Ich wollte schon lange mal erzĂ€hlen, wie ich mal den Ostermarsch zum Stillstand gebracht habe. Aber das ist nicht leicht erzĂ€hlt. Es hat etwas mit Kanada zu tun und im weitesten Sinne auch mit Wechselstrom. Ich muĂ also etwas ausholen. Und weil es auch mit Christina zu tun hat, könnte ich â was, zugegeben, das eigentliche Motiv fĂŒr die Niederschrift dieses Berichtes ist â auch Liebeskummer schreibend bewĂ€ltigen (wovon dann allerdings noch reichlich ĂŒbrigbleiben wird). Mit neuem Liebeskummer bin ich in den letzten zweidrei Jahren nicht knapp beliefert worden, und wer schon mal geliebt hat (solche Leute gibt es), der weiĂ, daĂ das ein haltbares Gut ist, und der ahnt, daĂ da noch betrĂ€chtlich BekĂŒmmernis frĂŒherer Lebensphasen wirkt und wĂŒtet. Wer viel geliebt hat und gern geliebt hat und auf den Pfaden der Liebe auch dann weiterwandelte, wenn sie durch unĂŒbersichtliches Gebiet fĂŒhrten, der trĂ€gt was mit sich herum, das können Sie mir glauben. Vielleicht wollen Sie ja auch endlich mal erfahren, warum ich die St.-Johann-StraĂe in Hochfeld nicht ohne einen melancholischen Seufzer entlanggehen kann. Also lesen Sie jetzt bitte diese Geschichte, sonst hat es ja keinen Zweck.
Christina kam aus der Provinz, um hier zu studieren. Sie geriet in mein Blickfeld, weil sie eine Freundin meiner Frau war. Der Freundin der Frau Aufmerksamkeit in mehr als dem schicklichen MaĂe zukommen zu lassen, ist eine Sache, die ich nicht unbedingt jedem empfehle, sondern nur solchen, die âJe ne regrette rienâ zu einem Lebensmotto zu erheben fĂ€hig sind (es kommt natĂŒrlich auch darauf an, mit welcher Frau man zusammenlebt).
Aus der Provinz kommend, war die 20jĂ€hrige blonde Schönheit vom Lebensalltag mitten im bevölkerungsreichsten Ballungsgebiet Mitteleuropas ĂŒberwĂ€ltigt (nicht nur im positiven Sinne). Dieses motherless-child-GefĂŒhl schwand, als sie uns kennenlernte. Wir (meine Frau und ich) machten damals tĂ€glich unseren Uni-BĂŒchertisch, von dem heute noch manche Legende sagt und singt. Christina fand uns und die Dinge, mit denen wir uns beschĂ€ftigten, âunheimlich interessantâ. Sie fĂŒhlte sich geehrt, von uns wahrgenommen und anerkannt zu werden, von Leuten also, die âschon unheimlich langeâ und mit Ernsthaftigkeit eine â wie könnte man sagen â selbstbestimmte, den uneinsehbaren ZwĂ€ngen bĂŒrgerlicher Konventionen trotzende Existenz praktizierten (ich war damals Anfang dreiĂig). Es wĂ€re mir schwergefallen, sie nicht wahrzunehmen, so wie die aussah, und so gescheit wie die war. Sie bewunderte uns. Ich muĂ sagen: Ich habe nur selten einen so wiĂbegierigen und begeisterungsfĂ€higen Menschen erlebt, und auch nur selten einen so mitteilsamen. Sie redete und redete und redete sich alles vom Herzen, was sie gesehen und erlebt hatte und was ihr durch den Kopf ging. Und sie wollte alles erklĂ€rt haben. Dieses blasierte Desinteresse der jeunesse dorĂ©e war ĂŒberhaupt nicht ihre Art.
âErzĂ€hl mir doch mal etwas ĂŒber den Ostermarschâ, wollte sie wissen, oder: âWas ist das: VVN?â
âDas ist die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.â
âWas? Das gibt es? Was ich durch dich alles erfahre! Durch dich gehen mir die Augen auf!â
DaĂ das alles mit Subversion zu tun hatte, mit lustvollem Sich-einfach-ĂŒber-die-Regeln-Hinwegsetzen, machte die Sache fĂŒr sie richtig spannend. Sie konnte sich fĂŒr Politik begeistern, weil sie nicht nur eine notwendige BeschĂ€ftigung ist, sondern auch SpaĂ macht. Aber ein anderes Thema beschĂ€ftigte sie mehr, und das war der Sex. Ich wĂŒrde mal schĂ€tzen: Ăber 80 Prozent ihrer Reden und ihrer GesprĂ€che mit mir handelten vom Sexuellen, und es war auffĂ€llig und nicht uncharmant, daĂ sie die Wörter âsexuellâ und âSexualitĂ€tâ mit scharfem âSâ aussprach. âSexuellâ mit scharfem S klingt sexy.
Es wird wohl so gewesen sein, daĂ ihre plötzliche Begeisterung fĂŒr das linksradikale Milieu von der Annahme herrĂŒhrte, daĂ die linken UmstĂŒrzler die bĂŒrgerliche Sexualmoral hinwegfegen und der reinen Lust den Weg ebnen. Ich dachte: âMĂ€dchen, wenn du dich da mal nicht irrst.â Ich sagte: âDu kannst nicht vom Einzelfall auf das Gesamte schlieĂen.â
Wie fast alle sinnlichen Frauen war sie fĂŒr die Liebreize des eigenen Geschlechts sehr empfĂ€nglich. Aber sie entschied: âIch finde das ungerecht! In Illustrierten, im Kino und in der Werbung sieht man immer schöne Frauen. Das ist ja auch gut so. Das soll ja ruhig so sein. Aber warum sieht man nicht genauso oft schöne MĂ€nner? Ich will nackte MĂ€nner sehen!â
Ich antwortete: âDas hat alles ja mit Rollenbildern und gesellschaftlichen Machtstrukturen und dem ganzen Tralala zu tun. Aber könnte es nicht sein, daĂ â darĂŒber hinaus und davon abgesehen â weibliche Schönheit deshalb in der Darstellung vorherrscht, weil Frauen nun mal das schöne Geschlecht sind?â
âNein!â rief sie entschieden. âMĂ€nner sind auch schön!â Und dabei leuchteten ihre Augen.
Ich durfte mir unentwegt ihre Elogen anhören ĂŒber ihre mĂ€nnlichen Kommilitonen, denen sie eine âgöttlicheâ Gestalt attestierte. âGöttlichâ war einer ihrer LieblingsausdrĂŒcke, und die Gerhard-Mercator-UniversitĂ€t zu Duisburg muĂ wohl â fĂŒr mich zuvor ungeahnt â eine einzige Parade von Adonissen gewesen sein. Ein anderer Lieblingsausdruck war âspannenâ. Sie âbespannteâ die einherflanierenden Kommilitonen ungehemmt, das heiĂt: sie tastete mit Blicken ihre Körperlinien ab und versuchte auch, mit Blicken Signale des EinverstĂ€ndnisses auszusenden.
Ich muĂte sie aufklĂ€ren: âEs freut mich ja, wenn deine Blicke den meinen folgen, wenn ich die Aphroditen und Myrrhinen und Kallipygen betrachte. Aber meine Blicke folgen den deinen nicht ĂŒberall hin. Denn ich bin sowas von unschwul, sowas von hetero, das ist schon fast wieder pervers.â
Sie wollte von mir wissen, wie ein Mann das empfindet, âwenn er Weiterlesen →