Happening (1969)

Im März 1969, zwei Tage vor dem Ostermarsch, weilte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière, in Duisburg. Der Unternehmerverband Ruhr-Niederrhein hatte ihn eingeladen, im vornehmen Duisburger Hof einen Vortrag zu halten.
Wir fanden uns mit etwa 10 Leuten vor dem Duisburger Hof ein und veranstalteten ein Happening, mit dem wir gegen die Anwesenheit des Generals und gegen die Bundeswehr überhaupt unseren Protest zum Ausdruck zu bringen gedachten. Wir verteilten Flugblätter, trugen Papptafeln mit Slogans herum, einer trug einen Stahlhelm und eine Gasmaske. Bernhard Klaas trug ebenfalls einen Stahlhelm, an dem er zwei Haken angebracht hatte, mittels derer er ein Holzbrett an dem Helm befestigen konnte. Das war das „Brett vor dem Kopf des Bundeswehrsoldaten“.

APO-Happening 1969. 2. v.l.: ich. 3.v.l.: Anne! 4. v.l.: Baumeister. 2. v.r.: Hans Raßmes (mit Gasmaske). Rechts: Klaas (mit Brett vor’m Kopp).

Als der General im Mercedes vorgefahren kam, salutierte Klaas formvollendet. Der General – das muß man sagen – hatte Humor und lachte sich kaputt. Bernhard Klaas marschierte auf dem Bürgersteig hin und her, blieb vor dem Mercedes stehen, knallte die Hacken zusammen und salutierte, bis ich ihn darauf aufmerksam machte, daß der General längst ausgestiegen und ins Gebäude gegangen war.
„Wat?“ Klaas hob das Brett an und sah. „Ach so!“
Die Presse kam auch. Es gab damals noch die rasenden Reporter, die Happenings witterten. Der erste war ein Fotograf der UZ.
Auch einige Passanten blieben stehen und schauten sich das Treiben belustigt an. Mit der Zeit bildete sich das, was man eine „Menschentraube“ nennt. Diskutiert wurde auch. Die meisten Leute waren skeptisch, aber nicht ablehnend. Und wir versäumten es nicht, den Krieg der USA in Vietnam zu erwähnen.
Aus der Ansammlung der Zuschauer rief einer uns zu: „Warum geht ihr denn nicht bei Ulbricht demonstrieren?“
„Der Walter Ulbricht, ne“, rief ich zurück, „der ist nämlich auch gegen den Vietnamkrieg.“
Siegfried Baumeister, der bei uns als eine Art Wortführer galt, stand neben mir. Ihm war es eiskalt den Rücken runtergelaufen. „Bist du verrückt?“ zischelte er mir zu. „Das kannst du doch so nicht sagen!“
Aber das Publikum reagierte alles andere als „abgestoßen“. Heiterkeit breitete sich aus. „Wo er recht hat, da hat er recht“, rief einer. Die einen lachten, die anderen schmunzelten. Die Schlagfertigkeit meiner Antwort, die mir just eingefallen war, hatte beeindruckt.
Gewiß, das war nicht political correct gewesen. Ich hätte natürlich wortreich versichern müssen, daß wir ja auch was gegen Ulbricht haben, und ich hätte geflissentlich bekennen müssen, daß wir sowjetische Militärposten in Prag mindestens ebenso fürchterlich finden wie den Völkermord in Vietnam, und daß wir für Abrüstung in West uuund Ost sind, und ich hätte dieses Uuund uuunüberhörbar dem öffentlichen Bewußtsein zu Füßen legen müssen.
Das hatte ich aber nicht getan. Ich war 19 Jahre alt und von Politik, von Klassenkampf verstand ich noch sehr wenig. Mir fehlten noch viele Erfahrungen. Aber so viel verstand ich schon, daß ich – wenngleich auch uncorrect –, so doch – wie ich finde – richtig gehandelt habe.
Ich hatte die Lacher auf meiner Seite und habe somit Pluspunkte eingeheimst, und das hätte ich nicht geschafft, wenn ich gesagt hätte, was man von mir hören wollte.
Was hätte es denn gebracht, wenn ich mich wortreich in Beschwichtigungsritualen ergangen wäre? Das hätte man mir doch sowieso nicht abgenommen. Wer auf einen „wunden Punkt“ hingewiesen wird und sich dann windet wie ein Aal, überzeugt niemanden. Er steht dann da als einer, der sich ertappt fühlt und durch Distanzierung sich reinzuwaschen versucht. Dann doch lieber die Etiketten, die die Herrschenden uns ans Hemd kleben, stolz vorzeigen. Das imponiert mehr. Wer die Lacher auf seiner Seite hat, hat mehr erreicht als einer, der bei den Meinungsbegutachtern gerade noch eine Vierminus herausschindet.
„Seht her! So schlecht wie unser Ruf, so sind wir auch!“ Das ist das bessere Motto. Ich war 19 Jahre alt und von Politik, von Klassenkampf verstand ich noch sehr wenig. Mir fehlten noch viele Erfahrungen. Aber soviel verstand ich schon: Daß wir als „Everybody‘s Darling“ nichts gewinnen können, weil wir niemals „Everybody‘s Darling“ sein werden. Als kleine radikale Minderheit aber, als die stets unwillkommenen Störenfriede, als harter Kern haben wir vielleicht eine Chance. Als Alptraum der Spießer sind wir unübertroffen.
Und außerdem, das sollten Sie auch noch wissen: Die Aussage „Der Walter Ulbricht, ne, der ist nämlich auch gegen den Vietnamkrieg“ entsprach durchaus meiner Meinung. So sah ich die Dinge. In Walter Ulbricht und „seiner“ DDR sah ich einen Verbündeten unserer Sache. Wem hätte es genützt, wenn ich es verschämt verschwiegen hätte?
Bleibt noch zu erwähnen, daß Bernhard Klaas zwei Tage danach mit Stahlhelm auf dem Kopf als „Bundeswehrsoldat mit dem Brett vor dem Kopf“ den ganzen Ostermarsch mitgegangen ist.

aus Der Gartenoffizier. 124 komische Geschichten. Situationspresse 2008. 268 S. 16,50 Euro. ISBN 978-3-935673-24-2

Der Aufstand

Ich erzähle Ihnen zwei Geschichten.
Ich ging an einem frühen Sonntagmorgen durch Neudorf, um eine Freundin zum Bahnhof zu bringen. Der Weg zum Bahnhof führt, wie Sie wissen, am Gertrud-Bäumer-Berufskolleg vorbei, und meine Freundin wollte wissen, wer denn eigentlich Gertrud Bäumer gewesen sei.
Gertrud Bäumer, antwortete ich, war eine prominente Publizistin zur Zeit der Weimarer Republik, sehr patriotisch und so eine Art Reichs-Anstandsdame, die sich für ein Schmutz-und-Schund-Gesetz einsetzte.
„Aha“, sagte meine Freundin, „so eine Art Alice Schwarzer der 20er Jahre.“
Ich konnte das weder verneinen noch bejahen, denn meine Freundin kannte Alice Schwarzer besser als ich, weil sie eine Zeitlang in deren Kölner Verlagsunternehmen gearbeitet hatte, bevor sie dort im Streit ausschied (siehe DER METZGER 54).
Die zweite Geschichte ist etwas länger her. Das war zu Zeiten des Eschhaus-Buchladens. Da erschienen eines Abends zwei junge Frauen mit zweierlei Anliegen.
Erstens: Sie wollten mich dafür engagieren, eine von der Gruppe, für die sie sprachen, herausgegebene Infobroschüre zu verbreiten.
Zweitens: Sie teilten mir mit, daß es in ihren Kreisen mißbilligend registriert worden sei, daß im Eschhaus-Buchladen kaum beziehungsweise überhaupt nicht „Literatur der Frauenbewegung“ zu finden sei, und sie wirkten auf mich ein, diesem Übelstand abzuhelfen. Sie redeten mit sehr ernsten Gesichtern und erklärten mir ihr Anliegen, so wie man einem kleinen Kind etwas erklärt (und ich zweifelte nicht daran, daß sie beizeiten ihren Tonfall ändern würden).
Der Inhalt der besagten Infobroschüre war nicht originell: Daß an allem, was in der Welt schiefläuft, die Männer schuld sind (sowas nehme ich grundsätzlich persönlich), und außerdem sind die Linken die Allerschlimmsten, weil es sich bei denen um eine „Männerbewegung“ handelt – also etwas, was man schon hundertmal gelesen hatte.
Trotzdem war ich erstaunt: Darüber, daß sie mit dem sonnigsten Gemüt von der Welt für ihren Feldzug gegen die Linke deren Instrumentarium in Anspruch nehmen zu können glaubten (sofern man den Eschhaus-Buchladen diesem Instrumentarium zurechnen mag).
Das habe ich denen aber nicht gesagt. Ich habe sie nur gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, den METZGER in Frauenläden und Frauenzentren auszulegen. Da guckten sie mich an, als wäre ich vom anderen Stern. Die Verhandlung war beendet.
Das muß man sich mal vorstellen: Die kommen zu mir mit diesem Anliegen: „Guten Tag, wir  wollen Ihre Pläne durchkreuzen, und wir möchten gerne in der Welt verbreiten, daß Sie ein Arschloch sind. Würden Sie uns dabei bitte behilflich sein?“ Und wenn ich dann antworte: „Nein, dabei möchte ich Ihnen nicht behilflich sein“, dann fallen die aus allen Wolken und verstehen die Welt nicht mehr. Die scheuen sich nicht, mich zu verleumden, aber sie wollen trotzdem von mir liebgehabt werden. Diese Frauen sind vor allem Töchter: der Alte Herr ist ihnen „total peinlich“, aber für ihre Klamotten soll Papi die Kohle rausrücken. Ist alles „nicht so gemeint“, alles nur ein Gesellschaftsspiel. Schlimm nur, daß ich grundsätzlich jeden beim Wort nehme.


Alice Schwarzer hat in der Frankfurter Rundschau für die Abschaffung des Internationalen Frauentages plädiert: „Woher kommt der eigentlich? Von der Frauenbewegung auf jeden Fall nicht. In den 1970er Jahren kannten wir keinen 8. März.“ Das ist Quatsch. Seit der Einführung des Gregorianischen Kalenders hat es jedes Jahr einen 8. März gegeben, auch in den 70er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts. Sie will – mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln – auf etwas anderes hinaus: Weiterlesen

DER METZGER wird 100: Der schönste Arsch der Welt

Ein weiterer Auszug aus „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“ in DER METZGER Nr. 100 (Mai 2012):

Pelikan: Ist DER METZGER ein Sex-Blatt?

Ja selbstverständlich!

Pelikan: Hattest du eine Leserreaktion zu dem Thema?

Ich erinnere mich: Ich begegnete mal, das war 1972, auf dem Bahnhofsvorplatz dem Herrn Walter Schabronat. Das war ein Zufall, da war irgendwas los, irgendsoeine Zusammenkunft oder irgendsoeine Kundgebung. Ich ging da entlang, und da traf ich den Herrn Schabronat, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar, für das politische Ressort zuständig. Es verband sich zwischen ihm und den Leuten, die er beobachtete, so eine Haßliebe. Ich wußte damals noch nicht, daß er außerdem noch tätig war als Kundschafter der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik. Und der sagte mir: Na, Herr Loeven, Sie haben aus Ihrer Zeitung ja jetzt so eine Sankt-Pauli-Zeitung gemacht. Da war gerade die Nummer 18 erschienen, vielleicht sollte man die sich mal angucken, was ist denn da so Sankt-Paulihaftes dabei?
Viele Jahre später erschien mal jemand bei mir in der Buchhandlung, der war Mitarbeiter von „Who is who“, diesem Prominentenlexikon, und gab mir einen Fragebogen. Er sagte, es wäre ein Vorschlag gewesen, ich sollte in das „Who is who“ als Prominenter hinein. Ich habe den Fragebogen allerdings nie abgeschickt. Da war auch eine Rubrik: Hobby. Da hab ich überlegt: was schreibe ich denn unter Hobby. Da wollte ich reinschreiben: das Fotografieren nackter Frauen.

Das Original: Stefanie H. (in der Buchhandlung Weltbühne)

Ich habe zum Beispiel gern Fotografien gedruckt von der 18jährigen Stefanie H., die in mehreren Ausgaben unbekleidet zu bewundern ist in meiner Zeitung. Und daraufhin bekam ich erheblichen Ärger mit der Mitarbeiterin Erika B., die ja, wie bereits erwähnt, eine Zeitlang in der Emma-Redaktion gearbeitet hatte.

Das andere Original: Erika B. (selbstporträtiert)

Die fand das nicht gut, und zwar, daß nicht SIE da abgebildet worden ist. Ich hab ihr gesagt: Ja, meinegüte! Du warst doch schon öfter nackig in meiner Zeitung. Aber: „Egal! Eine andere hat da gar nichts zu suchen“, meinte sie, „wieso nimmst du da eine andere?“ SIE hätte doch den schönsten Arsch der Welt! Was ich ihr dann auch bestätigt habe. Das habe ich allerdings auch anderen gesagt. Sie schickte mir daraufhin eine Zeichnung, ein Selbstporträt von sich, eine Aktzeichnung, und sie schrieb darunter: Das ist gute alte linke Publizistik. Sie sprach darauf an, daß es früher in linken Blättern wohl üblich war, daß da auch Sex-Fotos erschienen sind, und das wäre eben eine gute Tradition, die leider verlorengegangen sei und nur noch in einer einzigen linken Zeitschrift weitergeführt wird.

Konkret entschuldigt sich ja alle Vierteljahre für ihre pornografische Vergangenheit.

Erika als Covergirl

Ein kluger Mann hat mal gesagt (ich zitiere aus einer unveröffentlichten Rede):
„Ich stehe dafür ein, die Sexualität von Doppelmoral, Angst, Sünde und Schulgefühlen zu befreien, das Schuldprinzip durch das Lustprinzip zu ersetzen, der Sexualität einen Raum in der Öffentlichkeit zu reklamieren, für die Sexualität einen Raum auch außerhalb fester Partnerbeziehungen zu reklamieren. Befreiung der Sexualität ist gleichbedeutend mit Reflexion und Ästhetisierung… Der Angriff auf die von Schulgefühlen und Tabus beladene bürgerliche Sexualmoral ist eine der besten Traditionen der Linken. Diese Tradition wurde verraten, oder besser gesagt: schlichtweg vergessen. Die Linke kriecht der Frauenbewegung hinterher oder hastet ihr mit vorauseilendem Gehorsam voraus, und merkt nicht, daß die Frauenbewegung an den tradierten weiblichen sexuellen Konservatismus appelliert.“
Der kluge Mann war ich.

„Der schönste Arsch der Welt“

Ein anderer kluger Mann hat mir einen Brief geschrieben: Ich sollte nicht solche Theorien verbreiten. Ich sollte das einfach machen, weil es schön ist und weil es geil ist.
Hat er recht oder hat er Unrecht? Ich finde, er hat recht. Aber so wie ich das mache ist auch richtig. Nämlich indem ich sage: indem ich mich auf die Debattenebene begebe, stecke ich euch auch alle in die Tasche.
Die Magda hat mal eine Zeitlang immer wieder den Satz gesprochen, wenn wir mal wieder zu tun hatten mit linkem Dogmatismus, mit wahnhaft gesteigerter Vernageltheit des Feminismus oder mit der Selbstsicherheit der Ignoranten: „Da hilft nur noch eine pornografische Offensive.“ Wo man mit Argumenten, Informationen und Fakten überhaupt nichts mehr ausrichten kann, da muß man reizen. Da bleibt einem gar nichts anderes übrig. Und das ist immer noch wirksam. Man möchte ja die einen erfreuen und die anderen schockieren. Und dazu bedarf es nur einer einzigen Strategie.
Von Obelix (Ripperger) stammt der Satz: „Politik ist wichtig, muß aber auch Spaß machen.“ Und ich sage: „Pornografie ist wichtig, muß aber auch schön sein“.

Das ganze Gespräch ist auf Papier nachzulesen in DER METZGER Nr. 100,
und im Netz bei Gasolin Connection.
Ein Abonnement von DER METZGER kostet 30 Euro für die nächsten 10 Ausgaben oder 50 Euro für alle zukünftigen Ausgaben.
Die Ausgaben ab Nr. 18 (1972) sind noch erhältlich. Die Ausgaben Nr. 1-17 (1968-1972) sind vergriffen.

Chonique Scandaleuse

Mit der Einrichtung von Bundesamt und Landesämtern für Verfassungsschutz 1950 begann eine Chronik der Skandale und Merkwürdigkeiten. Eine Übersicht (Stand: Februar 2012).

1953: Die „ Vulkan-Affäre“. Aufgrund eines Dossiers des Verfassungsschutzes wurden in einer Operation mit dem Decknamen „Vulkan“ über dreißig Personen verhaftet, denen Wirtschaftsspionage für die DDR vorgeworfen wurde. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos. Einer der zu Unrecht Verdächtigten beging in der Haft Selbstmord.

1954: Die John-Affäre: Otto John,  erster Chef des Verfassungsschutzes, floh in die DDR. Johns Motive wurden nie geklärt. John kehrte in die BRD zurück und erklärte – wenig glaubhaft –, er sei entführt worden.
Sein Nachfolger, Hubert Schrübbers, wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, weil seine Verwicklung in die Terrorjustiz des Naziregimes herausgekommen war.

1956 ff: Das KPD-Verbot. Das vom Bundesverfassungsgericht erlassene Verbot der KPD wurde von herrschenden Kreisen in der BRD dazu genutzt, den Kalten Krieg im Inneren des Landes zu führen und alle oppositionellen fortschrittlichen Bestrebungen zu kriminalisieren (siehe DER METZGER 78 et al). Hunderttausende Ermittlungsverfahren wurden eröffnet, tausende Verhaftungen durchgeführt. Die Verfassungsschutzämter versorgten Polizei, Justiz und Presse mit „Informationen“.

1963: Die Telefon-Affäre. Das Kölner Amt hatte Weiterlesen

Frau Fischer hat in der WAZ einen Kommentar zusammenphilosophiert

„Die Generation 30+ … Jobs gibt es nicht, Rente kaum. Die Beiträge steigen, die Erträge sinken, nicht einmal Riestern wird noch reichen. Gearbeitet wird mehr, verdient weniger. Und was reinkommt, fließt in Versicherungen, die wohl nie leisten werden, was sie nun noch versprechen. In einem Alter, in dem sie angekommen sein wollten, hangeln sich Zigtausende von Praktikum zu Befristung, und wenn sie in ihre Träume investieren wollen, zeigt ihnen der Finanzberater ihre Rentenlücken. Die Generation hat Ausbildung, Auslandserfahrung und trotzdem Angst… Der Staat führt das Rundum-Sorglos-Paket nicht mehr…“
Ein Kommentar, der (wie sagt man?) „schonungslos offenlegt“ – ja, was legt er offen? Das, woran man sich mittlerweile gewöhnt zu haben hat.
Es wäre ja schon ein kleiner Erkenntnisgewinn, wenn Journalisten aufhören könnten, dauernd alberne Bezeichnungen für „Generationen“ zu erfinden, wenn es in Wahrheit um Gesellschaft geht, und wenn sie damit aufhören könnten, selbstverliebt schnittige Formulierungen zu erfinden. Das „Rundum-Sorglos-Paket“ ist ein schicker Spruch und zugleich eine Diffamierungs-Floskel für den Sozialstaat, den es hier wohl mal in Ansätzen gegeben haben soll und der nun perdu ist. Der Staat verweigert die sozialstaatlichen Leistungen, und zwar nicht etwa deshalb, weil er diese Leistungen nicht mehr erbringen kann, sondern weil er sie nicht mehr erbringen will. Er könnte schon, wenn er wollte. Aber er will nicht. Und auch das hat sich verändert in den letzten 16 Jahren: Die, die in dieser Gesellschaft die Entscheidungen treffen, halten es nicht mehr für nötig, das System, in dem wir leben, als die beste aller Welten anpreisen zu lassen. Sollen die Leute doch maulen!
Ja, in Ansätzen hat es den hier wohl mal gegeben, den Sozialstaat. Hier konnte man zwar krank werden oder einen Unfall erleiden. Hier konnte man zwar infolge von Invalidität oder wegen fortgeschrittenen Alters seine Arbeitskraft einbüßen. Hier konnte man zwar (anders als in der DDR) arbeitslos werden. Aber in einem gewissen Maße sollte sich die Gesellschaft für die Sicherung gegen die Lebensrisiken zuständig fühlen, was heute als „Rundum-Sorglos-Paket“ bemäkelt wird.
Das Gegroll der Frau Annika Fischer ist der Katzenjammer, der sich immer einstellt, wenn man billigen Sekt getrunken hat. Am 3. Oktober 1990 knallten die Korken, weil man glaubte, fröhlich sein zu müssen, als die alte Tante DDR sich verabschiedete (Annika Fischer hat damals bestimmt mitgeprostet). Nur hat man übersehen, daß damals eben nicht nur die DDR zu Ende ging. Auch die gute alte Bonner Republik ging damals mit zugrunde. Die Bundesrepublik Deutschland, die wir mal kannten, konnte den Fall der Mauer ebenso wenig überleben wie die DDR – sie hat ihn nicht überlebt.
Den Katzenjammer der Leute, die sich mal für die Sieger hielten, will ich nicht hören.
aus DER METZGER 76 (2006)