beobachtung der Atmosphäre)

Ein weiterer Auszug aus „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“ in DER METZGER Nr. 100 (Mai 2012):

Foto: Hafenstaedter

Hafenstaedter: Im Verfassungsschutzbericht des Bundes über das Jahr 1973 wird in einer Collage linker Zeitschriften auch ein Ausschnitt des Titelblatts des METZGER Nr. 19 mit dem behördlichen Zusatz „Anarchistische Blätter“ abgebildet. Hast du eine Ahnung, wie es dazu kam? Hatte dieses staatliche Stigma damals irgendwelche Auswirkungen positiver oder negativer Art? Gab es unabhängig von diesem Ereignis später direkte staatliche Repressionen gegen den METZGER, z.B. im sogenannten deutschen Herbst?

Zunächst würde ich ja gerne mal erfahren: Wie ist eigentlich das Bundesamt für Verfassungsschutz in den Besitz dieses Heftes gekommen? Nun, in der Zeit war die Auflage hoch. Vielleicht haben die irgendwelche linken Buchhandlungen abgeklappert. Vielleicht war auch irgendein Abonnent Mitarbeiter des Bundesamtes. Und dann ist die Frage: Wie kommen die auf „anarchistisch“? Bei Wikipedia wird DER METZGER auch als eine Zeitschrift mit anarchistischer Tendenz geführt. Und ich war auch überrascht, daß die anarchistischen Archive wie z.B. von Stowasser und von Schmück in ihren Bibliografien und in ihren Sammlungen diese Zeitschrift auch führen. Ich hab den Stowasser auch gefragt: Wieso, ist das denn eine anarchistische Zeitschrift? Paßt das denn dazu? Und dann schrieb der mir zurück: Jaja, das lassen wir als anarchistisch gelten. Aber ich hab mich ja nie zum Anarchismus bekannt. Allein schon deshalb, weil die Gralshüter des Anarchismus mich erschrecken mit ihrem Dogmatismus. Ich bin ja nie Anarchist gewesen, ich war immer Stalinist.
Ich finde, Anarchismus ist als Lebenskonzept eine gute Sache. Daß man sich von keinem befehlen läßt und niemandem befiehlt. Das ist ein gutes Lebenskonzept, aber ein miserables Gesellschaftskonzept. Das ist ja nicht auszuhalten.
Die Frage ist auch, wie lange dauerte denn der Deutsche Herbst? Nicht so lange wie ein meteorologischer oder botanischer oder astronomischer Herbst, nicht drei Monate. Der dauerte eigentlich ein ganzes Jahrzehnt. Schon Anfang der 70er Jahre gab es eine Repressionswelle, und es gab eine sehr aggressive Tätigkeit der Polizei und der Sicherheitsbehörden. Und dann ist die Frage: Was bedeutet in dem Zusammenhang der Begriff „anarchistisch“? Ich erinnere daran, daß der erste Steckbrief, mit dem die RAF-Mitglieder gesucht wurden, die Überschrift hatte „anarchistische Gewalttäter“. Das waren ja gar keine Anarchisten. Die richtigen Anarchisten haben die RAF als „Leninisten mit Knarre“ bezeichnet, abfällig. Der Begriff „anarchistisch“ war kein geistesgeschichtlicher Begriff, sondern ein Kampfbegriff, nach dem Motto: Das sind die Allerschlimmsten. Und deshalb ist es dann schon sehr brisant, wenn man in diese Kategorie eingeordnet wird.
Ich wurde in den 70er Jahren vom Bundeskriminalamt beobachtet. Die haben sich auch nicht die geringste Mühe gegeben, ihre Beobachtung geheimzuhalten, die haben sich auffällig benommen, sind z.B. mit Fotoapparat in Nachbars Garten herumgestapft, um um mich herum eine Atmosphäre der Observation zu schaffen. Es gab auch die „Beobachtende Fahndung“, in Zeiten, in denen der Computer noch nicht eine so große Rolle spielte wie später, hat man da schon Methoden der Rasterfahndung entwickelt. Wer in der „Beobachtenden Fahndung“ war, das waren etliche tausend Leute, der konnte sicher sein, beim Grenzübertritt rausgewunken zu werden. Wir sind früher oft nach Holland gefahren, um da billig Tabak und billig Kaffee zu kriegen. Wenn man nicht durchgewunken wurde, sondern der Ausweis vorgezeigt werden mußte, dann wurden wir rausgewunken, und der Wagen wurde von oben bis unten durchsucht.
Die Herren vom Bundeskriminalamt haben sich mir auch vorgestellt. Weiterlesen

DER METZGER wird 100: Lopezzo und Schnack

Die Ausgabe Nr. 100 des satirischen Magazins DER METZGER (Mai 2012) enthält den Beitrag „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“. Aus dem stundenlangen Gespräch hier ein Auszug:

H.L. (links) und Pelikan. Foto: Hafenstaedter

H.L. (links) und Pelikan. Foto: Hafenstaedter

Pelikan: Wie ist denn der Inhalt dieser Zeitschrift? Wie würdest du den METZGER beschreiben.

Das ist ein Unterhaltungsmagazin. Ich möchte tatsächlich den Leuten etwas bieten, worüber sie sich freuen können, dann können sie am Wochenende, am Samstag Nachmittag bei einer Tasse Kaffee in einem bequemen Sessel sitzen und sich an der Lektüre erfreuen.
Man hat Bertolt Brecht mal gefragt: Was ist die Aufgabe des Theaters. Brecht sagte: Die Aufgabe des Theaters ist, das Publikum zu unterhalten.
Diese Zeitschrift ist – kann man wohl sagen – ein Zeugnis der hedonistischen Linken – erinnernd an das Motto von Majakowski: „Her mit dem richtigen Leben“!
Wer bei dieser Zeitschrift Einflüsse erkennt von der Kritischen Theorie, von Surrealismus, von Dada, oder von den Internationalen Situationisten, der wäre auf der richtigen Spur. Eine Linie gibt es bestimmt, bloß die ist nicht unbedingt gerade. Eine Linie kann ja auch kurvig sein. Das ist eher so wie in einem Dschungel, wo man immer wieder neue Pfade freilegt.
Der ideelle Gesamt-Metzgerleser, dessen Existenzform ist die Minderheit, oder sogar die Minderheit in der Minderheit.
DER METZGER ist zu Papier gebrachtes Kabarett. Dessen Ausdrucksformen sind ja auch vielfältig, was ja das Reizvolle am Kabarett ist.
Ein Charakteristikum dieser Zeitschrift ist die Universalität. Es geht ums Ganze. Es gibt kein Thema, kein Gebiet, was von vornherein ausgeschlossen ist. Es könnte auch ein Artikel über Geologie und Gesteinsformationen oder über Astrophysik drin erscheinen. Kein Thema ist von vornherein ausgeschlossen. Da ist Platz für Theorie und Poesie, für Wissenschaft und Nonsens. Weiterlesen

Bruno Bachler

Foto: Bruno Bachler (links) mit Oskar Rothstein

An eine komische Begebenheit erinnere ich mich. Er griff nach meinem Haarschopf und legte ihn über seine Glatze.
„Bruno, jetzt müssen wir aber nebeneinander gehen.“
„Wat sachse?“
„Jetzt müssen wir nebeneinander gehen.“
Ich erinnere mich auch nicht ohne Heiterkeit daran, daß ich in dem VVN-Büro auf dem Lith in Wanheimerort immer mit einem Schnäpsken begrüßt wurde. Zum Abschied nannte er mich immer „Liebe Jung‘“, auch als mein Haar schon grau wurde. „Tschüß, liebe Jung‘!“
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Wir saßen im Zug nach Dortmund, zum UZ-Pressefest. Der ganze Wagen voller Genossen. Ich wurde von einer Freundin begleitet. „Wer ist der Mann, der da spricht?“ – „Das ist Bruno Bachler.“ Sie war beeindruckt, und darum ein paar Tage später Mitglied der VVN. Ob ich denn auch Mitglied der VVN sei, fragte sie ihn.
„Der Helmut ist einer von uns.“
Das hat Bruno gesagt. Alle Verdienstkreuze und Auszeichnungen können dafür stecken bleiben. Mir muß klar sein, welche Verpflichtung mir mit dieser Anerkennung aufgetragen ist.
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Ein Bekannter von mir, ein Lehrer, erzählte mir oft, daß er auf die Linken nicht gut zu sprechen ist – aus Gründen, die ich verstehe. Ganz anders sein Urteil, als er Bruno Bachler und Karl-Heinz Winstermann (Brunos Kamerad aus dem Widerstand) kennenlernte, als sie mit der Ausstellung „Verfolgung und Widerstand in Duisburg“ auch an seine Schule kamen und vor Schulklassen sprachen. „Die beiden sind einfach echt!“
Es ist bezeugt, daß die Schülerinnen und Schüler nicht weniger beeindruckt waren – nicht nur von seinen Kenntnissen, nicht nur von seinen Argumenten, sondern von seiner Persönlichkeit.
Lehrer zu sein, sagte er mir, wäre sein Traumberuf gewesen, junge Menschen zu begleiten.
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Bruno, aus einer kommunistischen Familie stammend, gehörte in der Nazizeit zu den Edelweißpiraten – Jugendliche, die sich von der HJ abgrenzten und mehr und mehr zum Widerstand übergingen. Wegen „Wehrkraftzersetzung“ kam Bruno in das KZ Buchenwald.
Mit dem Ende des Naziregimes begann für ihn eine neue Phase des Kampfes. Er leitete in Duisburg die FDJ, wofür er ins Gefängnis kam. 1960 wurde er als Mitglied der illegalen KPD wieder verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er war dabei, als nach 1968 die Kommunisten wieder eine legale Partei aufbauten. Er war als Gewerkschafter und Betriebsratsvorsitzender aktiv. Sein Lebensmittelpunkt war die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten. Daß der Antifaschist auch in diesem Staat suspekt ist, mußte er erfahren. Um Anerkennung des antifaschistischen Widerstandes hat er sich erfolgreich bemüht, und er würde sofort betonen, daß sie nicht minder denen zu verdanken ist, mit denen er gemeinsam kämpfte.
Von Bundestagspräsident Thierse wurde Bruno zu einer Feierstunde des Bundestages eingeladen. Bruno lehnte die Einladung ab. Zurecht erwartete er Genugtuung für das, was dieser Staat ihm angetan hat. In Havanna wurde Bruno von Fidel Castro empfangen, der ihm für seine Lebensleistung dankte.
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Das Alter verlangte einen hohen Tribut. Zum letzten Mal sprach ich mit ihm bei der Feier zu seinem 85. Geburtstag in den Ausstellungsräumen der VVN in Kaßlerfeld. Da kam auch der Oberbürgermeister, der damals noch ein angesehener Mann war.
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Nun haben wir Bruno auf seinem letzten Weg begleitet. Es sind sehr viele gekommen, für die es eine Ehrensache war. Der Sauerland kam diesmal nicht. Aber Josef Krings war da. An Brunos Grab wurde noch einmal das Moosoldatenlied gesungen – ganz leise.
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Bruno Bachler – diesen Namen haben wir immer mit Stolz und Rührung ausgesprochen. Wir haben ihn nicht nur geachtet. Wir haben ihn nicht nur verehrt.
Den Bruno haben wir geliebt.