sie wittern den Frieden

in memoriam Hans Bender
1919-2015

Hans Bender ist am vergangenen Donnerstag gestorben. Er hat lange gelebt.
Man könnte fast sagen: So bringen vergangene Zeiten sich wieder in Erinnerung. Hans Bender, GrĂŒnder und lange Zeit Herausgeber der akzente (Hanser). Es ist wohl nicht zu despektierlich, wenn ich sage, er war einer von denen, die dafĂŒr zustĂ€ndig waren, daß es nach 1945 eine offizielle Literatur in (West-)Deutschland gab – im Deutschunterricht durchzunehmen.
Bender gehörte, wie Höllerer, wie Richter, zu den Schriftstellern, von denen man sagen mußte: sie haben auch selbst geschrieben.
„Die Wölfe kehren zurĂŒck“ nahmen wir in der Untertertia durch. Die Schriftsteller, die das „Tendenziöse“ zu fĂŒrchten gelernt hatten und zu fĂŒrchten lehrten, schrieben ĂŒber den Krieg als ein böses und den Frieden ĂŒber ein gutes Schicksal. Bin ich ungerecht? Böll war da anders.

„Die Wölfe kehren zurĂŒck. Sie wittern den Frieden.“ So endet die Geschichte.
Wir sollten dann fĂŒr die nĂ€chste Deutschstunde eine Inhaltsangabe schreiben. Ich schrieb einen zehn Seiten langen Aufsatz.
Das wurde aber beanstandet. Es wurde eine Inhaltsangabe verlangt, und die hÀtte als gelungen gegolten, wenn sie kurz gewesen wÀre, je knapper desto besser.
Aber:

In dem inoffiziellen Wettbewerb „Der lĂ€ngste Aufsatz der Klasse“ hatte ich mit einem sieben Seiten langen Aufsatz lange den Rekord gehalten. Der war gebrochen worden. Jemand hatte acht Seiten gefĂŒllt, um zu zeigen: „Ich hab‘ den lĂ€ngeren“! Den mußte ich ĂŒbertreffen! Es ging doch nicht um die gute Note in Deutsch, sondern um die Verwirklichung einer Vorstellung, die sich jeder fremdbestimmenden Bewertung entzieht.
Ich hatte zwar durchaus noch nicht den Vorsatz gefaßt, aber vielleicht schon eine Ahnung davon, Schriftsteller zu werden. Denn der Schriftsteller unterscheidet sich von anderen Leuten darin, daß er mehr schreibt als von ihm verlangt wird, und im Idealfall sich beim Schreiben mehr amĂŒsiert als der Leser beim Lesen. Wobei die Kriterien, wonach ein Aufsatz als ein guter solcher erkannt wird, brachial außer acht gelassen werden. Sie erleben es in diesem Moment: meine unausrottbare Angewohnheit, vom Thema abzuschweifen.
Meine Freundin Lina hat mal zu mir gesagt: „Das Abschweifen vom Thema ist eine der ergiebigsten Erkenntnisquellen.“ Oder habe ich das zu ihr gesagt?
Nicht gut angekommen bin ich mal mit einem Aufsatz, der vier Seiten lang war, von denen dreidreiviertel Seiten Einleitung waren. Heute wĂŒrde man doch sagen: eine Meisterleistung!

Wer hĂ€tte mir zugestimmt, wenn ich den Gedanken geĂ€ußert hĂ€tte, daß ein Aufsatz in Deutsch das Publikum gut unterhalten sollte.
Wenn ich mal einen Aufsatz vor der Klasse vorlesen mußte/durfte, wurde immer sehr viel gelacht. So auch bei dem genannten Sieben-Seiten-Aufsatz in der Untertertia: die erfundene Geschichte ĂŒber einen gescheiterten Überfall auf die Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg.

Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg

Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg

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Aus der Geschichte der Musik: „People try to put us down“

1965 wurde der Song „My Generation“ von The Who veröffentlicht, der zur Hymne der nach dem Krieg Geborenen wurde. Darin heißt es: „People try to put us down talking ‘bout my generation“.
Das beste Beispiel fĂŒr das, was in dem Song von The Who angeklagt wird, ist ein deutsches Schlager-Lied, das im selben Jahr veröffentlicht wurde und als Gegenteil von „My Generation“ gelten darf: „Mit 17 hat man noch TrĂ€ume“. Wenn hinter diesem Kulturgut wohl auch kaum eine andere Ambition steckte als die, damit Profit zu machen, so handelt es sich gleichwohl um Propaganda der EindimensionalitĂ€t. Da wurde „about my generation“ gesprochen – nicht mit schĂ€umender Wut wie so oft, dafĂŒr aber mit klebriger SelbstgefĂ€lligkeit. Das Establishment schlug zurĂŒck – nein, es schmierte.
Die US-amerikanische SÀngerin Peggy March, damals tatsÀchlich 17 Jahre alt, sang das:

„Mit 17 hat man noch TrĂ€ume,
da wachsen noch alle BĂ€ume
in den Himmel der Liebe.
Mit 17 kann man noch hoffen,
da sind die Wege noch offen
in den Himmel der Liebe.
Doch mit den Jahren wird man erfahren,
daß mancher der TrĂ€ume zerrann.
Doch wenn man jung ist, so herrlich jung ist,
wer denkt, ja wer denkt schon daran!
Junge Leute fragen nicht, was man darf und kann.
Junge Leute seh‘n die Welt mit and‘ren Augen an.
Und ist diese Welt auch oft fern der Wirklichkeit,
wo ist der, der ihnen nicht lĂ€chelnd das verzeiht?“

Die Gewalt, die des Reimes willen der Grammatik angetan wurde (es hĂ€tte doch heißen mĂŒssen: man wird erfahren, daß mancher Traum zerronnen sein wird), soll mal ĂŒbergangen sein. Was will der KĂŒnstler damit sagen?
Der Mann, der diesen Text fabriziert hat, hat sich wohl selbst nicht mehr daran erinnern können, das er selbst auch mal 17 Jahre alt gewesen ist. Stattdessen breitet er ein Klischee aus ĂŒber das Leben und Empfinden 17jĂ€hriger, das nun tatsĂ€chlich fern der Wirklichkeit ist. Amnesie ist ein Kennzeichen des eindimensionalen Menschen. Die Wunschvorstellung vom 17jĂ€hrigen MĂ€dchen als etwas dĂŒmmliche, realitĂ€tsferne Person war eine Beleidigung aller, die im Jahre 1965 17 Jahre alt waren. Sie stand im krassen Gegensatz zur RealitĂ€t, in der sich die nach dem Krieg geborene Generation angewidert oder gleichgĂŒltig von den Wertvorstellungen und Lebensvorstellungen der Generation abwandte, die ihre Erziehung in der HJ, im BDM und in der Wehrmacht genossen hatte.
Kein 17jĂ€hriger hĂ€tte von sich aus im Jahre 1965 gejuchzt: „wenn man jung ist, so herrlich jung ist“. Die Jugend wird nur von denen sentimental verherrlicht, die sie verplempert und, wie ĂŒberhaupt das ganze Leben, durch die Finger haben rinnen lassen. In nichts war diese sexuell verklemmte Generation, die ihre Erziehung in der HJ, im BDM und in der Wehrmacht genossen hatte, so groß, wie in ihrer Eifersucht, mit der sie die Jungendlichen daran zu hindern versuchte, ihre Jugend zu gestalten und auszufĂŒllen, in nichts so hartnĂ€ckig wie in ihrem Werk, Seelen zu zerstören. Nur als dumme GĂ€nse, die vor lauter Verliebtheit gegen Laternen rennen, waren die 17jĂ€hrigen MĂ€dchen fĂŒr sie ertrĂ€glich. Nichts ignorierten und nichts fĂŒrchteten diese autoritĂ€tsfixierten Untertanen so sehr wie die Wirklichkeit, die von Peggy March als „WĂ€rklichkeit“ prononciert wurde.
Wenn man 17 Jahre alt ist, dann „wachsen noch alle BĂ€ume in den Himmel“, und zwar „in den Himmel der Liebe“. Das wirft allerdings die Frage auf, was die Ehepaare eigentlich zusammengehalten haben könnte. Die Langeweile ihres Daseins hielten sie fĂŒr unabwendbare, alterungsbedingte Naturgesetzlichkeit, und die Inhaltsleere ihres Kopfes hielten sie fĂŒr Lebenweisheit. Dabei war es doch nur Feigheit, die sie davon abhielt, ĂŒber das Gegebene hinauszudenken.
Sich etwas mehr vom Leben zu erhoffen als Leere kostete den Preis, fĂŒr dĂ€mlich gehalten zu werden. Dem Jugendlichen wurde Existenzberechtigung nur zugebilligt als Dorftrottel des Wirtschaftswunders. „Mit 17 kann man noch hoffen.“ Und wenn man nicht mehr 17 ist, dann breitet sich die ganze Hoffnungslosigkeit aus, was?
Dem Weltkrieg folgte als Echo eine alltagskulturelle Idiotie, die in dieser Hymne der Hoffnungslosigkeit manifestiert wurde. Da war es ebenso wohltuend wie wichtig, sie mit elektrischen Gitarren zu zerfetzen.
Sich etwas mehr vom Leben zu erhoffen als Leere war etwas, was lĂ€chelnd verziehen wurde. Wie gĂŒtig! In dem Verzeihen ist die anmaßende Anschuldigung enthalten. Ich habe es versĂ€umt, dafĂŒr um Verzeihung zu bitten, daß ich die verachte, die die Resignation predigen. Was sie sich da lĂ€chelnd-verzeihend angemaßt haben, verzeihe ich nicht. Das lĂ€ĂŸt die Erfahrung eines Jahrhunderts nicht zu.
Auch die Resignation ist eine Utopie. Das ist die Utopie der ReaktionÀre.

„Was haben Sie 1968 gemacht?“ - „Von was ganz anderem getrĂ€umt.“

„Was haben Sie 1968 gemacht?“ – „Von was ganz anderem getrĂ€umt.“

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Warum mit mir nicht zu rechnen ist, wenn zu den Waffen gerufen wird

Bei der Lesung am 17. Dezember in der Spinatwachtel habe ich diesen Text vorgelesen:
SpinatDez13-3a

„Statt zu klagen, daß wir nicht alles haben, was wir wollen, sollten wir lieber dafĂŒr dankbar sein, daß wir nicht alles bekommen, was wir verdienen.“
Dieter Hildebrandt

Was ich 1967 in die BegrĂŒndung meines Antrags auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus GewissensgrĂŒnden hineingeschrieben habe, weiß ich nicht mehr.
WĂ€re ich gezwungen, meine Entscheidung, den Dienst in der Bundeswehr zu verweigern, noch einmal zu begrĂŒnden, wĂŒrde ich auf folgende Zeitungsmeldung verweisen:
„Schwarzer Postbote in ThĂŒringer Dorf schikaniert. Wegen seiner schwarzen Hautfarbe mußte die Post einen BrieftrĂ€ger in Vachdorf im SĂŒden ThĂŒringens versetzen. Bewohner des 800-Einwohner-Dorfes hatten den Afrikaner immer wieder bei seiner Arbeit behindert; u.a. schickten sie ihn wissentlich in falsche Richtungen, wenn er nach dem Weg fragte. Anschließend beschwerten sich die BĂŒrger ĂŒber den Boten. Daraufhin versetzte die Post den Mann aus Mosambik mit dessen Zustimmung zum Fahrdienst. Der Mann werde bei der Post als zuverlĂ€ssige und gute Arbeitskraft geschĂ€tzt, betonte eine Sprecherin.“
Daß der gute Mann den Wunsch hatte, in diesem Loch nicht mehr Dienst zu tun und fĂŒr diesen Abschaum der Menschheit keine Post mehr auszutragen, ist nur zu gut zu verstehen. Daß dieses Kaff aber nicht zur Strafe in Dreckdorf umbenannt und fĂŒr drei Monate vom Postverkehr ausgeschlossen wird bei anschließender Verdoppelung des Portos, ist mir unbegreiflich.
Das Dorf liegt im SĂŒden ThĂŒringens, befand sich also 40 Jahre lang außerhalb des Geltungsbereichs jener Freiheit, die die Soldaten der Bundeswehr unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen haben. In dem Unrechtsstaat DDR waren die Bewohner dieses Dorfes 40 Jahre lang gezwungen, auf die Völkerfreundschaft Eide zu schwören; und die Stasi kam gucken, ob die auch wirklich schwören. Das haben die dann auch getan und dabei mit den ZĂ€hnen geknirscht. Aber ungebrochen blieb ihre Hoffnung, eines Tages der Freundschaft der Völker abzuschwören und endlich zu ihrem nationalen Wesen zurĂŒckzukehren, welches seinen höchsten Ausdruck darin findet, daß sie jemanden, der nach dem Weg fragt, absichtlich in die Irre fĂŒhren.
Was muß daran verteidigt werden? MĂŒĂŸte nicht in jedem vernĂŒnftigen Menschen die Sehnsucht wachsen, daß dieses Dorf mitsamt dem Pack, das darin haust, ugandischen, birmanischen oder peruanischen Truppen in die HĂ€nde fĂ€llt?
Jahrzehntelang wurde uns in besorgtem Ton vorgehalten, unsere Bundesrepublik mitsamt ihrer Freiheit (Wege falsch zu beschreiben) sei von bösen Feinden bedroht, die nur darauf warten, hier einzumarschieren und uns unter ihre Herrschaft zu zwingen.
Diese deutsche Nation, die zwei Weltkriege vom Zaun brach und Millionen Menschenleben vernichtete, diese deutsche Nation, die die grĂ¶ĂŸte Gefahr darstellt, die die Menschheit je gekannt hat, entblödet sich nicht, sich selbst als Opfer einer Gefahr darzustellen. Diese Nation, der ich zutraue, daß sie zu einem dritten Weltkrieg bereit sein könnte und abermals Millionen Menschen vernichten wĂŒrde, weil sie von dem Drang besessen ist, die Welt unter ihre Leidkultur zu zwingen, sorgt sich ernsthaft, unter fremde Herrschaft gezwungen zu werden. Das allein ist ein Aberwitz.
Aber selbst wenn es stimmen wĂŒrde, selbst wenn andere Gewehr bei Fuß stehen wĂŒrden, um ĂŒber Deutschland ihre Herrschaft zu errichten – wĂ€re das wirklich so schlimm?
Deutschland hat Fremdherrschaft erlebt. Vor 2000 Jahren waren es die Römer. Sie brachten uns die urbane Kultur und die Wasserleitung – und ĂŒbrigens auch die wunderschöne Hauskatze. Sie bereicherten unsere Sprache mit Wörtern wie Nase, Name, Nummer, Mauer, Fenster und Schrift und fĂŒhrten hier solche GrundsĂ€tze ein wie „nulla poena sine lege“ und „dubio pro reo“.
Vor knapp 200 Jahren kam der Kaiser Napoleon mit seinen Franzosen. Sie brachten uns die MĂŒllabfuhr, das Zivilrecht und die universellen Ideen von Freiheit und Gleichheit, auf die die Germanen nie von selbst gekommen wĂ€ren. Napoleons Vorboten, die Hugenotten, haben den Deutschen doch erst das Essen mit Messer und Gabel gezeigt (was die Deutschen den Franzosen niemals verzeihen werden). So wie die Römer in Germanien die Steinzeit beendeten, beendete Napoleon in Deutschland das Mittelalter, seine Herrschaft hinterließ hier wenigstens den Hauch einer Vorstellung von gutem Essen, gutem Wein und guten Manieren. Die Franzosen haben uns Deutschen doch erst Kultur beigebracht.
Mag sein, daß die, die ĂŒber dieses Land Fremdherrschaft errichteten oder errichten wollten, dies nicht uneigennĂŒtzig taten. Aber fĂŒr uns ist immer etwas Gutes dabei abgefallen. Den Kaffee verdanken wir der Belagerung Wiens durch die TĂŒrken.
Gewiß: Die verteidigungsbereiten Herrschaften werden das abtun als SchönfĂ€rberei. Fremdherrschaft sei schließlich keine Weihnachtsbescherung. Die Wirklichkeit sĂ€he doch ganz anders aus. Ja, stimmt. Aber hier haben wir das PhĂ€nomen, das jeder Psychologe kennt: Von sich auf andere schließen. Wenn je im Zwanzigsten Jahrhundert Fremdherrschaft die Hölle war, dann war es die Herrschaft der Deutschen ĂŒber andere. Das ist der Alptraum der Deutschen: daß andere mit ihnen umspringen könnten wie sie es mit anderen tun beziehungsweise tun wĂŒrden wenn sie könnten. WĂŒrden – nach dem, was Deutsche der Menschheit im Zwanzigsten Jahrhundert zugefĂŒgt haben – andere ĂŒber dieses Land eine Fremdherrschaft errichten, die die Protagonisten der Vaterlandsverteidigung an die Wand malen: bedauerlich wĂ€re es. Aber ungerecht könnte ich es nicht finden.
Dabei ist es doch noch in frischer Erinnerung, wie segensreich fremde Herrschaft ĂŒber die Deutschen ist. Man braucht gar nicht auf die Römer, TĂŒrken und Napoleon zu verweisen. Wie war es, als die Weltkriegs-Alliierten in unser Land eindrangen? Es war ein Aufatmen! Schluß mit den Verdunkelungen und der Angst im Luftschutzkeller, Schluß mit der Allmacht der Blockwarte und den Einberufungsbefehlen fĂŒr Kinder! Als Deutsche von deutschen FĂŒhrern beherrscht wurden, gab es Entbehrung und „Durchhalten“. Als die Amis kamen, gab es Schokolade und Zigaretten.
Meine Tante hat mir, als ich ein Kind war, ihre erste Begegnung mit amerikanischen Soldaten geschildert. Sie saß an einem Tisch, um sie herum die Soldaten. Sie stellten ihr eine BĂŒchse Ananas hin und legten einen Dosenöffner daneben. Sie grinsten und kicherten. Diese naiven, gutmĂŒtigen Jungens waren gerĂŒhrt, als die junge Frau zum ersten Mal in ihrem Leben die unbekannte Frucht genoß, Ananas aus Hawaii.
Nie zuvor wurden Besiegte von den Siegern so human behandelt wie die Deutschen von den Amerikanern. Die Amerikaner hielten die Deutschen fĂŒr fĂ€hig, Demokratie zu lernen.
Kann man sich vorstellen, daß zur Wahrung des Deutschtums das Hören guter Musik mit der Todesstrafe bedroht wurde? Unter fremder Herrschaft konnte man endlich das Radio aufdrehen. Der Badenweiler Marsch und die Sondermeldungs-Fanfare verschwanden. Man hörte „In the Mood“ und „Moonlight Serenade“. Ja, Glenn Miller war auch MilitĂ€rmusik. Aber selbst darin war etwas von dem kostbarsten Geschenk der Amerikaner an die Welt: Der Blues.
Gewiß: mit der Niederlage, die ein Sieg der Menschlichkeit war, hat das Volk der Deutschen sich nie abgefunden, wie ein Blick in die Chronik der Jahre 1989/90 zeigt, jener Jahre, in denen die RationalitĂ€t der NationalitĂ€t weichen mußte. Mit der Gewißheit, daß die Niederlage keine endgĂŒltige war, ließ es sich gut einrichten. „Wir sind wieder wer“. Die Schinkenspeckgesichter spießbĂŒrgerlicher Selbstzufriedenheit kenne ich.
Kindheit im Jahrzehnt nach dem vorlĂ€ufigen Zusammenbruch ist mir auch noch gut in Erinnerung. Daß Kinder ĂŒberhaupt Rechte haben, ist eine Idee der jĂŒdisch-bolschewistischen Frankfurter Schule, die die Nation immer noch ganze zwei Jahrzehnte sich vom Leibe zu halten verstand. Man muß sich mal Klassenfotos aus den 50er Jahren angucken: Als hĂ€tten sich die Erwachsenen an den Kindern fĂŒr 1945 rĂ€chen wollen. Der Gang zum Friseur war ein Antreten zum Appell. Allein: Es klappte nicht. Die Generation der in der Mitte des Jahrhunderts Geborenen mißriet grĂŒndlich. FĂŒr sie kam alles Gute aus der Fremde: Von Donald Duck bis zu den Beatles, wehrkraftzersetzende Blue Jeans, und undeutsche Helden wie James Dean: Helden, die nicht trotzig ihr Kinn der Weltgeschichte entgegenreckten, sondern sich voller Melancholie herumdrĂŒckten. James Dean fĂŒhrte nicht vor, wie man siegt, sondern wie ein Loser seine WĂŒrde zu wahren versucht.
Das grĂ¶ĂŸte Werk der mißratenen Generation war der Massenimport volksfremder Kultur: Gangsterfilme, Comic-Strips, Urwaldmusik. Man vergleiche Hemingway mit Hans Habe, Erica Jong mit Hera Lind, Grateful Dead mit den Fischerchören, Zappa mit Heino, Groucho Marx mit Mario Barth, Columbo mit Derrick, Jeanne Moreau mit Ruth Leuwerik, Madonna mit Nina Hagen, die Französin Romy Schneider mit der Deutschen Marika Rökk, „Casablanca“ mit „BrieftrĂ€ger MĂŒller“, Gershwin mit Wagner!
Ist also etwas dran, daß die sogenannten „68er“ diese Gesellschaft „grĂŒndlich zivilisiert“ haben? Komisch klingt dieses Zitat der Antje Vollmer vor allem deshalb, weil sie es just in dem Moment in die Welt setzte, als die arrivierten Teile der „68er“-Kultur sich der Wende zum Guten Deutschen anschlossen. Doch in der Tat hatte die deutsche Linke ihre vergleichsweise beste Phase, als sie – als veritabler BĂŒrgerschreck – mit dem deutschen GemĂŒt ihren Schabernack trieb. Kritische Vernunft und HumanitĂ€t können sich in dieser Gesellschaft nur entfalten, wenn sie sich am Nationalempfinden funkensprĂŒhend reiben. Sonst kommt nix dabei raus.
Daß die Leichtigkeit des Seins unertrĂ€glich wĂ€re, ist eine Schnapsidee, die man eigentlich von einem deutschen Idealistenkopp erwartet hĂ€tte. Diese Leute basteln ja immer noch an dem Vorurteil, daß Kultur etwas Wichtigeres sei als Zivilisation. Dabei ist es gerade der Unernst, der hierorts gern als „OberflĂ€chlichkeit“ mißverstanden wird, mit dem das Leben sich erleichtern lĂ€ĂŸt, jawohl: erleichtern. KlĂŒger, als Schwierigkeiten zu trotzen, ist, sie ĂŒberhaupt zu vermeiden. Bequeme Sitze in der Straßenbahn sind fĂŒr das allgemeine Wohlergehen wichtiger als das tiefgrĂŒndelnde GrĂŒbeln ĂŒber die Frage, warum wir ĂŒber den Sinn des Lebens nachdenken.
Abwehr gegen Fremdherrschaft war immer Abwehr gegen Versuche, die Germanen zu zivilisieren. Die anderen fĂŒhrten mit den Deutschen immer Besseres im Schilde als die Deutschen mit sich selbst.

kaffeemannAus „Streiten Sie nicht mit einem Deutschen, wenn Sie mĂŒde sind“.

Die FĂŒĂŸe der Gans oder Koch doch selber Kaffee

Konkret berichtet ĂŒber die wechselvolle Beziehung der Alice Schwarzer zu GĂŒnter Amendt. Ihr Klang von 1980: „Ich rief ihn an. Er kam nach Köln. Wir sprachen bis in den spĂ€ten Abend. In diesem GesprĂ€ch wird deutlich, daß Amendt und mich noch viel mehr verband, als wir vermutet hatten.“ 1988, nachdem sie in einer TV-Diskussion mit Amendt ĂŒber Pornographie schlecht ausgesehen hatte: „Der Journalist GĂŒnter Amendt prĂ€sentiert sich, nur weil er vor Jahren zwei BĂŒcher ĂŒber Jugendsex geschrieben hat, im Fernsehen auch gerne als ‚Sexualwissenschaftler‘.“ In GĂ€nsefĂŒĂŸchen! 2013, zwei Jahre nach Amendts Tod: „Ich bin mit Emma mal wieder verdammt allein. Und kein GĂŒnter Amendt ist in Sicht.“

GĂŒnter Amendt...

GĂŒnter Amendt…

...Tongtong...

…Tongtong…

Die Gemeinsamkeits-Feier 1980 fand keineswegs in allerbester Stimmung statt. Eine 20jĂ€hrige Emma-Redaktionsfrau, die damals nicht mehr und noch nicht wieder meine Freundin (und noch nicht METZGER-Autorin) war, erhielt von Alice Schwarzer den Befehl: „Koch mal Kaffee!“ Sie darauf: „Ich bin doch nicht zum Kaffeekochen eingestellt! Koch doch selber Kaffee!“ Frau Schwarzer war darĂŒber sehr verĂ€rgert, wĂ€hrend GĂŒnter Amendt sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.

...and the Girl

…and the Girl

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Vom Löschen des Durstes

Das Fußballspiel zwischen dem Duisburger Spielverein und Eintracht Gelsenkirchen im Wedaustadion, Zweite Liga West, Saison 1962/63, sah ich gemeinsam mit meinem Cousin und meinem Onkel. Ein spannendes Spiel ĂŒbrigens, das letzte der Saison. Der Gewinner wĂŒrde in die neugegrĂŒndete Regionalliga aufsteigen, der Verlierer in die Amateurklasse absteigen. Es ging ruppig zu auf dem Spielfeld, drei Platzverweise, Duisburg gewann 2:1.
In der Halbzeitpause wurde ich auserkoren, drei Coca zu holen. Coca Cola. Mittlerweile bezeichnet man die coffeinhaltige Brause als „Cola“. Damals sagte man zu dem braunen ErfrischungsgetrĂ€nk schlicht „Coca“, was die konkurrierenden Marken Afri Cola und Pepsi Cola ins Hintertreffen brachte.
Drei Coca also. Man bekam sie an einem GetrĂ€nkestand fĂŒr ein paar Groschen, abgefĂŒllt in kleinen FlĂ€schchen aus Weißglas, mit Pfand, wie sich das gehört.
Um den GetrĂ€nkestand herum standen viele MĂ€nner, die alle finster dreinblickten, weil es ja ein spannendes Fußballspiel war. Auch der GetrĂ€nkemann schaute finster. Viele waren vor mir dran, und ich mußte warten, bis sie alle ihr GetrĂ€nk bekommen hatten. Es gab nicht nur Cola, sondern noch was anderes.
„Wat willz du?“
„Ne Fanta.“
„Un wat kriss du?“
„Ne Coca – ach nĂ€, gib ma lieber auch ne Fanta.“
Der nĂ€chste. „Coca oder Fanta?“
„Ach, gib ma ne Fanta.“
„Fanta“ hörte und sah ich an diesem Tag ĂŒberhaupt zum ersten Mal. Das mußte wohl sowas Ă€hnliches wie „Bluna“ sein, eine Orangenlimonade. Die FantaflĂ€schchen, genauso groß wie die ColaflĂ€schchen, waren brĂ€unlich und ließen darin eine orangefarbene kohlensĂ€urehaltige FlĂŒssigkeit vermuten. Und diese Limonade gewann hier in Windeseile das Wohlgefallen der um ein ErfrischungsgetrĂ€nk Anstehenden.
„Ach, gib ma keine Coca, gib ma lieber ne Fanta.“
Fanta war der Bestseller des Tages.
„Coca? NĂ€, laß ma. Gib ma ne Fanta.“
„NÀÀ! Immer dat Coca-Zeug! Gib ma ne Fanta!“
„Richtig!“ rief einer. „Gib ma ne Fanta.“
Irgendwann war ich an der Reihe. Und ich bestellte:
„Drei Coca.“
Alle drehten sich nach mir um. Was war geschehen? Da hatte doch so’n 13jĂ€hriger LĂŒmmel am GetrĂ€nkestand tatsĂ€chlich drei Coca Cola bestellt! Wo doch all die deutschen MĂ€nner sich gefunden hatten, um tapfer entschlossen zu sein, Fanta zu trinken, weniger um ihren Durst zu löschen, sondern um nicht Coca zu trinken!
Ich, mit der ganzen Schlichtheit meines GemĂŒtes, fand mein Verhalten gar nicht ungewöhnlich. Ich kaufte ein Produkt, das hier angeboten wurde. Ich war in der dezidierten Absicht hierhergekommen, drei Cola zu kaufen, und in dem allgemeinen Aufwallen einer Stimmung sah ich keinen Anlaß, mein Kaufbegehren zu revidieren. Ich tat nichts anderes als das, was ich mir vorgenommen hatte, ohne RĂŒcksicht darauf, daß ĂŒber die anderen etwas gekommen war, was mir, das spĂŒrte ich deutlich, als Fehlverhalten angekreidet wurde, ein „Fehler“ ĂŒbrigens, den ich im Laufe meines Lebens immer wieder beging.
Ich bekam auch meine drei Coca Cola, niemand legte dagegen Einspruch ein, aber ich meinte, ein unzufriedenes Brummen zu vernehmen. Mit drei Flaschen in zwei HĂ€nden bahnte ich mir den Weg durch die Umstehenden, deren Seitenblicke ich als bedrohlich empfand. Ich ĂŒbertreibe nicht. Immerhin war ich inmitten entschlossener Coca-VerschmĂ€her aus der Reihe getanzt.
Ich hatte, wie auch spĂ€ter in meinem Leben immer wieder, mich von einer nationalen Aufwallung nicht mitreißen lassen, die an jenem Tage Gestalt fand darin, daß deutsche MĂ€nner sich dem Zwang widersetzen, nach dem verlorenen Krieg Coca Cola trinken zu mĂŒssen. Meine Treue zu der coffeinhaltigen Brause bestĂ€tigte den Argwohn, daß mit der „Jugend von heute“ kein Krieg zu gewinnen sei, was – zumindest in meinem Fall – ja auch stimmte und immer noch stimmt.
Die Nachgeborenen werden das kaum verstehen, aber so war das damals wirklich. Es war die Zeit, in der Straßenbahnschaffner nicht Bedienstete eines Dienstleistungsunternehmens waren, sondern zur Obrigkeit gehörten. Der Erwerb einer Eisenbahnfahrkarte nach Kassel war gleichbedeutend mit dem Ersuchen an den Staat, nach Kassel reisen zu dĂŒrfen.
In einer Straßenbahn erlebte ich, wie der Schaffner mit seiner Losung „Noch jemand ohne Fahrschein?“ durch den Waggon patrouillierte und einen bestimmten Fahrgast eines Staatsverbrechens verdĂ€chtigte: „Hast du einen Fahrschein?“ Dieser Fahrgast, der in jener Zeit die Unverfrorenheit besaß, 15 Jahre alt zu sein, zeigte frohgemut seinen gĂŒltigen Fahrschein vor. Daraufhin der Schaffner: „Da hast du aber gerade nochmal GlĂŒck gehabt.“
Wem nichts vorzuwerfen war, der hatte „gerade nochmal GlĂŒck gehabt“.
Ich habe das erlebt: Ich saß in der Straßenbahn. Es regnete. Die Bahn hielt an einer Haltestelle, wo ein paar Leute in dem WartehĂ€uschen sich untergestellt hatten. Der Schaffner herrschte die Leute in dem WartehĂ€uschen an: Sie sollten entweder einsteigen oder weggehen. Das WartehĂ€uschen ist nicht fĂŒr alle da, sondern nur fĂŒr die Leute, die auf die Bahn warten. Wo kĂ€men wir denn da hin, wenn jeder einfach…
Ich habe das erlebt: Ich stand am Schalter im Postamt. Vor mir war einer dran, der wollte 100 Briefmarken zu 10 Pfennig. Der Schalterbeamte: „WofĂŒr brauchen Sie die?“ Er hat dem Mann die Briefmarken nicht gegeben, weil der in einem Akt des zivilen Ungehorsams Weiterlesen

Praktische Philosophie

Philosophieunterricht hatten wir nur ein Jahr lang, in der Oberprima, und zwar samstags in den letzten beiden Stunden. Das traf sich gut. Es wĂ€re nicht so gut gewesen, die Philosophie zwischen Mathematik und Französisch zu quetschen. Die letzten beiden Stunden vor der Entlassung ins freie Wochenende sind eine gute Zeit fĂŒr die Philosophie, die, wie ich finde, am besten gedeiht in einer AtmosphĂ€re der Entspanntheit.
Vor den beiden Philosophiestunden war die große Pause. Meine MitschĂŒler verließen den Klassenraum. An einem Samstag nutzte ich die Gelegenheit, die Utensilien meiner MitschĂŒler, die auf den Tischen herumlagen, zu vertauschen. Ich nahm das Heft von diesem Tisch und legte es auf jenen, das Buch entfernte ich dort und legte es dahin, wo ich den FĂŒllfederhalter wegnahm. Die Schultaschen leerte ich zwar nicht aus, aber verteilte sie kreuz und quer im Raum. In fĂŒnf Minuten gelang es mir, ein enormes Tausch-Pensum zu schaffen, so daß jeder, dem drei oder vier Utensilien fehlten, sie auch an drei oder vier verschiedenen Stellen ausfindig machen mußte.
Die Unterrichtsstunde in Philosophie begann mit erheblicher Verzögerung. Der Klassenraum hatte sich vorerst in eine Börse fĂŒr vermißte und vorgefundene GegenstĂ€nde verwandelt. Man hĂ€tte auch mit Fug sagen können: es fand eine Übung in praktischer Philosophie statt: Aus dem Chaos zur Ordnung mit den Mitteln der Kommunikation, oder so Ă€hnlich.
Es hĂ€tte auffallen mĂŒssen, daß ich fĂŒr diesen Zustand verantwortlich war, denn ich war der einzige, der das alles lustig fand. Und: meine Utensilien waren allesamt da, wo sie hingehörten. Ich wurde darauf nicht angesprochen, wahrscheinlich deshalb, weil ich mit Abstand der Beste im Fach Philosophie war – dies aber wohl deshalb, weil Herbert Marcuse durchgenommen wurde.

Herbert Marcuse (1955)

Herbert Marcuse (1955)

Im mĂŒndlichen Abitur wurde ich ĂŒber Herbert Marcuse geprĂŒft. Auf die Frage, wie man diesen Philosophen anhand der Textpassage, die mir vorgelegt worden war, politisch verorten könne, antwortete ich: Herbert Marcuse ist ein Linker.
FĂŒr diese enorme textanalytische Leistung bekam ich die Note Eins, und spĂ€ter erfuhr ich, ich sei im mĂŒndlichen Abitur der Jahrgangsbeste gewesen – aber nur, weil ich in Philosophie geprĂŒft wurde. WĂ€re ich in Französisch geprĂŒft worden, wĂ€re ich vielleicht der Jahrgangsschlechteste gewesen.

Allgemeine Witzkunde (2)

Was ist eigentlich das Komische an einem Witz?
Zweiter Teil: „Binnijet“ oder Warum könnte ein Mensch sich wĂŒnschen, in der Mitte zu gehen?

In mißlicher Lage und gewitzt genug, sich daraus zu winden, sind immer wieder die Protagonisten jĂŒdischer Witze, wie etwa der, der zum MilitĂ€r einberufen werden soll und vor dem Musterungsarzt steht:
Der Musterungsarzt will das Sehvermögen testen und zeigt auf die Tafel an der Wand: „Lesen Sie mir mal die Buchstaben in der ersten Reihe vor.“
„Es tut mir leid, ich kann keine Buchstaben erkennen.“
„Was? Die großen Buchstaben auf der Tafel können Sie nicht erkennen?“
„Es tut mir leid, ich sehe keine Tafel.“
„Was sie sehen noch nicht einmal die Tafel? Sie sind ja fast blind! Untauglich!“
Am selben Abend geht der Mann ins Kino, sucht seinen Platz in der dritten Reihe und trifft dort ausgerechnet auf den Musterungsarzt. Was nun? Er fragt den Musterungsarzt: „Ach entschuldigen Sie bitte, gnĂ€dige Frau, ist das der Bus bis Tel Aviv?“
Netter Witz, nicht wahr? Aber auch nicht gerade umwerfend. Die Pointe braucht eine VerstĂ€rkung, und die erhĂ€lt sie dadurch, daß nicht nach dem Bus nach Tel Aviv, sondern bis Tel Aviv gefragt wird. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, daß kein anderer Ort als Tel Aviv dem Witz die WĂŒrze geben könnte. Da dĂŒrfen wir auch getrost das Postulat, das die Gelehrten verkĂŒndeten, außer acht lassen, nĂ€mlich, daß jĂŒdische Witze sich nie in Israel zutragen, sondern in der Diaspora.
Der folgende Witz, der eine Ahnung davon vermittelt, daß der jiddischen Sprache ein Element des Widerstands von unten innewohnt, spielt notwendig im deutschen Sprachraum, mußte aber nach Polen verlegt werden, um den Umstand auszunutzen, daß die WĂ€hrung in Polen „Zloty“ heißt. Ein Geld „Zloty“ zu nennen ist komisch. Das hört sich an wie „Bluntschli“.
Ein Generaldirektor lĂ€ĂŸt sich von seinem Chauffeur in seiner Limousine die Landstraße entlang chauffieren. Plötzlich bleibt der Wagen stehen. Motorschaden. Der Chauffeur lĂ€uft in die nĂ€chste Ortschaft und findet dort einen jĂŒdischen Automechaniker. Der kommt, klappt die Motorhaube auf und schaut sich einen Moment lang den Motor an. Dann zieht er ein winziges HĂ€mmerchen aus der Tasche und klopft damit ganz leicht gegen den Motor. Der Motor springt sofort wieder an.
„Das macht 50 Zloty.“
„Was? 50 Zloty?“ ruft der Generaldirektor. „Das mĂŒssen Sie mir aufschreiben.“
Der Monteur zieht einen Block und einen Bleistiftstummel aus der Tasche und schreibt auf:
„Gegeben e Klopp: 1 Zloty.
Gewußt wo: 49 Zloty.“
In der jiddischen Sprache werden die (Neben-)SĂ€tze zuweilen anders konstruiert. Statt „Wenn die Sonne scheint, dann…“ heißt es „Scheint die Sonne, dann…“. „Ich will“ heißt auf jiddisch „Will ach“. Das klingt wie Villach in KĂ€rnten, Österreich.
Ein jĂŒdischer Herr tritt an den Fahrkartenschalter und sagt:
„Will ach Posen.“
Der Schalterbeamte versteht nicht und fragt: „Villach oder Posen.“
Antwort:
„Will ach Villach, will ach Villach. Will ach Posen, will ach Posen. Will ach Posen.“
Der Vorteil dieses Witzes besteht darin, daß nicht nur der Schalterbeamte nix versteht, sondern auch der, dem man den Witz erzĂ€hlt.
Eine weitere Kategorie ist – als problematisch oft empfunden – der „Irrenwitz“, der in den frĂŒhen 60er Jahren auftauchte und bald wieder verschwand. In den besseren Exemplaren seiner Art lehnt er sich gegen die elementare Logik auf, doch zumeist dreht er eine Situation so, daß sich der Psychiater oder der General de Gaulle als der eigentlich VerrĂŒckte erweist. Der Gedanke, daß eigentlich nur der „VerrĂŒckte“, der Spleenige, der Außenseiter eine Hoffnung fĂŒr die Welt verkörpern könnte, kommt im Irrenwitz allerdings kaum zum Tragen. Die Irrenwitze enthalten wenig subversive Kraft und sind zurecht aus der Mode gekommen.
Zwei VerrĂŒckte gehen die Straße entlang. Sie gehen nebeneinander. Nach 20 Minuten sagt der eine:
„So, jetz binnijet aber leid. Jetz will ich au‘ ma inne Mitte geh’n.“
Daß, wenn zwei nebeneinandergehende Personen ihre Positionen tauschen, jeder wieder in die Randlage, niemals aber in die Mitte gerĂ€t, beziehungsweise daß die Mitte zwischen zwei nebeneinandergehenden Personen die LĂŒcke zwischen den beiden ist, durch den Tausch der Positionen von keinem der beiden ausgefĂŒllt werden kann, ist schon alles, was die Pointe enthĂ€lt. Allenfalls dem Zeigefinger bietet die Geschichte noch etwas, nĂ€mlich eine „Moral“: daß der Andere das, was man ihm neidet, selber nicht hat.
Als mir dieser Witz im Jahre 1968 erzĂ€hlt wurde, habe ich wie ĂŒblich einen Moment zu frĂŒh gelacht. Ich fand es lustig, wie die Wortfolge „bin ich es“ zu einem schlanken „binnejet“ zusammenfloß. Daß es aber ĂŒberhaupt jemanden so sehr danach drĂ€ngt, unbedingt „in der Mitte“ gehen zu wollen, ist mir bis heute ein RĂ€tsel geblieben.

P.S.: Wetten, daß jetzt irgendein sich fĂŒr einen RevolutionswĂ€chter haltender Aufpasser aufgrund dieses Notats mich als Zionist, als „antideutschen“ Israel-Sympathisanten „entlarvt“ und daß Heerscharen von WeitererzĂ€hlern ungeprĂŒft und ohne Kenntnis der PrimĂ€rquelle, aus der dieser Vorwurf geschöpft wird, diesen weitererzĂ€hlen werden? Das kennt man.
Die Aufpasser beider Richtungen können jedoch gleichermaßen be(un)ruhigt sein. Addiert man zusammen, was die, die noch nie eine Zeile von mir gelesen haben, ĂŒber mich wissen, dann ist lĂ€ngst erwiesen, daß ich ein zionistischer Antisemit und ein antisemitischer Zionist bin.

Allgemeine Witzkunde (1)

Erster Teil: TĂŒnnes un SchĂ€l gingen ĂŒbber de RheinbrĂŒck.

In Erinnerung an den alten Hell.

Dieser Witz wurde erzÀhlt:
Ein Lehrer trifft einen ehemaligen SchĂŒler wieder und erfĂ€hrt, daß dieser SchĂŒler es als GeschĂ€ftsmann zu was gebracht hat. DarĂŒber ist er verwundert.
„Daß Sie es zu so viel Geld gebracht haben, wo Sie doch im Rechnen der SchwĂ€chste in der Klasse waren.“
„Och, das ist ganz einfach. Ich kaufe Kisten ein fĂŒr fĂŒnf Mark, und die verkauf ich dann fĂŒr acht Mark. Und von die drei Prozent leb ich.“
Der Witz ist einfach erklĂ€rt: Diesem ehemaligen SchĂŒler gereicht seine RechenschwĂ€che im Erwerbsleben nicht etwa, wie man vermuten könnte, zum Nachteil, sondern zum Vorteil, indem er – haha! – die Prozentrechnung mit der Subtraktion durcheinanderbringt und er sich zwar verrechnet, aber zu seinen Gunsten. Man könnte, ganz witz-analytisch, hinzufĂŒgen, daß der Lehrer die verblĂŒffende Erfahrung macht, daß die Erfolgsgeschichte seines ehemaligen Schutzbefohlenen gerade im Mißerfolg seiner unterrichtlichen BemĂŒhungen begrĂŒndet ist. Man könnte dies als Beispiel dafĂŒr anfĂŒhren, daß der Witz ein Element der Auflehnung gegen AutoritĂ€t und Zwang enthĂ€lt, auch gegen den Zwang der mathematischen Logik. So hĂ€tte man den Witz erklĂ€rt, und man wĂ€re dabei davon ausgegangen, daß die Komik dieses Witzes in seiner Pointe liegt. Ich finde aber, daß dieser Witz sich auch als Beispiel dafĂŒr eignet, daß die Komik gerade nicht in der Pointe kulminieren muß. Im Gegenteil. Die Pointe ist zwar nett, aber der Witz wĂŒrde viel von seiner Komik verlieren, ließe man das Detail außer Acht, daß der Satz, der die Pointe enthĂ€lt, offenbart, daß der ehemalige SchĂŒler nicht nur im Rechnen, sondern offensichtlich auch in Grammatik schwach war.
Ähnlich verhĂ€lt es sich mit dem Witz, der durch JĂŒrgen von Manger ĂŒberliefert wurde. In „Der Unteroffiziersunterricht“ kommt dieser Dialog vor:
„Womit wĂ€scht sich der Soldat?“
„Mit Seife, Herr Unteroffizier.“
„Nein. Mit nackten Oberkörper.“
Der Witz-Analytiker wĂ€re mit der ErklĂ€rung bei der Hand, daß hier in der Umstandsbestimmung zwei Sprachebenen aneinanderschrammen, was immer einen komischen Effekt hat. Und wieder ist eine Person im Spiel, die AutoritĂ€t verkörpert, der Unteroffizier, der, ebenso wie der Lehrer, keine allzu hohe AutoritĂ€t darstellt. Er ist kein wirklicher Herrscher, sondern einer, dem ein bißchen AutoritĂ€t von oben runterdelegiert wurde. Ein ordentlicher Witz also. Aber richtig in Schieflage gerĂ€t des Geschehen doch erst dadurch, daß auch hier mal wieder der Akkusativ schon den Platz besetzt hatte, der dem Dativ zusteht. Wer diesen Witz in grammatikalisch korrektem Wortlaut erzĂ€hlen wĂŒrde, wĂŒrde die Komik glatt halbieren.
Ich bin mir sicher, daß JĂŒrgen von Manger diese Geschichte nicht erfunden hat. Das sind die Witze, die das Leben erzĂ€hlt. Die Komik der Pointe reprĂ€sentiert (oder: erhellt) lediglich Weiterlesen