Der Künstler sprach: Was wollte ich damit sagen?

„Für deine Art von Humor braucht man eine Gebrauchsanleitung“, sagte meine verehrte Freundin Marita beim Betrachten meiner Karikaturen. „Also, Helmut, für DEINE Art von Humor braucht man eine Gebrauchsanleitung.“
Ich muß zugeben: Mit meinem Vorhaben, meine Karikaturen nach & nach mit Erläuterungen zu versehen (zum Zwecke der Verständlichmachung) habe ich mir zu viel vorgenommen.
Auch in diesem Fall stehe ich wieder ratlos vor meiner eigenen Arbeit:

Seite110Welche Erkenntnis könnte man dieser Zeichnung entnehmen? Was ist das da?
Ein Rekurs auf die gehaßten Friseurbesuche in den Zeiten meiner Kindheit (das laaange Waaarten bis man endlich draaan waaar, und wenn man dran war das Erkennen, wie oft einem die Nase juckt – oder das Ohr)?
Die Erkenntnis, daß auch im Friseurhandwerk zuweilen diplomatisches Geschick gefordert ist („schonend beibringen“), wenn nicht sogar seelsorgerische Fähigkeiten?
Das bemerkenswerte Detail, daß es auch Friseure mit Glatze gibt?
Und warum hat diese Bilddatei die Bezeichnung „Seite110“? Weil dieses Bild in meinem Buch „Wir bleiben im Bahnhof“ auf Seite 110 zu sehen ist.

Vor den Welträtseln kapitulierend flüchte ich mich zu der zwar falschen, aber erlösenden „Erkenntnis“:
„Die Kunst vollendet sich, wenn der Künstler sie selbst nicht mehr versteht.“

Robert Steigerwald: 90 Jahre

RobertSteigerwaldIn der jungen Welt von heute war es zu erfahren: Robert Steigerwald hat Geburtstag. Er wird heute 90 Jahre alt.
Die junge Welt von heute über Robert Steigerwald:
„Den Krieg verhindern war und ist neben der Philosophie eines der Lebensthemen Steigerwalds. Er wurde 1945 Mitglied der SPD, trat aus ihr 1948 wieder aus und in die KPD ein, als ihm der Parteivorsitzende Kurt Schumacher auf eine entsprechende Frage geantwortet hatte, selbstverständlich werde es Krieg geben, und ‚wir‘ würden dann an der Seite der Westmächte gegen die Russen stehen. Steigerwald flog aus dem Hessischen Rundfunk, absolvierte ein Studium an der SED-Parteihochschule, wurde dort Verantwortlicher für Philosophie und kehrte bald in die BRD zurück. Seine Arbeit für die ab 1956 verbotene KPD brachte ihm insgesamt über fünf Jahre Haft ein. Ab 1961 war er in Ostberlin und in Westdeutschland für die illegale Partei tätig, hob die Zeitschrift Marxistische Blätter, deren Chefredakteur er später wurde, 1963 mit aus der Taufe und legte eine viel beachtete Dissertation über ‚Herbert Marcuses dritten Weg‘ vor. Seit 1967 wohnt er mit seiner Familie in Eschborn und wurde in Auseinandersetzungen mit den verschiedensten Trupps linker Antikommunisten, denen er als ‚Gralshüter des Revisionismus‘ galt, ein gefürchteter Polemiker. Seine Hauptarbeit galt, in enger Zusammenarbeit mit Willi Gerns, der darüber am Sonnabend berichtete, den Grundsatzdokumenten der 1968 gegründeten DKP. Gerns und nach ihm der DKP-Parteivorsitzende Patrik Köbele erinnerten an die Würdigung der ‚politischen Zwillinge‘ Gerns und Steigerwald durch die FAZ am 12. Februar 1990 als ‚zwei dieser alten Schlachtrösser‘, die ‚in verstocktem Sinne ehrlich‘ die Ereignisse in der DDR als ‚konterrevolutionären Prozess‘ bezeichneten.“
Daß man mit solch einer Haltung „keinen Blumentopf gewinnen kann“, mag schon sein. Aber was soll ich mit lauter Blumentöpfen? Mir gefallen die verstockt-ehrlichen Schlachtrösser, die verstockten, denen man einen Vorwurf bestimmt nicht machen kann: die Zeichen der Zeit „erkannt“ zu haben! Daß die wendigen Meister des Taktierens auf der Höhe der Zeit mit ihren angesagten Stichwörtern sich ihre Schlauheit bloß einbilden, erlebt man gerade dieser Tage wieder.
Daß dem „verstockten Gralshüter“ Starrheit zu Unrecht nachgesagt wird, dafür ist Robert Steigerwals ein eindrucksvolles Beispiel. Wer Vorträge von ihm gehört hat, hat einen quicklebendigen Denker, einen reaktionsschnellen Wortkünstler, ja man kann sagen: einen Entertainer der Theorie erlebt. Er vermittelt den dialektischen Materialismus als fröhliche Wissenschaft (anders wäre er wohl auch kaum zu ertragen).
METZGER-Lesern (und -Sammlern) ist Robert Steigerwald ja auch nicht unbekannt. Meinen Aufsatz „Gegen die Objektiven“ (DER METZGER Nr. 84) habe ich mit Zitaten gestützt – es ist ja nicht schlimm, wenn Zitate mitunter mehrere Seiten lang sind. Es ging damals darum, die These, derzufolge der Feind meines Feindes mein Freund sein müsse, zu widerlegen.
Daß auch ein Roman in der Bibliografie zu finden ist, paßt: Das Haus im Sandweg. Eine sozialistische Familienchronik. Verlag Neue Impulse 2008. 628 S. 24,95 Euro. Nur bei uns: Buchhandlung Weltbühne.

Warum überhaupt?

Bild150305„Warum ausgerechnet jetzt“?
Warum überhaupt?
Was fällt der Bildzeitung ein, mich in anderer Leuts Privatangelegenheiten einzumischen?

In der WAZ las ich am selben Tag (vorgestern) über die „Affären“ auch anderer Politiker – und es regt sich da & dort Mitgefühl mit den „betrogenen“ Gattinnen.
Ich glaube kein Wort.
Die moralischen Aufpasser kennen nämlich gar kein Mitgefühl. (Höchstens mit sich selbst).
Das „Mitgefühl“ von Spießbürgern mit „betrogenen“ Gattinnen ist bloß vorgeschoben, ebenso wie das „Mitgefühl“ mit den armen Jungens, die der Edathy sich auf Fotos angeguckt haben soll.

Ist es nicht eher Neid?
„Unsereinz reißt sich zusammen, un die? Die tun einfach watze wollen“, schallt der Ruf des Entrüsteten, der das, was er selber täte, wenn er könnte, wenn er dürfte, was er wollte, in sich selber niederringt. Die Freiheit von uneinsehbaren Zwängen kann er sich sowieso nur als Schweinigelei vorstellen. Das notorische Mißtrauen des Spießbürgers ist berechtigt – sofern er sich selbst nicht über den Weg traut.

Kein Mitgefühl wurde da jemals zuteil denen, die dem Faschismus an der Macht zum Opfer fielen – oder Kindern ganz normaler angepaßter deutscher Eltern – oder denen, auf die Realpolitiker nun mal keine Rücksicht nehmen können.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Unrechtsstaat

Ich spreche noch nicht einmal
– von Rechtsbeugung und Rechtsbruch im Kalten Krieg im Inneren,
– von Sondergesetzen im Deutschen Herbst,
– vom völkerrechtswidrigen Einsatz der Bundeswehr,
– von der chronique scandaleuse des Verfassungsschutzes (Urbach, Schmücker, Traube, Celler Loch etc.),
– von Hilfeleistungen für Nazis durch Verfassungsschutzämter.

Unzählige Personen, die als Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte und in sonstigen Funktionen dem Naziregime gedient haben, die sich der Verfolgung und des Mordes schuldig gemacht haben, wurden im Staatsapparat der Bundesrepublik Deutschland wieder verwendet: als Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte und in sonstigen Funktionen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat das Erbe des Naziregimes nicht ausgeschlagen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat das Erbe des Naziregimes angetreten.
Die Schuld an Verfolgung und Mord, begangen von wiederverwendeten Dienern des Naziregimes, hat sich auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen.

„Zum Verwechseln ähnlich“

„Das absurde Theater ist eine Richtung des Theaters des 20. Jahrhunderts, die die Sinnfreiheit der Welt und den darin orientierungslosen Menschen darstellen will.“ (Wikipedia). Einige der eindrucksvollsten Aufführungen fanden nicht auf Theaterbühnen, sondern in Gerichtssälen statt, wo die Sinnfreiheit von Anklageschriften orientierungsloser Staatsanwälte dargestellt wurde. So auch dieser Tage in Berlin.
Vor dem Amtsgericht Tiergarten sind seit dem 2. April Michael W. (39) und German L. (29) angeklagt, am 13. August 2012 bei einer Gedenkveranstaltung zum Tag des Mauerbaus in der Bernauer Straße mit FDJ-Hemden demonstriert zu haben. Das Emblem auf diesen Hemden war nach Ansicht der Staatsanwaltschaft dem Wappen der „FDJ in Westdeutschland“ zum Verwechseln ähnlich. Und diese Organisation sei 1951 als verfassungswidrige Organisation verboten worden.
Doch die Sache ist komplizierter.
Die Freie Deutsche Jugend, 1938 im Exil in Prag und Paris gegründet, dann bis 1946 in Großbritannien aktiv, war nach Zerschlagung des Hitler-Faschismus in den vier Besatzungszonen tätig – also vor der Gründung der beiden deutschen Staaten. In der DDR wurde die FDJ dann zur „Staatsjugend“ (wo sie mit einer eigenen Fraktion in der Volkskammer vertreten war), während sie in der BRD 1951 verboten wurde. Das Verbot wurde durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts 1954 rechtskräftig. An dieser Entscheidung waren – wie kann es anders sein – ehemalige Nazirichter beteiligt. Grund des Verbotes war der Widerstand der FDJ gegen die Remilitarisierung.
Im Neuen Deutschland wurde die komplizierte Lage so zusammengefaßt:
„Und dann gibt es da noch den feinen Unterschied zwischen FDJ-West und FDJ-Ost. Das FDJ-Verbot West gilt auch nach der Einheit bis ans Ende der Menschheit weiter, gilt aber nur für die alten Bundesländer, nicht für die hinzugekommenen. Was also zeigten die Angeklagten: das Emblem Ost oder das Emblem West, beide zum Verwechseln ähnlich. Das eine nicht erlaubt, das andere nicht verboten. Wo befanden sich die FDJler bei ihrer Aktion? In Ost oder West? Traten sie der verbotenen FDJ-West bei oder der nicht verbotenen FDJ-Ost? So richtig klar mit diesem bundesdeutschen Paragrafenwirrwarr schienen weder Staatsanwalt noch Richter zu kommen.“
Die Anwältin von Michael W. legte dem Richter drei FDJ-Symbole vor. Der Richter sollte sagen, welches Symbol zu der 1951 verbotenen westdeutschen FDJ, welches zu den nicht verbotenen Organisationen in Ostdeutschland und Westberlin gehören. Der Richter konnte das Rätsel auch nicht lösen. Denn alle drei Symbole ähneln sich nicht nur. Sie sind identisch.
Der Prozeß wird am 15.4. fortgesetzt.
Bei aller Komik sollte der ernste Hintergrund nicht unterschätzt werden. Michael W. und German L. erklärten dem Gericht, warum sie zur FDJ fanden und radikale Friedenspositionen einnehmen. Sie sehen die Gefahr, daß sich die Bundesrepublik immer tiefer in Kriegsabenteuer verstrickt und demokratische Strukturen immer weiter abgebaut werden. „Man mag ihre Auffassung teilen oder nicht, auf jeden Fall ist sie durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt.“ (Neues Deutschland). Der Staatsanwalt hat die bösen Geister des Kalten Krieges geweckt. Es ist – wieder einmal – sichtbar, daß die Schande der deutschen Justiz 1945 nicht endete.

P.S.: Der Mann, der sich am 13. August 2012 über das FDJ-Symbol echauffierte, die Polizei alarmierte und die ganze Posse in Gang setzte, trug übrigens einen „Schwerter-zu-Pflugscharen“-Button.
Freie_Deutsche_Jugend.svg
Wie auf den ersten Blick zu erkennen ist, handelt es sich bei diesem bei Amore e Rabbia sichtbar gemachten Emblem nicht um das Emblem der 1951 verbotenen FDJ.

Sittlichkeit und Kreativität

In früheren Zeiten, als es noch sittlicher zuging als heute, waren die Erschwernisse, Filme in einem Lichtspieltheater zu sehen, entsprechend größer.

FSK_ab_18Filme waren damals schon, wie heute, ab 6, 12, 16 und 18 Jahren freigegeben. Manche Filme aber waren „freigegeben ab 21 Jahre“ (das war der Fall bei „nackter Busen sichtbar für eine Sekunde“).
Für scharfe Filme gab es eine Freigabe ab 35 Jahre.
Die besonders scharfen Filme waren erst ab 65 Jahre freigegeben.
Und in die ganz besonders scharfen Filme durfte nur noch Tilla Durieux reingehen.
Aber nur in Begleitung von Adenauer.

Aus der Geschichte der Musik: Der Gartenoffizier oder An der Theke ist der schönste Klatz

Schon in frühen Kindertagen stellte sich heraus, daß ich sehr musikalisch bin. Gerade des Sprechens fähig, schmetterte ich mit lauter Stimme, was ich im Radio gehört hatte: „Man müßte nochmal zwanzig sein“, „Der schönste Klatz ist immer an der Theke“ und „Das machen nur die Beine von Dolores, daß die Senores nicht schlafen gehen“. Unter einer Dolores konnte ich mir ebenso wenig vorstellen wie unter Senores,.
Meine Musikalität fiel auf. Ich mußte immer meine Tanten unterhalten mit „La Poloma ohé“ und „O Sohle mio“ und erntete Beifall dafür.
Das Radio war ein Zauberkasten. Die Radio-Fritzen setzten wohl jeden Tag eine Melodienfolge von Ralph Benatzky ins Programm. Hätten sie sich klar gemacht, daß der Komponist des „Weißen Rößl“ von den Nazis verfolgt worden war, hätten sie es vielleicht nicht getan. Aber so hörten wir immer wieder „Mein Mädel ist nur eine Verkäuferin in einem Schuhgeschäft mit 80 Franc Salair in der Woche, doch sie gibt mir für viele Millionen Glück“ beziehungsweise „Es muß was Wunderbares sein, von dir geliebt zu wärdän, denn meine Liebe die ist dein, solang ich leb‘ auf Ärdän. Ich kann nichts Schöneres mir dänkän, als dir mein Herz zu schänkän“ beziehungsweise „Ich lade Sie ein Fräulein zu einem Glas Wein Fräulein, zu einem Glas Sekt Fräulein, zu einem Glas Punsch“.
Ich stelle mir das gerade vor, was der Tenor mit dem Fräulein anstellt: Erst ein Glas Wein. Dann ein Glas Sekt. Dann ein Glas Punsch. Die muß alles durcheinander trinken, was man doch gar nicht soll.
„Dann kommt das Desseeeert.“ – „Und was kommt nachheeeeer?“ – „Dann lad ich Sie ein Fräulein zu einem Glas Wein Fräulein, zu einem Glas Sekt Fräulein, zu einem Glas Punsch“ – das ganze nochmal von vorn, ist der Mann denn bescheuert?
Ein Schlager, den man in den 50er Jahren oft hörte, zeigte die ganze Dramatik des Geschlechtslebens im Angestellenmilieu in Zeiten des Wirtschaftswunders:
„In einer kleinen Konditorei da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee. Du sprachst kein Wort kein einziges Wort, und ich wußte sofort, daß wir uns verstehn. Und das elektrische Klavier das klimpert leise eine Weise von Liebe Leid und Weh. In einer kleinen Konditorei da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee.“
Das muß man sich mal vorstellen: Die einzige Verständigungsbasis ist die Stummheit. Denn sie sprach kein Wort kein einziges Wort, und er wußte sofort, daß sie sich verstehen. Sobald sie ein Wort sagt, verstehen sie sich nicht mehr. Aber an diesen Sonntagnachmittag im weißen Hemd (er) und mit Hütchen auf dem Kopf (sie) werden sie sich ihr Leben lang erinnern – es war der Höhepunkt. Zum Kuchen trinken die Tee! Die halten auf sich und sind zu Opfern bereit. Gewöhnliche Proleten wie wir trinken ordinären Kaffee.
Zum Glück verstand ich damals nicht, was die sangen. Welcher Schaden hätte in der Kinderseele entstehen können, wenn sich dort die Vorstellung eingeschlichen hätte, die Liebe fände keinen besseren Platz als den in einer kleinen Konditorei, in der ein elektrisches Klavier eine Weise von Liebe Leid und Weh leise klimpert. Dem aufkommenden Rock and Roll begegnete Peter Alexander mit dem Vers: „Damit haben Sie kein Glück in der Bundesrepublik. Wir tanzen lieber Tango.“
Nein, ich blieb von dem verschont, was sie meinten. Mißverständnisse schützten meine Seele. Man spielte oft im Radio aus dem „Weißen Rössel“: „Im Salzkammergut da kann man gut lustig sein“. Vom Salzkammergut wußte ich nichts, und so verstand ich: „Im Salz kann man gut, da kann man gut lustig sein.“ Ich stellte mir Leute vor, die im Keller in mit Salz gefüllten Fässern sitzen, mit dem Kopf aus dem Salz rausragen und sich angeregt unterhalten. Was für eine Musik, die erst im falschen Verständnis ihre Sprengkraft entfaltet!
Man spielte im Radio auch oft den Schlager von Robert Stolz: „Leb wohl, mein kleiner Gardeoffizier, leb wohl, leb wohl und vergiß mich nicht und vergiß mich nicht!“ Unter einem Gardeoffizier konnte ich mir nichts vorstellen, und so verstand ich „Gartenoffizier“. Ich glaubte, es seien Gartenzwerge oder so etwas ähnliches gemeint. So war mir durch dieses Musikstück mehr klargeworden als es dem Urheber lieb sein konnte.

Sagen Sie mal: Bumm!

Das rheinländische Volksgut, das sich vornehmlich im Monat Februar unüberhörbar vernehmen läßt, hat zahlreiche Reflexionen über das Leben im allgemeinen sowie über die Wahrnehmung politischer und gesellschaftlicher Umstände hervorgebracht.
Der Vorbereitung der Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland diente die Bildung der Trizone. Der Blaskapellen-Chansonier Karl Berbuer dichtete und komponierte ganz in der Art des Nachkriegs-Fatalismus einen Gassenhauer mit dem Titel „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“.
Ich zitiere:
„Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien. Heideschimmela schimmela schimmela schimmela bumm!“
Ich muß sagen: Hier hat einer gewirkt, der über einen großen sprachschöpferischen Radius verfügt! Das muß ich neidlos anerkennen. Über sprachliche Ausdrucksmittel doch nun wirklich nicht in geringem Maße verfügend, muß ich zugeben: Ich hätte höchstens so etwas wie „trallala“ hervorgebracht. Wie aber kommt man auf „schimmela schimmela“? Wo holt man das her? Haben Sie schon mal den Ausdruck „schimmela“ beziehungsweise „heideschimmela“ in einem anderen Zusammenhang gehört oder gelesen? Hier hat einer gedichtet und sich dabei nicht damit begnügt, aus dem Fundus der vorgefundenen Sprache zu schöpfen. Er hat etwas Neues geschaffen. Heideschimmela.
Es gibt in dem Bereich, wo gesprochene Sprache und erklingende Musik aufeinandertreffen, eine Vielzahl bemerkenswerter wortähnlicher Sprachpartikel, wie etwa das bereits zitierte „trallala“ (oder „lalala“), womit wohl der Gesang als solcher verbalhornt wird. Walther von der Vogelweide arbeitete „tirili“ und „tanderadei“ in seine Dichtung ein, was wie Flöte und Geige klingen sollte. Aber was klingt so, daß man es mit „schimmela“ umschreiben könnte? Wenn man Topfdeckel in großer Zahl aufeinander türmt und dieser Turm dann ineinandersinkt, könnte ein Geräusch entstehen, das wie „schimmela“ klingt.
Aber was hat das mit der Trizone und der Gründung der Bundesrepublik zu tun?
Das Wort „Heidewitzka“, mit dem man den Herrn Kapitän des Möllemer Bötchens anspricht, ist ebenfalls ein seltsamer Ausdruck.

Religion

Die Grundschule hieß, als ich sie besuchte, noch „Volksschule“: in den 50er Jahren. Das war natürlich eine Konfessionsschule. Als Siebenjähriger empfing ich erste Unterweisungen in der katholischen Religion.
Das interessierte mich alles lebhaft. Aber manchmal hatte ich mit theologischen Fragen doch so meine Schwierigkeiten.
Einmal wandte ich mich an den Kaplan de Pöhl:
„Gott weiß doch alles auch schon vorher, nicht?“
„Ja.“
„Aber dann hat Gott doch auch schon vorher gewußt, daß Adam und Eva sündigen.“
Ein siebenjähriges Kind hatte Gott dabei erwischt, wie er so tat als wüßte er von nichts. Der Kaplan strich mir übers Haar. „Ein Intellektueller!“ dachte er bestimmt. Dann sprach er zu mir ein paar Glaubensworte, denen der Siebenjährige nichts entgegensetzen konnte, die ihn aber auch nicht überzeugten. Dem Kaplan (dem eine große Karriere in der Kirche bevorstand) war in weitaus größerem Maße als mir bewußt, welche Ungeheuerlichkeit sich da zutrug: Daß da einer den ewigen Glaubensdingen beikommen wollte mit Logik! Ja, sogar noch mit kritischer Logik! Aber der junge Kaplan war weise genug, der satanischen Logik mit einem milden Lächeln zu begegnen. Denn er hatte die Gewißheit auf seiner Seite, die sich hinter dem milden Lächeln verbarg: „Du bist ja noch so jung, mein Kind. Diese kritischen Fragen, die werden wir dir noch beizeiten abgewöhnen. Dafür sind wir ja schließlich da.“ Wer den weiteren Verlauf meines Lebens kennt, der lernt, daß die Gewißheiten eines Kaplans manchmal auch trügerisch sein können.

Volksschule Duisburg-Buchholz

Volksschule Duisburg-Buchholz

Biblische Geschichte hatten wir bei Fräulein Tischer, 23 Jahre alt. Die brachte ich gleich zweimal durch das Berühren theologischer Grundsatzfragen in arge Verlegenheit.
Fräulein Tischer wollte uns auf anschauliche Weise klarmachen, daß Jesus, bevor er als Erlöser tätig wurde, ein ganz normales Kind gewesen sei, so wie wir. Überhaupt sei bei Mariaundjosefs alles ganz alltäglich zugegangen. Als die Familie von Bethlehem nach Nazareth zurückgekehrt war, habe auf den Möbeln soo dick der Staub gelegen, berichtete sie uns. Das Bild der Muttergottes mit Schrubber und Aufnehmer hat sich mir eingeprägt. Und Jesus – nun, der hätte mit den anderen Kindern Indianer gespielt.
Ich meldete mich.: „Frollein?“
„Ja?“
„Der kann doch gar nicht Indianer gespielt haben.“
„?“
„Amerika war doch noch gar nicht entdeckt.“
Fräulein Tischer antwortete nicht. Sie wußte nicht, was sie hätte sagen sollen. Ich für mein Teil hatte übrigens nicht den geringsten Zweifel, daß Jesus als Gottessohn die Existenz eines noch nicht entdeckten Kontinents durchaus bekannt war. Aber ich hielt Jesus doch für so klug, daß er Gleichaltrigen gegenüber mit seinem Wissen hinterm Berge hielt. Oder hätte er denen vielleicht sagen sollen: „Wir spielen jetzt Ureinwohner eines Erdteils, der in knapp anderthalb Jahrtausenden entdeckt werden wird“? Die hätten doch gesagt: „Mit dem spielen wir nicht mehr!“
Fräulein Tischer versuchte auch, uns die Arche Noah zu erklären. Auf seine Arche nahm Noah von jeder Tierart zwei Exemplare mit: ein Männchen und ein Weibchen.
Ich meldete mich. „Frollein?“
„Ja?“
„Hat der von allen Tieren welche mitgenommen?“
„Ja.“
„Von allen?“
„Ja.“
„Auch Fische?“
Fräulein Tischer schnappte nach Luft. Schließlich fiel ihr die Antwort ein: „Dafür hatten sie Eimer mitgenommen.“
Ich setzte mich wieder hin. Ich war enttäuscht. Fräulein Tischer hatte den Sinn meiner Frage nicht verstanden. Es beunruhigte mich, von einer Lehrerin unterrichtet zu werden, der es an Einsicht ermangelte von der völligen Überflüssigkeit des Unterfangens, Fische vor dem Ertrinken zu retten.

Schwarzgrün?

In Hessen entsteht wohl eine schwarzgrüne Landesregierung, die durchaus zum Modell einer schwarzgrünen Koalition auf Bundesebene werden könnte – dann nämlich, wenn die CSU/CDU/SPD-Koalition letztlich am Mitgliedervotum der SPD scheitern sollte. Zwar haben es die SPD-Mitglieder so an sich, (und sei es zähneknirschend und unter weiterem Verlust von Enthusiasmus) den Anordnungen ihrer Anführer überallhin zu folgen. Aber die Sozialdemokraten 2013 haben nichts mehr zu verlieren und könnten … Naja, ist nur so‘n Gedanke.
Meinen Kommentar zur schwarzgrünen Bundesregierung habe ich schon 1995 geschrieben. Auszug:

Die Feierlichkeiten zum Zusammenwachsen des in einen Topf Gehörenden wären nicht komplett, wenn nicht auch das taz-grüne Milieu seinen Senf dazugegeben hätte:
„Noch vor zehn Jahren bügelten die Nachgeborenen die Berichte ihrer Eltern über Flucht und Vertreibung als politisch unkorrekt ab. Ihre Erzählung über Vergewaltigung, Mord und Totschlag schienen einer Generation, die gerade erst entdeckt hatte, daß ihre Eltern Täter waren, peinliche Lappalien zu sein im Verhältnis zu dem, was die Deutschen der halben Welt antaten. Jede Erzählung, die nicht mit deutscher Schuld begann, galt als neuerlicher Beweis für Verdrängung und Relativierung. In diesen Monaten aber hörten die Enkel den Großeltern zu, und die durch Lebenserfahrung und Wissen milder gewordenen 68er kramten in Tagebüchern und Fotoalben, ohne gleich zu moralisieren. Dieses Niveau ist nicht rückgängig zu machen.“ (Anita Kugler in der „Taz“).
Wieviel Lebenslüge doch in ein paar Zeilen paßt – und wieviel sich durch falsches Deutsch entlarvt. Wo sie sagen wollte „…was die Deutschen der halben Welt angetan hatten“, verwechselt sie die Tempi und sagt versehentlich etwas Wahres. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung wird nachträglich verniedlicht zum Mißverständnis zwischen den Generationen, von denen die eine nur aus Flüchtlingen und Vertriebenen, die andere nur aus „68ern“ besteht. Als hätte es junge Chauvinisten und ältere Widerstandskämpfer nicht gegeben. Wer eine solche Lesart der Zeitgeschichte auftischt, sollte wenigstens darauf achten, daß nicht innerhalb weniger Sätze Eltern zu Großeltern und Kinder zu Enkeln mutieren. „Die Nachgeborenen“ bezieht sich wohl weniger auf Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“, wohl mehr auf Kohls „Gnade der späten Geburt“, von der diese Nachgeratenen nun auch etwas abhaben wollen.
Jetzt erfahren wir auch, wodurch die sogenannten „68er“ geworden sind, was Anita Kugler „milder“ nennt: „durch Lebenserfahrung und Wissen“.
Sie konnten sich immer schon gut verstellen, die verlorenen Söhnchen und Töchterchen, die jetzt mit der Taz unterm Arm heimgekehrt sind. Früher taten sie sich groß, ihrem Verdruß über ihre mißratenen Eltern den Anschein politischer Haltung zu geben. Jetzt tarnen sie ihren Opportunismus als Lebenserfahrung und Wissen. Dabei nehmen sie ihre Haltung wider besseres Wissen ein. Aber es ist ja gerade nicht das bessere Wissen, das da gemeint ist, nicht das Wissen von und über etwas. Es ist das geheimnisumwitterte „Wissen um…“, das zur Attitüde der Abgeklärtheit gehört.
Durch erworbenes Wissen und Lebenserfahrung gar nicht milder geworden, stelle ich fest: die haben sich überhaupt nicht geändert, jene „68er“, die ohne zu moralisieren in Fotoalben blättern. Sie verstehen es nur mal wieder, im richtigen Moment die richtigen Sprüche aufzusagen. Diese sogenannten „68er“ haben ihren Eltern verziehen, und hinter dieser Pose der Großherzigkeit steckt nichts anderes als das Begehren, beim Aufstieg Deutschlands nicht abseits zu stehen. Dazu bedurfte es keines Bruchs ihrer Identität.
Daß die Mainstream-“68er“ nach „Sieg im Volkskrieg“ und „Macht kaputt was euch kaputtmacht“ jetzt die Kurve gekriegt haben hin zu schwarzgrüner Option, „ökologischer Marktwirtschaft“, „Politikfähigkeit“ und vaterländischer Opferbereitschaft, ist nicht das Resultat der deutschen Einheit. Die Niederlage des realen Sozialismus hat diese Entwicklung allerdings verstärkt und beschleunigt. An der Konstruktion gegenwärtiger Machtpolitik hat diese Ex-Linke mitgewirkt. Sie hat in ihrer Klamottenkiste, die sie durch die Weltgeschichte schleppt, genügend Zeugs gesammelt, mit dem man auf dem Weg nach oben gut gerüstet ist.
Die „Kritik“ am realen Sozialismus diente angeblich dazu, den wirklichen, authentischen, „echten“ Sozialismus herauszuarbeiten, in Wirklichkeit aber, den diskreditierten Antikommunismus des Establishments rundzuerneuern. Auf diesen Kern beschränkten sich die Alterativen in den 80er Jahren. Sie hörten pünktlich damit auf, ihre Parolen vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ herumzuposaunen. An die Stelle dieser idealistischen Phrase trat eine „Menschenrechtspolitik“, die sich von der Linie der CDU nicht mehr unterschied. Schwarzgrün gibt es schon lange.

kaffeemannaus „Sie müssen mich gern haben“ in DER METZGER 49 (1995), enthalten in „Streiten Sie nicht mit einem Deutschen, wenn Sie müde sind“ 21 Polemiken, Situationspresse 2001 ISBN 978-3-935673-15-0, beide noch erhältlich.

Ein Appell gegen die Kriminalisierung der Sexualität

Ein Appell gegen die Kriminalisierung der Sexualität,
gegen den Amoklauf der Moral,
gegen rechte Phrasen und das „Gesunde Volksempfinden“,
gegen konservativen Pseudo-Feminismus, gegen Alice Schwarzer
gegen die Rückkehr in die 50er Jahre.

Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistung
Für die Stärkung der Rechte und für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen in der Sexarbeit
Dienstag, 29. Oktober 2013

Prostitution ist keine Sklaverei. Prostitution ist eine berufliche Tätigkeit, bei der sexuelle Dienstleistungen gegen Entgelt angeboten werden. Ein solches Geschäft beruht auf Freiwilligkeit. Gibt es keine Einwilligung zu sexuellen Handlungen, so handelt es sich nicht um Prostitution. Denn Sex gegen den Willen der Beteiligten ist Vergewaltigung. Das ist auch dann ein Straftatbestand, wenn dabei Geld den Besitzer wechselt.
Prostitution ist nicht gleich Menschenhandel. Nicht nur Deutsche, sondern auch Migrant_innen sind überwiegend freiwillig und selbstbestimmt in der Sexarbeit tätig. Prostituierte, egal welcher Herkunft, pauschal zu Opfern zu erklären, ist ein Akt der Diskriminierung.
Obwohl Prostitution im Volksmund als das älteste Gewerbe der Welt gilt, ist sie in den wenigsten Ländern als Arbeit anerkannt. Im Gegenteil, Sexarbeiter_innen werden in den meisten Teilen der Erde verfolgt, geächtet und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Deshalb fordern Sexarbeiter_innen weltweit die Entkriminalisierung der Prostitution und ihre berufliche Anerkennung.
Diesen Gedanken verfolgte auch die Bundesrepublik mit der Einführung des Prostitutionsgesetzes im Jahre 2002. Durch die rechtliche Anerkennung hat sich die Situation für Sexarbeiter_innen in Deutschland verbessert. Sie können ihren Lohn einklagen und haben die Möglichkeit, sich zu versichern. Außerdem ist die Schaffung angenehmer Arbeitsbedingungen und Räumlichkeiten nicht mehr als „Förderung der Prostitution“ strafbar. An den Rechten der Polizei, Prostitutionsstätten jederzeit zu betreten, hat das Gesetz nichts geändert. Die Zahl der Razzien hat seitdem zugenommen.
Zwar hat das Prostitutionsgesetz Schwächen und eine Reform wäre notwendig. Das Hauptproblem ist jedoch nicht das Gesetz selbst, sondern der fehlende Wille zu seiner Umsetzung in den einzelnen Bundesländern.
Entgegen vieler Behauptungen ist das Prostitutionsgesetz nicht für den Menschenhandel in Deutschland verantwortlich. Wie aus dem Lagebericht „Menschenhandel“ des BKAs hervorgeht, hat die Zahl der identifizierten Opfer seit seiner Einführung sogar abgenommen. Auch in Neuseeland, wo Prostitution seit 2003 als Arbeit anerkannt ist, ist keine Zunahme des Menschenhandels zu verzeichnen.
Zu den Faktoren, die Menschenhandel begünstigen, zählen globale Ungleichheiten, restriktive Migrationsgesetze sowie die Rechtlosigkeit der Betroffenen. Eine erfolgreiche Bekämpfung von Menschenhandel erfordert umfassende strukturelle Reformen auf globaler Ebene und einen menschenrechtsbasierten Ansatz.
Eine Kriminalisierung der Kund_innen, die erotische Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ist zur Lösung dieser Probleme ungeeignet. Das sogenannte „Schwedische Modell“ hat zwar die sichtbare Straßenprostitution verdrängt, aber weder die Prostitution an sich, noch den Menschenhandel nachweislich reduziert. Die Arbeitsbedingungen haben sich indes extrem verschlechtert. Dänemark und Schottland lehnen die Einführung des „Schwedischen Modells“ bereits ab.

Darum fordern wir:
Beteiligung von Sexarbeiter_innen an politischen Prozessen, die sich mit dem Thema Prostitution befassen.
Keine Ausweitung der Polizeibefugnisse und keine staatliche Überwachung oder Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten.
Keine Kriminalisierung der Kund_innen, weder nach dem Schwedischen, noch nach einem anderen Modell.
Aufklärung statt Zwang und Verbot, staatlich geförderte Weiterbildungsangebote für Sexarbeiter_innen.
Kampagnen gegen Stigmatisierung und für einen respektvollen Umgang mit Prostituierten.
Bleiberechte, Entschädigungen und umfassende Unterstützung für Betroffene von Menschenhandel.

Liste der Unterzeichnerinnen und weitere Stellungnahmen bei sexwork-deutschland.de

Vom Löschen des Durstes

Das Fußballspiel zwischen dem Duisburger Spielverein und Eintracht Gelsenkirchen im Wedaustadion, Zweite Liga West, Saison 1962/63, sah ich gemeinsam mit meinem Cousin und meinem Onkel. Ein spannendes Spiel übrigens, das letzte der Saison. Der Gewinner würde in die neugegründete Regionalliga aufsteigen, der Verlierer in die Amateurklasse absteigen. Es ging ruppig zu auf dem Spielfeld, drei Platzverweise, Duisburg gewann 2:1.
In der Halbzeitpause wurde ich auserkoren, drei Coca zu holen. Coca Cola. Mittlerweile bezeichnet man die coffeinhaltige Brause als „Cola“. Damals sagte man zu dem braunen Erfrischungsgetränk schlicht „Coca“, was die konkurrierenden Marken Afri Cola und Pepsi Cola ins Hintertreffen brachte.
Drei Coca also. Man bekam sie an einem Getränkestand für ein paar Groschen, abgefüllt in kleinen Fläschchen aus Weißglas, mit Pfand, wie sich das gehört.
Um den Getränkestand herum standen viele Männer, die alle finster dreinblickten, weil es ja ein spannendes Fußballspiel war. Auch der Getränkemann schaute finster. Viele waren vor mir dran, und ich mußte warten, bis sie alle ihr Getränk bekommen hatten. Es gab nicht nur Cola, sondern noch was anderes.
„Wat willz du?“
„Ne Fanta.“
„Un wat kriss du?“
„Ne Coca – ach nä, gib ma lieber auch ne Fanta.“
Der nächste. „Coca oder Fanta?“
„Ach, gib ma ne Fanta.“
„Fanta“ hörte und sah ich an diesem Tag überhaupt zum ersten Mal. Das mußte wohl sowas ähnliches wie „Bluna“ sein, eine Orangenlimonade. Die Fantafläschchen, genauso groß wie die Colafläschchen, waren bräunlich und ließen darin eine orangefarbene kohlensäurehaltige Flüssigkeit vermuten. Und diese Limonade gewann hier in Windeseile das Wohlgefallen der um ein Erfrischungsgetränk Anstehenden.
„Ach, gib ma keine Coca, gib ma lieber ne Fanta.“
Fanta war der Bestseller des Tages.
„Coca? Nä, laß ma. Gib ma ne Fanta.“
„Nää! Immer dat Coca-Zeug! Gib ma ne Fanta!“
„Richtig!“ rief einer. „Gib ma ne Fanta.“
Irgendwann war ich an der Reihe. Und ich bestellte:
„Drei Coca.“
Alle drehten sich nach mir um. Was war geschehen? Da hatte doch so’n 13jähriger Lümmel am Getränkestand tatsächlich drei Coca Cola bestellt! Wo doch all die deutschen Männer sich gefunden hatten, um tapfer entschlossen zu sein, Fanta zu trinken, weniger um ihren Durst zu löschen, sondern um nicht Coca zu trinken!
Ich, mit der ganzen Schlichtheit meines Gemütes, fand mein Verhalten gar nicht ungewöhnlich. Ich kaufte ein Produkt, das hier angeboten wurde. Ich war in der dezidierten Absicht hierhergekommen, drei Cola zu kaufen, und in dem allgemeinen Aufwallen einer Stimmung sah ich keinen Anlaß, mein Kaufbegehren zu revidieren. Ich tat nichts anderes als das, was ich mir vorgenommen hatte, ohne Rücksicht darauf, daß über die anderen etwas gekommen war, was mir, das spürte ich deutlich, als Fehlverhalten angekreidet wurde, ein „Fehler“ übrigens, den ich im Laufe meines Lebens immer wieder beging.
Ich bekam auch meine drei Coca Cola, niemand legte dagegen Einspruch ein, aber ich meinte, ein unzufriedenes Brummen zu vernehmen. Mit drei Flaschen in zwei Händen bahnte ich mir den Weg durch die Umstehenden, deren Seitenblicke ich als bedrohlich empfand. Ich übertreibe nicht. Immerhin war ich inmitten entschlossener Coca-Verschmäher aus der Reihe getanzt.
Ich hatte, wie auch später in meinem Leben immer wieder, mich von einer nationalen Aufwallung nicht mitreißen lassen, die an jenem Tage Gestalt fand darin, daß deutsche Männer sich dem Zwang widersetzen, nach dem verlorenen Krieg Coca Cola trinken zu müssen. Meine Treue zu der coffeinhaltigen Brause bestätigte den Argwohn, daß mit der „Jugend von heute“ kein Krieg zu gewinnen sei, was – zumindest in meinem Fall – ja auch stimmte und immer noch stimmt.
Die Nachgeborenen werden das kaum verstehen, aber so war das damals wirklich. Es war die Zeit, in der Straßenbahnschaffner nicht Bedienstete eines Dienstleistungsunternehmens waren, sondern zur Obrigkeit gehörten. Der Erwerb einer Eisenbahnfahrkarte nach Kassel war gleichbedeutend mit dem Ersuchen an den Staat, nach Kassel reisen zu dürfen.
In einer Straßenbahn erlebte ich, wie der Schaffner mit seiner Losung „Noch jemand ohne Fahrschein?“ durch den Waggon patrouillierte und einen bestimmten Fahrgast eines Staatsverbrechens verdächtigte: „Hast du einen Fahrschein?“ Dieser Fahrgast, der in jener Zeit die Unverfrorenheit besaß, 15 Jahre alt zu sein, zeigte frohgemut seinen gültigen Fahrschein vor. Daraufhin der Schaffner: „Da hast du aber gerade nochmal Glück gehabt.“
Wem nichts vorzuwerfen war, der hatte „gerade nochmal Glück gehabt“.
Ich habe das erlebt: Ich saß in der Straßenbahn. Es regnete. Die Bahn hielt an einer Haltestelle, wo ein paar Leute in dem Wartehäuschen sich untergestellt hatten. Der Schaffner herrschte die Leute in dem Wartehäuschen an: Sie sollten entweder einsteigen oder weggehen. Das Wartehäuschen ist nicht für alle da, sondern nur für die Leute, die auf die Bahn warten. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder einfach…
Ich habe das erlebt: Ich stand am Schalter im Postamt. Vor mir war einer dran, der wollte 100 Briefmarken zu 10 Pfennig. Der Schalterbeamte: „Wofür brauchen Sie die?“ Er hat dem Mann die Briefmarken nicht gegeben, weil der in einem Akt des zivilen Ungehorsams Weiterlesen

Hier im Inneren des Landes, da leben sie noch

Ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Kann sein, daß ich noch nicht zur Schule ging. Irgendein Mann war bei uns zu Hause, irgend so‘n Meister oder sowas, irgend so‘n 50er-Jahre-Typ, irgend so‘n Wirtschaftswunder-Heini mit dickem Bauch und Glatze. Der stand im Korridor und verabschiedete sich, und ich stand auch da rum, und mich sehend rief dieser Mann: „Aha, das ist also der Stammhalter!“
Es war mir immer peinlich, wenn ich als Kind von Erwachsenen betrachtet und begutachtet wurde. Man setzte Erwartungen in mich, aber was waren das für Erwartungen? Schon von Kindesbeinen an hatte ich eine Aversion gegen plumpe Jovialität. Aber dieses Zusammentreffen war mir besonders peinlich, ja, ich empfand es als bedrohlich.
Zwar hatte ich kaum eine vage Ahnung davon, was unter einem „Stammhalter“ denn nun zu verstehen ist. „Männlicher Nachkomme“ ist damit zunächst einmal gemeint, das verstand ich schon. Indem man den männlichen Erstgeborenen als „Stammhalter“ tituliert, ist damit implizit gesagt, daß dem männlichen Geschlecht ein besonderer Vorrang gebührt. Und das ist nun etwas, was man Kindern tunlichst nicht einzutrichtern hat! „Stammhalter“ gehört zur selben Wortfamilie wie „Haushaltsvorstand“. Dieser Titel war in den 50er Jahren tatsächlich gebräuchlich. Das war die offizielle Bezeichnung für den Familienvater. Und glauben Sie mir: Damals hatte der Haushaltsvorstand von Haushalt überhaupt keine Ahnung.
Das war die Zeit, in der ich die Erwachsenen reden hörte, daß es so alle 20 bis 25 Jahre Krieg gibt. Das sei nun mal der Lauf der Welt, da war man sich sicher. Erstaunlicherweise aber löste die Aussicht auf einen bevorstehenden Weltkrieg weit und breit kein Entsetzen aus. Diejenigen, die den letzten Weltkrieg (oder sogar auch den vorletzten) selbst miterlebt hatten, ergingen sich lieber in Fatalismus, und sie hielten sich für klug. Das liegt daran, daß diese Untertanen vor dem Krieg weniger Angst hatten als vor den Konsequenzen eines Handelns, mit dem man sich dem, was sie für Schicksal hielten, widersetzt. Umhimmelswillen, was würden die Leute dazu sagen! Dann lieber Krieg! Und in einem solchen Erwartungs-Horizont wird der Titel „Stammhalter“ verliehen. Ich fühlte eine Bedrohung, die ich später bei der Lektüre von Bertolt Brecht ausgedrückt fand: „Mit euren Kindern planen sie jetzt schon Kriege.“
Ich hatte kaum eine vage Ahnung davon, was unter einem „Stammhalter“ denn nun zu verstehen ist. Wie in diesem Begriff das Dasein als ganzes und die Sexualität im besonderen reduziert und funktionalisiert wird, konnte ich natürlich erst später erfassen. Aber schon als Kind spürte ich sehr genau: „Vorsicht! Die haben was mit mir vor!“

Gegen Atomwaffen!

Eben, vor einer Minute, kam ein Anruf vom Duisburger Friedensforum (Sieh an!). Für die Protestaktion gegen Atomwaffen in Büchel am 11. und 12. August will das Friedensforum hier mit einem Flugblatt werben und fragt an, ob mein Artikel, den ich für die DFG-VK geschrieben habe (2007) dafür nachgedruckt werden darf.
Selbstverständlich!
Der Text geht so:

Das Zeitalter der Atombombe ist noch nicht beendet

Am 6. August 1945 zerstörte eine amerikanische Atombombe die japanische Stadt Hiroshima. Am 9. August 1945 wurde die zweite Atombombe über der japanischen Stadt Nagasaki abgeworfen. Durch die beiden Atomexplosionen kamen mehr als 100.000 Menschen ums Leben. In den Jahren danach – bis heute – haben die radioaktiven Spätfolgen vielen Menschen Krankheit und Leid gebracht, noch tausenden das Leben gekostet.
Mit dem Einsatz dieser fürchterlichen Waffe endete der Zweite Weltkrieg, und es begann ein neues Zeitalter. In den Jahrzehnten nach 1945 schwebte die Gefahr eines Atomkriegs als ein Damoklesschwert über der Menschheit.
Mit den Atombombenabwürfen – so wird gesagt – sollte der Zweite Weltkrieg zu einem schnelleren Ende geführt werden, und es sollte das Risiko einer verlustreichen US-Invasion in Japan vermieden werden. Doch der eigentliche Grund verbirgt sich dahinter: Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland fiel die Anti-Hitler-Koalition, in der die Großmächte USA und Sowjetunion verbündet waren, auseinander. Die beiden Länder, die gegensätzliche Gesellschaftssysteme verkörperten, wurden zu Gegnern. Mit der Atombombe wollten die USA ihre Überlegenheit signalisieren. In Hiroshima und Nagasaki begann der Kalte Krieg.
Der Glaube, mit der Bombe ein politisches und militärisches Druck- und Drohmittel zur Durchsetzung ihrer weltpolitischen Ziele in der Hand zu haben, ließ die US-Administration eine Politik der Friedenssicherung durch Verhandlungen zugunsten einer „Politik der Stärke“ zurückstellen. Mit der oft beschworenen „sowjetischen Gefahr“ war immer die Infragestellung des Hegemonialanspruchs der USA und der Zukunftsperspektiven des kapitalistischen Gesellschaftssystems gemeint. Die US-Strategie der „Eindämmung“, des „Roll Back“ und der „Massiven Vergeltung“ basierte auf dem Atomwaffenmonopol der USA. Sie gründete sich auf die Voraussetzung, daß ein termonuklearer Krieg möglich, vorstellbar und vertretbar ist und daß er im klassischen Sinn gewonnen und verloren werden kann. Zu diesem Zweck wurde, erst recht nachdem die USA nicht mehr allein über Atomwaffen verfügten, die Atomwaffentechnologie weiterentwickelt: durch Atombomben-Flugzeuge mit großer Reichweite, durch mit Atomwaffen ausgerüstete U-Boote, durch Militärstützpunkte, Mittelstreckenraketen, Marschflugkörper, Interkontinentalraketen und schließlich durch das Programm der Weltraumrüstung SDI.
Die Bundesrepublik Deutschland wurde zum Vorposten der US-amerikanischen Atomstrategie. Allein die in der BRD stationierten Atomwaffen hätten ausgereicht, die gesamte Menschheit auszulöschen. Einigen Politikern reichte das nicht. Sie wollten die BRD selbst zur Atommacht machen. 1957 wurde die Frage der Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen von der Bundesregierung aufs Tapet gebracht. Der seinerzeitige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß damals: „Ein Verzicht auf Kernwaffen unter den gegebenen Umständen … würde militärisch eine Preisgabe Europas an die Sowjetunion bedeuten.“
1958 heißt es in einer Entschließung des Deutschen Bundestages, es sei notwendig, „daß die Streitkräfte der Bundesrepublik mit den modernsten Waffen so ausgerüstet werden, daß sie den von der Bundesrepublik übernommen Verpflichtungen im Rahmen der NATO zu genügen vermögen.“ Als 1968 der Atomwaffensperrvertrag abgeschlossen wurde, weigerte sich die Bundesregierung lange, diesem Abkommen, das die Weiterverbreitung von Atomwaffen einschränken sollte, beizutreten.
Der Kampf gegen die atomare Aufrüstung in den 50er und 60er Jahren war der Ausgangspunkt der Ostermarschbewegung, der Friedensbewegung, der Außerparlamentarischen Opposition und der systemkritischen Linken in unserem Land.
Mit dem Ende der Systemauseinandersetzung ist die Gefahr eines Atomkrieges keineswegs beseitigt. Heute verfügen mehr Länder über Atomwaffen als je zuvor, einige weitere Länder streben danach. Im Dauerkonflikt im Nahen Osten könnten Atomwaffen schon bald eine Rolle spielen.
In den sechs Jahrzehnten des „Atomzeitalters“ haben sich die USA stets geweigert, einem Abkommen beizutreten, das die Atombombe ächtet. Sie haben sich stets geweigert, sich zu verpflichten, Atomwaffen nicht als erste einzusetzen und nicht gegen Länder einzusetzen, die ihrerseits nicht über Atomwaffen verfügen und die USA nicht mit Atomwaffen bedrohen. Die USA beanspruchen für sich, Atomwaffen wann und gegen wen einzusetzen, wie es ihnen opportun erscheint. Der US-Kongreß beschloß, „das Sicherheitsdispositiv im gesamten Nuklearwaffenprogramm neu zu beleben und das Bekenntnis der Nation zur Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeiten der Vereinigten Staaten zu erneuern“.
Das Atomzeitalter ist nicht beendet. Der Kampf gegen die Atombombe kann daher auch nicht beendet sein.

„Keine Lösung“ oder 60 Jahre 17. Juni


Brecht reagierte auf den fragmentarischen Abdruck seines Briefes mit einem zweiten Brief, den das Neue Deutschland am 23.6.1953 veröffentlichte: „Ich habe am Morgen des 17. Juni, als es klar wurde, daß die Demonstrationen der Arbeiter zu kriegerischen Zwecken mißbraucht wurden, meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei ausgedrückt. Ich hoffe jetzt, daß die Provokateure isoliert und ihre Verbindungsnetze zerstört werden, die Arbeiter aber, die in berechtigter Unzufriedenheit demonstriert haben, nicht mit den Provokateuren auf eine Stufe gestellt werden, damit nicht die so nötige Aussprache über die allseitig gemachten Fehler von vornherein gestört wird.“ Daß Walter Ulbricht an solcher Art von Loyalität, die das Eingeständnis von Fehlern verlangt hätte, interessiert war, darf man bezweifeln.
Der bekannteste Kommentar von Bertolt Brecht zum „17. Juni“ ist das Gedicht „Die Lösung“ aus den Buckower Elegien. Es ist oft zitiert worden, meist in der Absicht, den Anspruch der DDR, ein demokratischer Staat zu sein, ebenso als ein Ding der Unmöglichkeit hinzustellen wie die Verbindung Brechts mit der DDR. Antikommunisten wollen den Klassiker literaturgeschichlich auf ihre Seite ziehen.

Dank euch, ihr Sowjetsoldaten!

Dank euch, ihr Sowjetsoldaten!

Foto: Bundesarchiv Wikimedia Commons


Die sozialistische Demokratie sollte die bürgerliche Demokratie übertreffen. Wo die bürgerliche Demokratie aufhört, geht die sozialistische Demokratie weiter. Sie darf also hinter die bürgerliche Demokratie nicht zurückfallen. Zu den Standards der Demokratie gehört, daß die Regierung vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, um das Vertrauen des Volkes bemüht sein muß und dann, wenn sie dieses Vertrauen nicht verdient, abgelöst und durch eine andere Regierung ersetzt werden kann. Das ist der normale Fall. Es fragt sich allerdings, ob dieses Volk, das deutsche, ein normaler Fall ist. Der Gedanke, daß ein Volk, das erst wenige Jahre zuvor zu zwei bis drei Dritteln hinter Hitler hergelaufen ist, mißtrauisch macht und durch nützliches Handeln wenigstens einen Teil des Schadens, den es angerichtet hat, wieder gutmachen sollte, erscheint mir nicht ganz abwegig. Vertrauen ist gut. Aber Kontrolle ist besser. Das hat Lenin zwar nie gesagt, aber es ist richtig, angesichts der Bilanz von 1945. Zu einem solchen Eingeständnis war auch die SED nicht in der Lage. Sie hatte – glaubte sie – dem Faschismus in Deutschland (Ost) die politisch-ökonomische Grundlage entzogen, und das Sein bestimmt das Bewußtsein. Ja. Aber wie schnell? Schon nach 8 Jahren?
Brechts zweiter Brief an die SED nimmt vorweg, was in dem Buch von Stefan Heym „Sechs Tage im Juni“ ausgeführt wurde: Der 17. Juni hatte einen Doppelcharakter. Die Arbeiter in Berlin (und anderswo) hatten Grund zur Unzufriedenheit. Sie demonstrierten und streikten zurecht. Aber dann mischten sich Provokateure unter die Streikenden. Geheimdienstagenten, Saboteure, Halbstarke und antikommunistische Terrorzirkel nutzten die Gunst der Stunde. Selbstverständlich war es so! Die DDR, in die man durch das Brandenburger Tor einfach so hineinspazieren konnte, war bis zum Mauerbau und danach auch noch ein Tummelplatz von Spionen und Saboteuren, die eines Auftrags der westdeutschen Regierung nicht bedurften, aber immer deren Wohlwollen genossen. Sie handelten ganz im Einklang mit der westlichen Politik im Kalten Krieg, der von der „Eindämmung“ zum „Roll back“ übergegangen war.
Gegenüber der offiziellen Lesart im Westen, wo der 17. Juni als Nationalfeiertag begangen wurde, war die Darstellung in Heyms Buch ein großer Fortschritt. Ja, der 17. Juni hatte auch eine reaktionäre, eine faschistische Dimension. Man muß allerdings bezweifeln, daß es wirklich möglich war, die „berechtigte Unzufriedenheit“ und die Provokateure säuberlich voneinander zu „isolieren“. Man muß bezweifeln, daß die antikommunistischen Hetzparolen den Demonstranten souffliert werden mußten.

Biedermänner als Brandstifter
Am 16. und 17. Juni 1953 haben Aufständische in (Ost-)Berlin und Weiterlesen

Scheiße! Bayern München!

Es war ja erstaunlich, vorgestern, daß auch solche Leute, die sich sonst eigentlich gar nicht für Fußball interessieren, sich auf das Fest am Abend gefreut haben.
Ich hab ja noch die Zeiten gekannt, als noch längst nicht jeder einen Fernsehapparat hatte. Dann kamen die Verwandten zusammen, zu den Finalspielen am Ende der Saison, im Frühsommer. Die Männer hatten ihre Jacken ausgezogen und saßen vor dem Schwarzweißgerät in ihren weißen Hemden (bis 1968 trugen alle Männer weiße Hemden), und es wurde gefachsimpelt auf die knappeste Art: „Paßauf, jetz!“ – „Hasse gesehn?“ – „Jetz abber!“ – „Mensch schieß doch!“ Danach saß man noch im Garten, auf den Tischen standen die Pilsgläser. Oder es gab Bowle.
Ich wußte ja gar nicht, daß ich ein Experte bin. Ich hatte vorhergesagt: Dortmund drängt, aber dann schießt München das Tor. In der 89. Minute. (Es war dann allerdings nicht das 1:0, sondern das 2:1).
Mir wäre es ja lieber gewesen, wenn Borussia Dortmund gewonnen hätte. Ich nenne nicht die vielen Gründe, nur einen: Weil ich auch ausm Ruhrgebiet bin. Die Liebe zur Heimat ist nirgendwo so stark wie im Ruhrgebiet. Woran erkennt man das? Das erkennt man daran, daß nie darüber gesprochen wird. Was so stet und selbstverständlich ist, ist nicht der Rede wert. Ich renne ja auch nicht auf die Straße, um den Leuten zu erzählen: „Gucken Sie mal hier! Ich habe eine Nase!“

Das Schweigen wurde gebrochen

Für heute Abend (20.15 Uhr, ZDF) ist das Fernsehspiel „Und alle haben geschwiegen“ angekündigt. Thema ist die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in „Heimen“ kirchlicher Trägerschaft, wo sie sadistischen „Erzieherinnen und Erziehern“ ausgeliefert waren.
Über die Menschenschinderei in den Kinderlagern der BRD wurde jahrzehntelang der Mantel des Verschweigens ausgebreitet. Erst seit etwa zehn Jahren finden da und dort die Opfer der Quälereien im Namen Gottes Gehör – oft erst Jahrzehnte nach ihren Erlebnissen.
Das Land hätte früher schon hellhörig werden können, denn das Schweigen war nicht lückenlos. 1969 wurde die Rundfunkreportage „Mädchen in Fürsorgeerziehung“ von Ulrike Meinhof von mehreren ARD-Sendern ausgestrahlt. Aufgrund ihrer Recherchen erarbeitete Ulrike Meinhof das Drehbuch zu dem Fernsehspiel „Bambule“, das am 24. Mai 1970 in der ARD gesendet werden sollte, dann aber abgesetzt wurde. Erst 1994 wurde in in den Dritten Programmen gesendet.
Das Drehbuch erschien 1971 in Buchform im Verlag Klaus Wagenbach (136 S., 9.90 Euro) und ist weiterhin erhältlich. (Es kann und sollte, wie alle hier empfohlenen Bücher, in der Buchhandlung Weltbühne bestellt werden).
MeinhofBambuleDie Entscheidung von Ulrike Meinhof für den „bewaffneten Kampf“ stieß bei vielen ihrer Freunde auf Unverständnis und Ablehnung – auch deshalb, weil sie sich dadurch ihrer Wirksamkeit selbst beraubte. Jedoch ist UIrike Meinhof besser als alles, wogegen sie – mit welchen Methoden auch immer – kämpfte.

(Bitte lesen Sie auch den Aufsatz „Sie müssen nicht was sie tun“ von Lina Ganowski in DER METZGER Nr. 90).

Gedankenlos entschlossen

„Das starke Geschlecht sucht seine neue Rolle“, stand auf dem Cover vom Spiegel der letzten Woche. Muß es denn unbedingt eine Rolle sein?
„Männerdämmerung: Ist das männliche Geschlecht vom gesellschaftlichen Wandel überfordert? Jungen versagen in der Schule, Männer verlieren ihren Job, Kinder wachsen ohne Vater auf. Gesucht wird der moderne Mann.“ (Inhaltsverzeichnis).
Spiegel-1-2013Männerdämmerung? Ich habe viele Männer erlebt, denen nie was gedämmert hat.
In Kindertagen erschien mir die Aussicht, ein Mann zu werden, nicht sehr verheißungsvoll. Die Männer, die ich mit Kinderaugen beobachtete, taugten nicht als Vorbild. In der „jungen“ Bundesrepublik (die doch in Wirklichkeit eine Gerontrokratie war) waren die hauruckmäßigem Durchschnittsmänner unsensibel, empathielos, verständnislos, phantasielos, unerotisch, unmusikalisch, absichtsvoll begriffsstutzig, gedankenlos entschlossen, unfähig, sich leise auszudrücken. Die Fähigkeit zum Mitgefühl war bei denen – gelinde gesagt – unterentwickelt. (Mitfühlende Menschen sind weniger gut verwertbar). Mitgefühl galt als Schwäche, und Schwäche galt als Schande. Sie waren in der HJ und in der Wehrmacht erzogen worden.
„Gelobt sei, was hart macht“ hörte ich aus ihren Mündern oft. Sie lobten und liebten die Unannehmlichkeit. In der Sexualität waren sie verklemmt und grob zugleich, zotig und prüde.
Was mir in Aussicht gestellt war und was anscheinend von mir erwartet wurde, gefiel mir nicht. Auch ich sollte ein „richtiger Mann“ werden. Ich wollte kein „richtiger Mann“ werden, sondern ein echter. Ich sollte „groß und stark“ werden. Ich wollte lieber schlau werden.
In meiner Kinderzeit waren die meisten alten Frauen Witwen – und verängstigt. Sie meinten, es würden nachts immer irgendwelche „Kerle“ ums Haus schleichen. Ja, wenn doch ein Mann im Hause wäre!
Meingott! Sollte es eines Tages meine Aufgabe sein, fortwährend irgendwelche nachts ums Haus schleichenden „Kerle“ in die Flucht zu schlagen?
Zur völligen Verständnislosigkeit meiner Mitwelt machte ich mir nichts aus Schneeballschlachten, Lagerfeuern und gemeinsamen atonalen Gesängen. Die Bücher von Karl May, die ich unbedingt zu lesen hatte, fand ich langweilig. Ich mied jede Rauferei. Ich kletterte nicht auf Bäume, weil die Gefahr des Abstürzens mir bewußt war. Bewußtheit und Bewußtsein war nicht so sehr gefragt während des Wirtschaftswunders. Fassungslos mußte meine Mitwelt mit ansehen, daß ich mich gut mit mir selbst beschäftigen konnte und gern allein war.
Abstoßend erschien mir die Ouvertüre des Mann-Seins: das Militär. Es war ja wieder eine Armee aufgestellt worden. Die Nation mußte ja unbedingt der Welt beweisen, daß sie aus zwei Weltkriegen nichts gelernt hatte.
„Da muß man durch!“ Nein, da muß man nicht durch. Da muß man drumrumkommen. Die Unterbringung im Acht-Mann-Zimmer, diese dampfende „Männerkameradschaft“, und Leuten zu gehorchen, die dümmer sind als ich – das war nicht erstrebenswert.
Stellen wir also fest: Ein „richtiger Mann“ bin ich nicht geworden.
Allerdings: ein „anderer Mann“, einer von den „neuen Männern“, die „das Land braucht“, will ich auch nicht sein.