… sie wittern den Frieden

in memoriam Hans Bender
1919-2015

Hans Bender ist am vergangenen Donnerstag gestorben. Er hat lange gelebt.
Man könnte fast sagen: So bringen vergangene Zeiten sich wieder in Erinnerung. Hans Bender, Gründer und lange Zeit Herausgeber der akzente (Hanser). Es ist wohl nicht zu despektierlich, wenn ich sage, er war einer von denen, die dafür zuständig waren, daß es nach 1945 eine offizielle Literatur in (West-)Deutschland gab – im Deutschunterricht durchzunehmen.
Bender gehörte, wie Höllerer, wie Richter, zu den Schriftstellern, von denen man sagen mußte: sie haben auch selbst geschrieben.
„Die Wölfe kehren zurück“ nahmen wir in der Untertertia durch. Die Schriftsteller, die das „Tendenziöse“ zu fürchten gelernt hatten und zu fürchten lehrten, schrieben über den Krieg als ein böses und den Frieden über ein gutes Schicksal. Bin ich ungerecht? Böll war da anders.

„Die Wölfe kehren zurück. Sie wittern den Frieden.“ So endet die Geschichte.
Wir sollten dann für die nächste Deutschstunde eine Inhaltsangabe schreiben. Ich schrieb einen zehn Seiten langen Aufsatz.
Das wurde aber beanstandet. Es wurde eine Inhaltsangabe verlangt, und die hätte als gelungen gegolten, wenn sie kurz gewesen wäre, je knapper desto besser.
Aber:

In dem inoffiziellen Wettbewerb „Der längste Aufsatz der Klasse“ hatte ich mit einem sieben Seiten langen Aufsatz lange den Rekord gehalten. Der war gebrochen worden. Jemand hatte acht Seiten gefüllt, um zu zeigen: „Ich hab‘ den längeren“! Den mußte ich übertreffen! Es ging doch nicht um die gute Note in Deutsch, sondern um die Verwirklichung einer Vorstellung, die sich jeder fremdbestimmenden Bewertung entzieht.
Ich hatte zwar durchaus noch nicht den Vorsatz gefaßt, aber vielleicht schon eine Ahnung davon, Schriftsteller zu werden. Denn der Schriftsteller unterscheidet sich von anderen Leuten darin, daß er mehr schreibt als von ihm verlangt wird, und im Idealfall sich beim Schreiben mehr amüsiert als der Leser beim Lesen. Wobei die Kriterien, wonach ein Aufsatz als ein guter solcher erkannt wird, brachial außer acht gelassen werden. Sie erleben es in diesem Moment: meine unausrottbare Angewohnheit, vom Thema abzuschweifen.
Meine Freundin Lina hat mal zu mir gesagt: „Das Abschweifen vom Thema ist eine der ergiebigsten Erkenntnisquellen.“ Oder habe ich das zu ihr gesagt?
Nicht gut angekommen bin ich mal mit einem Aufsatz, der vier Seiten lang war, von denen dreidreiviertel Seiten Einleitung waren. Heute würde man doch sagen: eine Meisterleistung!

Wer hätte mir zugestimmt, wenn ich den Gedanken geäußert hätte, daß ein Aufsatz in Deutsch das Publikum gut unterhalten sollte.
Wenn ich mal einen Aufsatz vor der Klasse vorlesen mußte/durfte, wurde immer sehr viel gelacht. So auch bei dem genannten Sieben-Seiten-Aufsatz in der Untertertia: die erfundene Geschichte über einen gescheiterten Überfall auf die Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg.

Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg

Sparkassen-Zweigstelle am Sittardsberg

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Was hat Weizsäcker denn gesagt?

In der Rede am 8. Mai 1985 – 40. Jahrestags des Kriegsendes in Europa – sagte Bundespräsident von Weizsäcker, der 8. Mai 1945 sei ein Tag des Befreiung gewesen.
Weizsäcker hat eigentlich doch etwas Selbstverständliches gesagt, und ist dennoch ein Wagnis eingegangen.
Daß der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war, der Befreiung von Faschismus, das hatten andere schon vorher gesagt. Ich hatte das gesagt, und die, mit denen ich mich geistig verwandt fühle. Wir standen damit im Gegensatz zu denen, die von „Zusammenbruch“ sprachen. Das war nicht bloß ein Unterschied in der Formulierung. Manche suchten den Ausweg aus dem Dilemma mit der Formulierung „Stunde Null“ – als könnte man die Geschichte einfach nochmal von vorn anfangen lassen.
Weizsäcker sprach gewissermaßen als Schiedsrichter des öffentlichen Bewußtseins.
Die Feststellung über die Bedeutung des Datums 8. Mai ist das Fazit der Rede, in der auch diese Sätze vorkamen:
„Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten. Wir gedenken der erschossenen Geiseln. Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten. Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.
[…] Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“
Der das sagte, wandte sich gegen den bis dahin geltenden herrschaftlichen Konsens, gegen die Staats- und Gesellschaftsdoktrin dieses Landes. Wer die Veranstaltung damals im Fernsehen gesehen hat, erinnert sich auch an die versteinerten Gesichter von Kohl und seiner Bagage. Das Prinzip der Konkurrenz („gegeneinander“) wurde von Konservativen stets als Element der Herrschaftssicherung gesehen und genutzt.
Das Hantieren mit Vorurteilen, Feindschaften und Haß, im Inneren wie im Äußeren, hat mit dem Ende Hitlers kein Ende gefunden. Es waren dieselben Vorurteile, wenig oder gar nicht temperiert, dieselben Opfer des Hasses, dieselben Feindschaften und dieselben Feindbilder. Gerade auch die Feindschaft gegen die Russen war konstituierendes Element der Nachkriegsordnung. Ohne den inneren und ohne den äußeren Feind hätte dieses Land, dieses Volk nicht auf Vordermann gebracht werden können.
Die Doktrin der CDU lautete: Wer nicht genauso denkt wie wir, der ist ein Feind, und den muß man bekämpfen, und dabei ist jedes Mittel erlaubt.
Erinnern wir uns an die Zeit vor 30 Jahren. Die 80er Jahre waren eine Zeit großer Auseinandersetzungen darüber, wie wir uns selbst verstehen, wie unsere Zukunft gestaltet sein soll und wie wir leben wollen. „Alternativ“ zu denken und zu leben (was damals vielleicht noch ein Begriff mit Inhalt war), das bedeutete, in die Reihe der Feinde eingereiht zu werden, gegen die Vorurteile, Feindschaft und Haß mobil gemacht werden.

Herr Loeb ist doof

Gunther Leobe hat einen Leserbrief an die Westdeutsche Allgemeine Zeitung geschickt (und die hat den Scheißdreck auch noch abgedruckt, am 21. August):
„Gabriel bremst Rüstungsexporte. Der selbsternannte Gutmensch Gabriel hat dabei vergessen: Wenn wir nicht Waffen liefern, dann werden sie woanders gekauft, und unsere heimische Industrie hat das Nachsehen.“
Der ist wirklich doof. So macht man das doch heute nicht mehr! Das ist doch „mega-out“, das ist 70er Jahre. Kriegspropaganda macht man heute anders. Da muß man etwas von „Menschenrechten“ erzählen und vom „Schutz Unschuldiger“. So kann man die These verkleiden, daß im Nahen Osten Waffenmangel herrscht.
Man ist immer wieder erstaunt, wie viel Idiotie in einen einzigen Satz hinein paßt. Wenn deutsche Rüstungskonzerne Waffen exportieren, meint er, „wir“ würden Waffen exportieren, er auch.
„Selbsternannt“ wird als Schimpfwort zwar gern benutzt, ist aber nicht beliebig anwendbar. Wann hat Sigmar Gabriel sich selbst zum Gutmenschen ernannt? Ich kann mich nicht erinnern. Es trifft ja auch nicht zu, daß WAZ-Leser Gunter Loebe ein selbsternannter Idiot ist. ICH habe ihn dazu ernannt.
Denn nicht von großer Geistesgabe zeugt der neidische Blick auf die Schandtaten der anderen: „Alle dürfen, bloß ich nicht.“
Dieser Neid läßt sich zum Nationalempfinden aufschäumen:
„Alle dürfen, bloß wir nicht.“
Unfreiwillig legt er offen, daß zwischen Marktwirtschaft und Kriminalität keine klare Grenze zu ziehen ist.
Wenn ich wüße, wo dem Günther Löbel sein Auto steht, würde ich es klauen. Und wenn die Polizei kommt, sage ich: „Ja, wenn ich dem sein Auto nicht klaue, dann wird es von jemand anders geklaut.“

Der beliebte deutsche Schriftsteller Frank Schätzing ist nicht doof. Er stellt sich schlauer an. In der Frankfurter Rundschau (20. August) ließ er verlauten:
„Wir müssen unseren Pazifismus überdenken. Wir sind heute ein anderes Land mit anderen Menschen… Wir können uns nicht mit Verweis auf unsere Vergangenheit nonchalant heraushalten.“
Während der Dummkopf Leobbe dem deutschen Spießbürger aus der Seele spricht, ist die Geistesgröße Schätzing dem deutschen Bildungsbürger gefällig. Dabei bringt er aber seine Beteuerung, daß „wir heute ein anderes Land sind“, sofort zum Einsturz. Die deutsche Seele sehnt sich doch seit je danach, aus der Vergangenheit entlassen zu werden. Spätestens seit Ende Mai 1945 erklingt immer wieder der Ruf, es müsse doch nun endlich mal vorbei sein mit der Vergangenheit.
Das aber widerspricht den Naturgesetzen. „Vorbei“ und „vergangen“ sind synonym. Was vorbei ist, wird immer vergangen bleiben, und das vergangen ist, bleibt immer vorbei. Selbst der Liebegott ist nicht allmächtig genug, um das Geschehene ungeschehen zu machen.
Was für den Naturwissenschaftler klar auf der Hand liegt, das könnte der Historiker vielleicht anders sehen: Die Zeit als physikalisches Kontinuum und ala historisches Kontinuum sind verschieden zu betrachten. Die Vergangenheit könnte durchaus als Zukunft Gestalt annehmen.

Daraus aber läßt sich erst recht keine Legitimation herleiten für die Lieferung deutscher Waffen in ein Kriegsgebiet.

Der 6. August ist Hiroshima-Tag

Atomic_cloud_over_Hiroshima„Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen anzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, daß euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.“
Bertolt Brecht: Leben des Galilei

Unsere_Zukunft_Atomwaffenfrei_-_Demo_Büchel_2008-2..

Was wäre dieses deutsche Volk ohne seinen Erbfeind?

Zitat:
„Unsere Staatsmänner in Bonn haben die Sowjets nicht für Menschen, sondern für entartete Teufel eingeschätzt. So waren sie nicht imstande, sich selbst in Gedanken an die Stelle des Gegners zu versetzen und sich zu fragen, was sie an seiner Stelle wohl tun würden… Das erste Erfordernis aber, um richtige Politik zu machen, besteht darin, in die Haut des Feindes zu schlüpfen… Die Sowjets …haben, um ehrlich zu sein, auch wenig Grund, deutschen Beteuerungen zu glauben. Es drohte also eine Situation, in der die Sowjets von den Deutschen um die Früchte ihres Sieges über Hitler gebracht werden könnten. Es drohte eine gewaltsame Revision des Sieges von 1945, und zwar von Seiten des Besiegten.“
Rudolf Augstein im Spiegel (1961)

Es fällt auf, daß hierzulande manche Leute über die Krim-Krise reden, als hätte der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden.

Warum mit mir nicht zu rechnen ist, wenn zu den Waffen gerufen wird

Bei der Lesung am 17. Dezember in der Spinatwachtel habe ich diesen Text vorgelesen:
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„Statt zu klagen, daß wir nicht alles haben, was wir wollen, sollten wir lieber dafür dankbar sein, daß wir nicht alles bekommen, was wir verdienen.“
Dieter Hildebrandt

Was ich 1967 in die Begründung meines Antrags auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen hineingeschrieben habe, weiß ich nicht mehr.
Wäre ich gezwungen, meine Entscheidung, den Dienst in der Bundeswehr zu verweigern, noch einmal zu begründen, würde ich auf folgende Zeitungsmeldung verweisen:
„Schwarzer Postbote in Thüringer Dorf schikaniert. Wegen seiner schwarzen Hautfarbe mußte die Post einen Briefträger in Vachdorf im Süden Thüringens versetzen. Bewohner des 800-Einwohner-Dorfes hatten den Afrikaner immer wieder bei seiner Arbeit behindert; u.a. schickten sie ihn wissentlich in falsche Richtungen, wenn er nach dem Weg fragte. Anschließend beschwerten sich die Bürger über den Boten. Daraufhin versetzte die Post den Mann aus Mosambik mit dessen Zustimmung zum Fahrdienst. Der Mann werde bei der Post als zuverlässige und gute Arbeitskraft geschätzt, betonte eine Sprecherin.“
Daß der gute Mann den Wunsch hatte, in diesem Loch nicht mehr Dienst zu tun und für diesen Abschaum der Menschheit keine Post mehr auszutragen, ist nur zu gut zu verstehen. Daß dieses Kaff aber nicht zur Strafe in Dreckdorf umbenannt und für drei Monate vom Postverkehr ausgeschlossen wird bei anschließender Verdoppelung des Portos, ist mir unbegreiflich.
Das Dorf liegt im Süden Thüringens, befand sich also 40 Jahre lang außerhalb des Geltungsbereichs jener Freiheit, die die Soldaten der Bundeswehr unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen haben. In dem Unrechtsstaat DDR waren die Bewohner dieses Dorfes 40 Jahre lang gezwungen, auf die Völkerfreundschaft Eide zu schwören; und die Stasi kam gucken, ob die auch wirklich schwören. Das haben die dann auch getan und dabei mit den Zähnen geknirscht. Aber ungebrochen blieb ihre Hoffnung, eines Tages der Freundschaft der Völker abzuschwören und endlich zu ihrem nationalen Wesen zurückzukehren, welches seinen höchsten Ausdruck darin findet, daß sie jemanden, der nach dem Weg fragt, absichtlich in die Irre führen.
Was muß daran verteidigt werden? Müßte nicht in jedem vernünftigen Menschen die Sehnsucht wachsen, daß dieses Dorf mitsamt dem Pack, das darin haust, ugandischen, birmanischen oder peruanischen Truppen in die Hände fällt?
Jahrzehntelang wurde uns in besorgtem Ton vorgehalten, unsere Bundesrepublik mitsamt ihrer Freiheit (Wege falsch zu beschreiben) sei von bösen Feinden bedroht, die nur darauf warten, hier einzumarschieren und uns unter ihre Herrschaft zu zwingen.
Diese deutsche Nation, die zwei Weltkriege vom Zaun brach und Millionen Menschenleben vernichtete, diese deutsche Nation, die die größte Gefahr darstellt, die die Menschheit je gekannt hat, entblödet sich nicht, sich selbst als Opfer einer Gefahr darzustellen. Diese Nation, der ich zutraue, daß sie zu einem dritten Weltkrieg bereit sein könnte und abermals Millionen Menschen vernichten würde, weil sie von dem Drang besessen ist, die Welt unter ihre Leidkultur zu zwingen, sorgt sich ernsthaft, unter fremde Herrschaft gezwungen zu werden. Das allein ist ein Aberwitz.
Aber selbst wenn es stimmen würde, selbst wenn andere Gewehr bei Fuß stehen würden, um über Deutschland ihre Herrschaft zu errichten – wäre das wirklich so schlimm?
Deutschland hat Fremdherrschaft erlebt. Vor 2000 Jahren waren es die Römer. Sie brachten uns die urbane Kultur und die Wasserleitung – und übrigens auch die wunderschöne Hauskatze. Sie bereicherten unsere Sprache mit Wörtern wie Nase, Name, Nummer, Mauer, Fenster und Schrift und führten hier solche Grundsätze ein wie „nulla poena sine lege“ und „dubio pro reo“.
Vor knapp 200 Jahren kam der Kaiser Napoleon mit seinen Franzosen. Sie brachten uns die Müllabfuhr, das Zivilrecht und die universellen Ideen von Freiheit und Gleichheit, auf die die Germanen nie von selbst gekommen wären. Napoleons Vorboten, die Hugenotten, haben den Deutschen doch erst das Essen mit Messer und Gabel gezeigt (was die Deutschen den Franzosen niemals verzeihen werden). So wie die Römer in Germanien die Steinzeit beendeten, beendete Napoleon in Deutschland das Mittelalter, seine Herrschaft hinterließ hier wenigstens den Hauch einer Vorstellung von gutem Essen, gutem Wein und guten Manieren. Die Franzosen haben uns Deutschen doch erst Kultur beigebracht.
Mag sein, daß die, die über dieses Land Fremdherrschaft errichteten oder errichten wollten, dies nicht uneigennützig taten. Aber für uns ist immer etwas Gutes dabei abgefallen. Den Kaffee verdanken wir der Belagerung Wiens durch die Türken.
Gewiß: Die verteidigungsbereiten Herrschaften werden das abtun als Schönfärberei. Fremdherrschaft sei schließlich keine Weihnachtsbescherung. Die Wirklichkeit sähe doch ganz anders aus. Ja, stimmt. Aber hier haben wir das Phänomen, das jeder Psychologe kennt: Von sich auf andere schließen. Wenn je im Zwanzigsten Jahrhundert Fremdherrschaft die Hölle war, dann war es die Herrschaft der Deutschen über andere. Das ist der Alptraum der Deutschen: daß andere mit ihnen umspringen könnten wie sie es mit anderen tun beziehungsweise tun würden wenn sie könnten. Würden – nach dem, was Deutsche der Menschheit im Zwanzigsten Jahrhundert zugefügt haben – andere über dieses Land eine Fremdherrschaft errichten, die die Protagonisten der Vaterlandsverteidigung an die Wand malen: bedauerlich wäre es. Aber ungerecht könnte ich es nicht finden.
Dabei ist es doch noch in frischer Erinnerung, wie segensreich fremde Herrschaft über die Deutschen ist. Man braucht gar nicht auf die Römer, Türken und Napoleon zu verweisen. Wie war es, als die Weltkriegs-Alliierten in unser Land eindrangen? Es war ein Aufatmen! Schluß mit den Verdunkelungen und der Angst im Luftschutzkeller, Schluß mit der Allmacht der Blockwarte und den Einberufungsbefehlen für Kinder! Als Deutsche von deutschen Führern beherrscht wurden, gab es Entbehrung und „Durchhalten“. Als die Amis kamen, gab es Schokolade und Zigaretten.
Meine Tante hat mir, als ich ein Kind war, ihre erste Begegnung mit amerikanischen Soldaten geschildert. Sie saß an einem Tisch, um sie herum die Soldaten. Sie stellten ihr eine Büchse Ananas hin und legten einen Dosenöffner daneben. Sie grinsten und kicherten. Diese naiven, gutmütigen Jungens waren gerührt, als die junge Frau zum ersten Mal in ihrem Leben die unbekannte Frucht genoß, Ananas aus Hawaii.
Nie zuvor wurden Besiegte von den Siegern so human behandelt wie die Deutschen von den Amerikanern. Die Amerikaner hielten die Deutschen für fähig, Demokratie zu lernen.
Kann man sich vorstellen, daß zur Wahrung des Deutschtums das Hören guter Musik mit der Todesstrafe bedroht wurde? Unter fremder Herrschaft konnte man endlich das Radio aufdrehen. Der Badenweiler Marsch und die Sondermeldungs-Fanfare verschwanden. Man hörte „In the Mood“ und „Moonlight Serenade“. Ja, Glenn Miller war auch Militärmusik. Aber selbst darin war etwas von dem kostbarsten Geschenk der Amerikaner an die Welt: Der Blues.
Gewiß: mit der Niederlage, die ein Sieg der Menschlichkeit war, hat das Volk der Deutschen sich nie abgefunden, wie ein Blick in die Chronik der Jahre 1989/90 zeigt, jener Jahre, in denen die Rationalität der Nationalität weichen mußte. Mit der Gewißheit, daß die Niederlage keine endgültige war, ließ es sich gut einrichten. „Wir sind wieder wer“. Die Schinkenspeckgesichter spießbürgerlicher Selbstzufriedenheit kenne ich.
Kindheit im Jahrzehnt nach dem vorläufigen Zusammenbruch ist mir auch noch gut in Erinnerung. Daß Kinder überhaupt Rechte haben, ist eine Idee der jüdisch-bolschewistischen Frankfurter Schule, die die Nation immer noch ganze zwei Jahrzehnte sich vom Leibe zu halten verstand. Man muß sich mal Klassenfotos aus den 50er Jahren angucken: Als hätten sich die Erwachsenen an den Kindern für 1945 rächen wollen. Der Gang zum Friseur war ein Antreten zum Appell. Allein: Es klappte nicht. Die Generation der in der Mitte des Jahrhunderts Geborenen mißriet gründlich. Für sie kam alles Gute aus der Fremde: Von Donald Duck bis zu den Beatles, wehrkraftzersetzende Blue Jeans, und undeutsche Helden wie James Dean: Helden, die nicht trotzig ihr Kinn der Weltgeschichte entgegenreckten, sondern sich voller Melancholie herumdrückten. James Dean führte nicht vor, wie man siegt, sondern wie ein Loser seine Würde zu wahren versucht.
Das größte Werk der mißratenen Generation war der Massenimport volksfremder Kultur: Gangsterfilme, Comic-Strips, Urwaldmusik. Man vergleiche Hemingway mit Hans Habe, Erica Jong mit Hera Lind, Grateful Dead mit den Fischerchören, Zappa mit Heino, Groucho Marx mit Mario Barth, Columbo mit Derrick, Jeanne Moreau mit Ruth Leuwerik, Madonna mit Nina Hagen, die Französin Romy Schneider mit der Deutschen Marika Rökk, „Casablanca“ mit „Briefträger Müller“, Gershwin mit Wagner!
Ist also etwas dran, daß die sogenannten „68er“ diese Gesellschaft „gründlich zivilisiert“ haben? Komisch klingt dieses Zitat der Antje Vollmer vor allem deshalb, weil sie es just in dem Moment in die Welt setzte, als die arrivierten Teile der „68er“-Kultur sich der Wende zum Guten Deutschen anschlossen. Doch in der Tat hatte die deutsche Linke ihre vergleichsweise beste Phase, als sie – als veritabler Bürgerschreck – mit dem deutschen Gemüt ihren Schabernack trieb. Kritische Vernunft und Humanität können sich in dieser Gesellschaft nur entfalten, wenn sie sich am Nationalempfinden funkensprühend reiben. Sonst kommt nix dabei raus.
Daß die Leichtigkeit des Seins unerträglich wäre, ist eine Schnapsidee, die man eigentlich von einem deutschen Idealistenkopp erwartet hätte. Diese Leute basteln ja immer noch an dem Vorurteil, daß Kultur etwas Wichtigeres sei als Zivilisation. Dabei ist es gerade der Unernst, der hierorts gern als „Oberflächlichkeit“ mißverstanden wird, mit dem das Leben sich erleichtern läßt, jawohl: erleichtern. Klüger, als Schwierigkeiten zu trotzen, ist, sie überhaupt zu vermeiden. Bequeme Sitze in der Straßenbahn sind für das allgemeine Wohlergehen wichtiger als das tiefgründelnde Grübeln über die Frage, warum wir über den Sinn des Lebens nachdenken.
Abwehr gegen Fremdherrschaft war immer Abwehr gegen Versuche, die Germanen zu zivilisieren. Die anderen führten mit den Deutschen immer Besseres im Schilde als die Deutschen mit sich selbst.

kaffeemannAus „Streiten Sie nicht mit einem Deutschen, wenn Sie müde sind“.

Gegen Atomwaffen!

Eben, vor einer Minute, kam ein Anruf vom Duisburger Friedensforum (Sieh an!). Für die Protestaktion gegen Atomwaffen in Büchel am 11. und 12. August will das Friedensforum hier mit einem Flugblatt werben und fragt an, ob mein Artikel, den ich für die DFG-VK geschrieben habe (2007) dafür nachgedruckt werden darf.
Selbstverständlich!
Der Text geht so:

Das Zeitalter der Atombombe ist noch nicht beendet

Am 6. August 1945 zerstörte eine amerikanische Atombombe die japanische Stadt Hiroshima. Am 9. August 1945 wurde die zweite Atombombe über der japanischen Stadt Nagasaki abgeworfen. Durch die beiden Atomexplosionen kamen mehr als 100.000 Menschen ums Leben. In den Jahren danach – bis heute – haben die radioaktiven Spätfolgen vielen Menschen Krankheit und Leid gebracht, noch tausenden das Leben gekostet.
Mit dem Einsatz dieser fürchterlichen Waffe endete der Zweite Weltkrieg, und es begann ein neues Zeitalter. In den Jahrzehnten nach 1945 schwebte die Gefahr eines Atomkriegs als ein Damoklesschwert über der Menschheit.
Mit den Atombombenabwürfen – so wird gesagt – sollte der Zweite Weltkrieg zu einem schnelleren Ende geführt werden, und es sollte das Risiko einer verlustreichen US-Invasion in Japan vermieden werden. Doch der eigentliche Grund verbirgt sich dahinter: Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland fiel die Anti-Hitler-Koalition, in der die Großmächte USA und Sowjetunion verbündet waren, auseinander. Die beiden Länder, die gegensätzliche Gesellschaftssysteme verkörperten, wurden zu Gegnern. Mit der Atombombe wollten die USA ihre Überlegenheit signalisieren. In Hiroshima und Nagasaki begann der Kalte Krieg.
Der Glaube, mit der Bombe ein politisches und militärisches Druck- und Drohmittel zur Durchsetzung ihrer weltpolitischen Ziele in der Hand zu haben, ließ die US-Administration eine Politik der Friedenssicherung durch Verhandlungen zugunsten einer „Politik der Stärke“ zurückstellen. Mit der oft beschworenen „sowjetischen Gefahr“ war immer die Infragestellung des Hegemonialanspruchs der USA und der Zukunftsperspektiven des kapitalistischen Gesellschaftssystems gemeint. Die US-Strategie der „Eindämmung“, des „Roll Back“ und der „Massiven Vergeltung“ basierte auf dem Atomwaffenmonopol der USA. Sie gründete sich auf die Voraussetzung, daß ein termonuklearer Krieg möglich, vorstellbar und vertretbar ist und daß er im klassischen Sinn gewonnen und verloren werden kann. Zu diesem Zweck wurde, erst recht nachdem die USA nicht mehr allein über Atomwaffen verfügten, die Atomwaffentechnologie weiterentwickelt: durch Atombomben-Flugzeuge mit großer Reichweite, durch mit Atomwaffen ausgerüstete U-Boote, durch Militärstützpunkte, Mittelstreckenraketen, Marschflugkörper, Interkontinentalraketen und schließlich durch das Programm der Weltraumrüstung SDI.
Die Bundesrepublik Deutschland wurde zum Vorposten der US-amerikanischen Atomstrategie. Allein die in der BRD stationierten Atomwaffen hätten ausgereicht, die gesamte Menschheit auszulöschen. Einigen Politikern reichte das nicht. Sie wollten die BRD selbst zur Atommacht machen. 1957 wurde die Frage der Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen von der Bundesregierung aufs Tapet gebracht. Der seinerzeitige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß damals: „Ein Verzicht auf Kernwaffen unter den gegebenen Umständen … würde militärisch eine Preisgabe Europas an die Sowjetunion bedeuten.“
1958 heißt es in einer Entschließung des Deutschen Bundestages, es sei notwendig, „daß die Streitkräfte der Bundesrepublik mit den modernsten Waffen so ausgerüstet werden, daß sie den von der Bundesrepublik übernommen Verpflichtungen im Rahmen der NATO zu genügen vermögen.“ Als 1968 der Atomwaffensperrvertrag abgeschlossen wurde, weigerte sich die Bundesregierung lange, diesem Abkommen, das die Weiterverbreitung von Atomwaffen einschränken sollte, beizutreten.
Der Kampf gegen die atomare Aufrüstung in den 50er und 60er Jahren war der Ausgangspunkt der Ostermarschbewegung, der Friedensbewegung, der Außerparlamentarischen Opposition und der systemkritischen Linken in unserem Land.
Mit dem Ende der Systemauseinandersetzung ist die Gefahr eines Atomkrieges keineswegs beseitigt. Heute verfügen mehr Länder über Atomwaffen als je zuvor, einige weitere Länder streben danach. Im Dauerkonflikt im Nahen Osten könnten Atomwaffen schon bald eine Rolle spielen.
In den sechs Jahrzehnten des „Atomzeitalters“ haben sich die USA stets geweigert, einem Abkommen beizutreten, das die Atombombe ächtet. Sie haben sich stets geweigert, sich zu verpflichten, Atomwaffen nicht als erste einzusetzen und nicht gegen Länder einzusetzen, die ihrerseits nicht über Atomwaffen verfügen und die USA nicht mit Atomwaffen bedrohen. Die USA beanspruchen für sich, Atomwaffen wann und gegen wen einzusetzen, wie es ihnen opportun erscheint. Der US-Kongreß beschloß, „das Sicherheitsdispositiv im gesamten Nuklearwaffenprogramm neu zu beleben und das Bekenntnis der Nation zur Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeiten der Vereinigten Staaten zu erneuern“.
Das Atomzeitalter ist nicht beendet. Der Kampf gegen die Atombombe kann daher auch nicht beendet sein.

„Keine Lösung“ oder 60 Jahre 17. Juni


Brecht reagierte auf den fragmentarischen Abdruck seines Briefes mit einem zweiten Brief, den das Neue Deutschland am 23.6.1953 veröffentlichte: „Ich habe am Morgen des 17. Juni, als es klar wurde, daß die Demonstrationen der Arbeiter zu kriegerischen Zwecken mißbraucht wurden, meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei ausgedrückt. Ich hoffe jetzt, daß die Provokateure isoliert und ihre Verbindungsnetze zerstört werden, die Arbeiter aber, die in berechtigter Unzufriedenheit demonstriert haben, nicht mit den Provokateuren auf eine Stufe gestellt werden, damit nicht die so nötige Aussprache über die allseitig gemachten Fehler von vornherein gestört wird.“ Daß Walter Ulbricht an solcher Art von Loyalität, die das Eingeständnis von Fehlern verlangt hätte, interessiert war, darf man bezweifeln.
Der bekannteste Kommentar von Bertolt Brecht zum „17. Juni“ ist das Gedicht „Die Lösung“ aus den Buckower Elegien. Es ist oft zitiert worden, meist in der Absicht, den Anspruch der DDR, ein demokratischer Staat zu sein, ebenso als ein Ding der Unmöglichkeit hinzustellen wie die Verbindung Brechts mit der DDR. Antikommunisten wollen den Klassiker literaturgeschichlich auf ihre Seite ziehen.

Dank euch, ihr Sowjetsoldaten!

Dank euch, ihr Sowjetsoldaten!

Foto: Bundesarchiv Wikimedia Commons


Die sozialistische Demokratie sollte die bürgerliche Demokratie übertreffen. Wo die bürgerliche Demokratie aufhört, geht die sozialistische Demokratie weiter. Sie darf also hinter die bürgerliche Demokratie nicht zurückfallen. Zu den Standards der Demokratie gehört, daß die Regierung vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, um das Vertrauen des Volkes bemüht sein muß und dann, wenn sie dieses Vertrauen nicht verdient, abgelöst und durch eine andere Regierung ersetzt werden kann. Das ist der normale Fall. Es fragt sich allerdings, ob dieses Volk, das deutsche, ein normaler Fall ist. Der Gedanke, daß ein Volk, das erst wenige Jahre zuvor zu zwei bis drei Dritteln hinter Hitler hergelaufen ist, mißtrauisch macht und durch nützliches Handeln wenigstens einen Teil des Schadens, den es angerichtet hat, wieder gutmachen sollte, erscheint mir nicht ganz abwegig. Vertrauen ist gut. Aber Kontrolle ist besser. Das hat Lenin zwar nie gesagt, aber es ist richtig, angesichts der Bilanz von 1945. Zu einem solchen Eingeständnis war auch die SED nicht in der Lage. Sie hatte – glaubte sie – dem Faschismus in Deutschland (Ost) die politisch-ökonomische Grundlage entzogen, und das Sein bestimmt das Bewußtsein. Ja. Aber wie schnell? Schon nach 8 Jahren?
Brechts zweiter Brief an die SED nimmt vorweg, was in dem Buch von Stefan Heym „Sechs Tage im Juni“ ausgeführt wurde: Der 17. Juni hatte einen Doppelcharakter. Die Arbeiter in Berlin (und anderswo) hatten Grund zur Unzufriedenheit. Sie demonstrierten und streikten zurecht. Aber dann mischten sich Provokateure unter die Streikenden. Geheimdienstagenten, Saboteure, Halbstarke und antikommunistische Terrorzirkel nutzten die Gunst der Stunde. Selbstverständlich war es so! Die DDR, in die man durch das Brandenburger Tor einfach so hineinspazieren konnte, war bis zum Mauerbau und danach auch noch ein Tummelplatz von Spionen und Saboteuren, die eines Auftrags der westdeutschen Regierung nicht bedurften, aber immer deren Wohlwollen genossen. Sie handelten ganz im Einklang mit der westlichen Politik im Kalten Krieg, der von der „Eindämmung“ zum „Roll back“ übergegangen war.
Gegenüber der offiziellen Lesart im Westen, wo der 17. Juni als Nationalfeiertag begangen wurde, war die Darstellung in Heyms Buch ein großer Fortschritt. Ja, der 17. Juni hatte auch eine reaktionäre, eine faschistische Dimension. Man muß allerdings bezweifeln, daß es wirklich möglich war, die „berechtigte Unzufriedenheit“ und die Provokateure säuberlich voneinander zu „isolieren“. Man muß bezweifeln, daß die antikommunistischen Hetzparolen den Demonstranten souffliert werden mußten.

Biedermänner als Brandstifter
Am 16. und 17. Juni 1953 haben Aufständische in (Ost-)Berlin und Weiterlesen