Bei der Lesung am 17. Dezember in der Spinatwachtel habe ich diesen Text vorgelesen:

âStatt zu klagen, daĂ wir nicht alles haben, was wir wollen, sollten wir lieber dafĂŒr dankbar sein, daĂ wir nicht alles bekommen, was wir verdienen.â
Dieter Hildebrandt
Was ich 1967 in die BegrĂŒndung meines Antrags auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus GewissensgrĂŒnden hineingeschrieben habe, weiĂ ich nicht mehr.
WĂ€re ich gezwungen, meine Entscheidung, den Dienst in der Bundeswehr zu verweigern, noch einmal zu begrĂŒnden, wĂŒrde ich auf folgende Zeitungsmeldung verweisen:
âSchwarzer Postbote in ThĂŒringer Dorf schikaniert. Wegen seiner schwarzen Hautfarbe muĂte die Post einen BrieftrĂ€ger in Vachdorf im SĂŒden ThĂŒringens versetzen. Bewohner des 800-Einwohner-Dorfes hatten den Afrikaner immer wieder bei seiner Arbeit behindert; u.a. schickten sie ihn wissentlich in falsche Richtungen, wenn er nach dem Weg fragte. AnschlieĂend beschwerten sich die BĂŒrger ĂŒber den Boten. Daraufhin versetzte die Post den Mann aus Mosambik mit dessen Zustimmung zum Fahrdienst. Der Mann werde bei der Post als zuverlĂ€ssige und gute Arbeitskraft geschĂ€tzt, betonte eine Sprecherin.â
DaĂ der gute Mann den Wunsch hatte, in diesem Loch nicht mehr Dienst zu tun und fĂŒr diesen Abschaum der Menschheit keine Post mehr auszutragen, ist nur zu gut zu verstehen. DaĂ dieses Kaff aber nicht zur Strafe in Dreckdorf umbenannt und fĂŒr drei Monate vom Postverkehr ausgeschlossen wird bei anschlieĂender Verdoppelung des Portos, ist mir unbegreiflich.
Das Dorf liegt im SĂŒden ThĂŒringens, befand sich also 40 Jahre lang auĂerhalb des Geltungsbereichs jener Freiheit, die die Soldaten der Bundeswehr unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen haben. In dem Unrechtsstaat DDR waren die Bewohner dieses Dorfes 40 Jahre lang gezwungen, auf die Völkerfreundschaft Eide zu schwören; und die Stasi kam gucken, ob die auch wirklich schwören. Das haben die dann auch getan und dabei mit den ZĂ€hnen geknirscht. Aber ungebrochen blieb ihre Hoffnung, eines Tages der Freundschaft der Völker abzuschwören und endlich zu ihrem nationalen Wesen zurĂŒckzukehren, welches seinen höchsten Ausdruck darin findet, daĂ sie jemanden, der nach dem Weg fragt, absichtlich in die Irre fĂŒhren.
Was muĂ daran verteidigt werden? MĂŒĂte nicht in jedem vernĂŒnftigen Menschen die Sehnsucht wachsen, daĂ dieses Dorf mitsamt dem Pack, das darin haust, ugandischen, birmanischen oder peruanischen Truppen in die HĂ€nde fĂ€llt?
Jahrzehntelang wurde uns in besorgtem Ton vorgehalten, unsere Bundesrepublik mitsamt ihrer Freiheit (Wege falsch zu beschreiben) sei von bösen Feinden bedroht, die nur darauf warten, hier einzumarschieren und uns unter ihre Herrschaft zu zwingen.
Diese deutsche Nation, die zwei Weltkriege vom Zaun brach und Millionen Menschenleben vernichtete, diese deutsche Nation, die die gröĂte Gefahr darstellt, die die Menschheit je gekannt hat, entblödet sich nicht, sich selbst als Opfer einer Gefahr darzustellen. Diese Nation, der ich zutraue, daĂ sie zu einem dritten Weltkrieg bereit sein könnte und abermals Millionen Menschen vernichten wĂŒrde, weil sie von dem Drang besessen ist, die Welt unter ihre Leidkultur zu zwingen, sorgt sich ernsthaft, unter fremde Herrschaft gezwungen zu werden. Das allein ist ein Aberwitz.
Aber selbst wenn es stimmen wĂŒrde, selbst wenn andere Gewehr bei FuĂ stehen wĂŒrden, um ĂŒber Deutschland ihre Herrschaft zu errichten â wĂ€re das wirklich so schlimm?
Deutschland hat Fremdherrschaft erlebt. Vor 2000 Jahren waren es die Römer. Sie brachten uns die urbane Kultur und die Wasserleitung â und ĂŒbrigens auch die wunderschöne Hauskatze. Sie bereicherten unsere Sprache mit Wörtern wie Nase, Name, Nummer, Mauer, Fenster und Schrift und fĂŒhrten hier solche GrundsĂ€tze ein wie ânulla poena sine legeâ und âdubio pro reoâ.
Vor knapp 200 Jahren kam der Kaiser Napoleon mit seinen Franzosen. Sie brachten uns die MĂŒllabfuhr, das Zivilrecht und die universellen Ideen von Freiheit und Gleichheit, auf die die Germanen nie von selbst gekommen wĂ€ren. Napoleons Vorboten, die Hugenotten, haben den Deutschen doch erst das Essen mit Messer und Gabel gezeigt (was die Deutschen den Franzosen niemals verzeihen werden). So wie die Römer in Germanien die Steinzeit beendeten, beendete Napoleon in Deutschland das Mittelalter, seine Herrschaft hinterlieĂ hier wenigstens den Hauch einer Vorstellung von gutem Essen, gutem Wein und guten Manieren. Die Franzosen haben uns Deutschen doch erst Kultur beigebracht.
Mag sein, daĂ die, die ĂŒber dieses Land Fremdherrschaft errichteten oder errichten wollten, dies nicht uneigennĂŒtzig taten. Aber fĂŒr uns ist immer etwas Gutes dabei abgefallen. Den Kaffee verdanken wir der Belagerung Wiens durch die TĂŒrken.
GewiĂ: Die verteidigungsbereiten Herrschaften werden das abtun als SchönfĂ€rberei. Fremdherrschaft sei schlieĂlich keine Weihnachtsbescherung. Die Wirklichkeit sĂ€he doch ganz anders aus. Ja, stimmt. Aber hier haben wir das PhĂ€nomen, das jeder Psychologe kennt: Von sich auf andere schlieĂen. Wenn je im Zwanzigsten Jahrhundert Fremdherrschaft die Hölle war, dann war es die Herrschaft der Deutschen ĂŒber andere. Das ist der Alptraum der Deutschen: daĂ andere mit ihnen umspringen könnten wie sie es mit anderen tun beziehungsweise tun wĂŒrden wenn sie könnten. WĂŒrden â nach dem, was Deutsche der Menschheit im Zwanzigsten Jahrhundert zugefĂŒgt haben â andere ĂŒber dieses Land eine Fremdherrschaft errichten, die die Protagonisten der Vaterlandsverteidigung an die Wand malen: bedauerlich wĂ€re es. Aber ungerecht könnte ich es nicht finden.
Dabei ist es doch noch in frischer Erinnerung, wie segensreich fremde Herrschaft ĂŒber die Deutschen ist. Man braucht gar nicht auf die Römer, TĂŒrken und Napoleon zu verweisen. Wie war es, als die Weltkriegs-Alliierten in unser Land eindrangen? Es war ein Aufatmen! SchluĂ mit den Verdunkelungen und der Angst im Luftschutzkeller, SchluĂ mit der Allmacht der Blockwarte und den Einberufungsbefehlen fĂŒr Kinder! Als Deutsche von deutschen FĂŒhrern beherrscht wurden, gab es Entbehrung und âDurchhaltenâ. Als die Amis kamen, gab es Schokolade und Zigaretten.
Meine Tante hat mir, als ich ein Kind war, ihre erste Begegnung mit amerikanischen Soldaten geschildert. Sie saĂ an einem Tisch, um sie herum die Soldaten. Sie stellten ihr eine BĂŒchse Ananas hin und legten einen Dosenöffner daneben. Sie grinsten und kicherten. Diese naiven, gutmĂŒtigen Jungens waren gerĂŒhrt, als die junge Frau zum ersten Mal in ihrem Leben die unbekannte Frucht genoĂ, Ananas aus Hawaii.
Nie zuvor wurden Besiegte von den Siegern so human behandelt wie die Deutschen von den Amerikanern. Die Amerikaner hielten die Deutschen fĂŒr fĂ€hig, Demokratie zu lernen.
Kann man sich vorstellen, daĂ zur Wahrung des Deutschtums das Hören guter Musik mit der Todesstrafe bedroht wurde? Unter fremder Herrschaft konnte man endlich das Radio aufdrehen. Der Badenweiler Marsch und die Sondermeldungs-Fanfare verschwanden. Man hörte âIn the Moodâ und âMoonlight Serenadeâ. Ja, Glenn Miller war auch MilitĂ€rmusik. Aber selbst darin war etwas von dem kostbarsten Geschenk der Amerikaner an die Welt: Der Blues.
GewiĂ: mit der Niederlage, die ein Sieg der Menschlichkeit war, hat das Volk der Deutschen sich nie abgefunden, wie ein Blick in die Chronik der Jahre 1989/90 zeigt, jener Jahre, in denen die RationalitĂ€t der NationalitĂ€t weichen muĂte. Mit der GewiĂheit, daĂ die Niederlage keine endgĂŒltige war, lieĂ es sich gut einrichten. âWir sind wieder werâ. Die Schinkenspeckgesichter spieĂbĂŒrgerlicher Selbstzufriedenheit kenne ich.
Kindheit im Jahrzehnt nach dem vorlĂ€ufigen Zusammenbruch ist mir auch noch gut in Erinnerung. DaĂ Kinder ĂŒberhaupt Rechte haben, ist eine Idee der jĂŒdisch-bolschewistischen Frankfurter Schule, die die Nation immer noch ganze zwei Jahrzehnte sich vom Leibe zu halten verstand. Man muĂ sich mal Klassenfotos aus den 50er Jahren angucken: Als hĂ€tten sich die Erwachsenen an den Kindern fĂŒr 1945 rĂ€chen wollen. Der Gang zum Friseur war ein Antreten zum Appell. Allein: Es klappte nicht. Die Generation der in der Mitte des Jahrhunderts Geborenen miĂriet grĂŒndlich. FĂŒr sie kam alles Gute aus der Fremde: Von Donald Duck bis zu den Beatles, wehrkraftzersetzende Blue Jeans, und undeutsche Helden wie James Dean: Helden, die nicht trotzig ihr Kinn der Weltgeschichte entgegenreckten, sondern sich voller Melancholie herumdrĂŒckten. James Dean fĂŒhrte nicht vor, wie man siegt, sondern wie ein Loser seine WĂŒrde zu wahren versucht.
Das gröĂte Werk der miĂratenen Generation war der Massenimport volksfremder Kultur: Gangsterfilme, Comic-Strips, Urwaldmusik. Man vergleiche Hemingway mit Hans Habe, Erica Jong mit Hera Lind, Grateful Dead mit den Fischerchören, Zappa mit Heino, Groucho Marx mit Mario Barth, Columbo mit Derrick, Jeanne Moreau mit Ruth Leuwerik, Madonna mit Nina Hagen, die Französin Romy Schneider mit der Deutschen Marika Rökk, âCasablancaâ mit âBrieftrĂ€ger MĂŒllerâ, Gershwin mit Wagner!
Ist also etwas dran, daĂ die sogenannten â68erâ diese Gesellschaft âgrĂŒndlich zivilisiertâ haben? Komisch klingt dieses Zitat der Antje Vollmer vor allem deshalb, weil sie es just in dem Moment in die Welt setzte, als die arrivierten Teile der â68erâ-Kultur sich der Wende zum Guten Deutschen anschlossen. Doch in der Tat hatte die deutsche Linke ihre vergleichsweise beste Phase, als sie â als veritabler BĂŒrgerschreck â mit dem deutschen GemĂŒt ihren Schabernack trieb. Kritische Vernunft und HumanitĂ€t können sich in dieser Gesellschaft nur entfalten, wenn sie sich am Nationalempfinden funkensprĂŒhend reiben. Sonst kommt nix dabei raus.
DaĂ die Leichtigkeit des Seins unertrĂ€glich wĂ€re, ist eine Schnapsidee, die man eigentlich von einem deutschen Idealistenkopp erwartet hĂ€tte. Diese Leute basteln ja immer noch an dem Vorurteil, daĂ Kultur etwas Wichtigeres sei als Zivilisation. Dabei ist es gerade der Unernst, der hierorts gern als âOberflĂ€chlichkeitâ miĂverstanden wird, mit dem das Leben sich erleichtern lĂ€Ăt, jawohl: erleichtern. KlĂŒger, als Schwierigkeiten zu trotzen, ist, sie ĂŒberhaupt zu vermeiden. Bequeme Sitze in der StraĂenbahn sind fĂŒr das allgemeine Wohlergehen wichtiger als das tiefgrĂŒndelnde GrĂŒbeln ĂŒber die Frage, warum wir ĂŒber den Sinn des Lebens nachdenken.
Abwehr gegen Fremdherrschaft war immer Abwehr gegen Versuche, die Germanen zu zivilisieren. Die anderen fĂŒhrten mit den Deutschen immer Besseres im Schilde als die Deutschen mit sich selbst.
Aus âStreiten Sie nicht mit einem Deutschen, wenn Sie mĂŒde sindâ.