Gestern meldete die WAZ auf der ersten Seite:
„US-Atomwaffen bleiben in Deutschland.
Die noch in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen werden ungeachtet der Bemühungen von Außenminister Guido Westerwelle (FDP) offenbar vorerst nicht abgezogen. Berlin habe sich einverstanden erklärt, daß die Waffen im Land bleiben und sogar mit Milliarden-Aufwand modernisiert würden, berichtete die Berliner Zeitung unter Berufung auf Militärexperten.“
Im Kommentar auf Seite 2 heißt es: „Dabei weiß seit dem Ende des Kalten Krieges eigentlich niemand mehr, gegen wen diese Waffen eingesetzt werden sollen.“
Soll man diesen Satz so verstehen, daß Atomwaffen in einer bestimmten zeitgeschichtlichen Phase noch einen Sinn hatten, den sie nunmehr nicht mehr haben? Beziehungsweise: Daß die Atomwaffenstrategie der USA ihre Rationalität verloren hat (und demnach mal eine hatte)?
Man stelle sich vor, die Regierung würde beschließen, daß die Blindgänger des Zweiten Weltkrieges nicht mehr entschärft werden – und nicht nur das, sondern daß sie auch mit neuen Zündern versehen werden. Das wäre in der Tat irrsinnig. Etwas Ähnliches aber wird mit den Atombomben, den Blindgängern des Kalten Krieges, geplant. Sie sollen uns nicht nur erhalten bleiben, sie werden auch noch modernisiert.
Dem von den USA einseitig vorangetriebenen Wettrüsten haftete immer etwas Wahnhaftes an. Die Potentiale versetzten die Atommächte in die Lage, nicht nur den Gegner vollständig zu vernichten, sondern die Menschheit. Die Potentiale reichten aus, um gleich sechs bis sieben Menschheiten zu vernichten. Da liegt es nähe, vom „Rüstungswahnsinn“ zu sprechen. Wahnhaft ist auch die Vorstellung, durch „Abschreckung“ (also: durch immer mehr Rüstung) Krieg verhindern zu können. (Nicht durch Abschreckung, sondern nur durch Abrüstung ist der Frieden zu sichern).
Mit dem von den USA einseitig vorangetriebenen Wettrüsten war jedoch keineswegs beabsichtigt, ein „Rüstungsgleichgewicht“ zu erhalten. Die Rüstungsstrategie gründete sich auf die Voraussetzung, daß ein termonuklearer Krieg möglich, vorstellbar und vertretbar ist und daß er im klassischen Sinn gewonnen und verloren werden kann. Diese Doktrin gilt nicht nur für die Periode der Systemkonkurrenz. So irrational die Politik mit der Atombombe auch erscheint: ihr wohnt eine perfide Herrschafts-Rationalität inne.
Die USA wollen an der Option, ihre weltpolitischen Ziele mit Massenvernichtungsmitteln durchzusetzen, nicht aufgeben. Die Gefahr eines Atomkrieges besteht weiterhin.
Bitte lesen Sie den Kommentar der DFG-VK Duisburg „Das Zeitalter der Atombombe ist noch nicht beendet“.
Archiv der Kategorie: Zeitgeschichte
Auf den Mond können sie fliegen…
In Erinnerung an den Menschheitspionier Neil Armstrong, der 2003 hundert Jahre als geworden wäre, wenn er 1903 geboren worden wäre.
Bekanntlich hat „der Mensch“ im Jahre 1969 den Mond betreten. Eigentlich waren es ja nur wenige Leute, die auf dem Mond beschwerlich herumgetappst sind, aber der erste von ihnen betrat den Mond mit einer in poetischen Worten formulierten Beteuerung, es stellvertretend für die ganze Menschheit zu tun. Kann es vielleicht sein, daß diese in poetischen Worten formulierte Beteuerung auch dazu diente, die Frage nach dem wissenschaftlichen Nutzen des Apollo-Programms gar nicht erst aufkommen zu lassen? Wenn Sie es wissen, brauchen Sie es mir nicht zu sagen. Ein Jahr vor der Mondlandung war der Film „2001 Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick in die Kinos gekommen. Das Jahr 2001 ist inzwischen vorbei, und wir haben wahrnehmen können: die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. 2001 wäre niemand auf die Idee gekommen, zu sagen: „Wir empfangen rätselhafte Signale vom Jupiter, da fahren wir mal hin und gucken uns das mal an.“ Denn im wirklichen Jahr 2001 waren die Reisekostenetats schon arg zusammengestrichen. So wissen wir also, was die Abkürzung NASA bedeutet: Nothing achieved since Apollo.
In Nordkorea, so höre ich, haben die Leute bis heute nicht erfahren, daß „der Mensch“ den Mond betreten hat. Anderswo hat man es fast schon vergessen. Aber in den Jahren nach 1969 war der moderne Mensch in erstaunlicher Weise fähig, die Mondlandung auf das eigene Leben zu beziehen. Sie diente ihm keineswegs als Symbol für den Fortschritt, sondern als Symbol für die Unvollkommenheiten des Daseins. „Auf den Mond können sie fliegen, aber…“ war eine gebräuchliche Redewendung. Wenn irgendwo ein Loch im Asphalt war, das nach anderthalb Jahren immer noch nicht ausgebessert war, wurde gesagt: „Auf den Mond können sie fliegen, aber die Straße ausbessern können sie nicht!“ Oder man hörte: „Auf den Mond können sie fliegen, aber mal dafür sorgen, daß die Papierkörbe im Stadtpark geleert werden, das können sie nicht!“ Dabei blieb unberücksichtigt, daß diejenigen, die die Mondlandung zuwegebrachten, keineswegs für das Ausbessern von Schlaglöchern zuständig waren, beziehungsweise daß die, die sich als unfähig erwiesen hatten, die Papierkörbe im Stadtpark zu leeren, wohl auch das Apollo-Projekt zum Scheitern gebracht hätten. Man dachte damals eben, daß das Leeren von Papierkörben ein Menschheitsprojekt ist. Manch einer hatte sich von der Mondlandung versprochen, daß dadurch die Straßen besser werden, und sah sich anschließend enttäuscht. So können Illusionen zerplatzen!
Wie komme ich eigentlich darauf? Ich wollte doch etwas ganz anderes erzählen. Seit Urzeiten denken die Philosophen darüber nach, was zuerst da war: Der Dosenöffner oder die Konservendose. Wir wissen nicht zuverlässig, ob die Menschheit erst vor Regalen voller Konservendosen stand und sich fragte: „Wie kriegen wir die Dinger bloß auf?“, oder ob der Mensch mit dem Dosenöffner in der Hand dastand und rief: „Auf den Mond können sie fliegen, aber die Konservendose erfinden, das können sie nicht“. Egal! Ob der Mensch zuerst mit der Dose oder mit dem Öffner allein war: erst die Erfindung des Anderen machte das Eine zum Segen.
Die Erfindung der Schrift nutzte dem Menschen nicht viel. Kaum hatte er begonnen, etwas aufzuschreiben, war das Blatt auch schon zu Ende. Das war die Epoche der kurzen Mitteilungen, etwa: „Der Kaffee schmeckt köstl“ oder „Was du heute kannst bes“ oder „Verboten W“. Erst mit der Erfindung des Zeilenumbruchs begann die Epoche, in der die Gedanken zu Ende geführt werden konnten, und die Menschheit erfuhr endlich, daß der Kaffee köstlich schmeckt, daß es verboten ist, Walküren zu kneifen und daß das, was du heute besorgen kannst, getrost auf morgen verschoben werden darf. Es war ein simpler Trick, aber die Idee, bei Erreichen des rechten Randes auf der Seite einfach eine Zeile darunter am linken Rand weiterzuschreiben, mußte natürlich gegen massiven Widerstand durchgesetzt werden. Es hieß: „Wenn man immer wieder links anfängt, wo kommen wir da hin!“
Die Erfindung des Zeilenumbruchs sollte nicht geringer geachtet werden als die Erfindung der Schrift selbst. Damit sind aber nicht alle Schwierigkeiten beim Schreiben bewältigt.
Das Schreiben bleibt, auch mit Zeilenumbruch, ein linearer Akt. Man schreibt auf einer gedanklichen Geraden. Dabei macht es große Schwierigkeiten, daß das Tempo des Denkens und das Tempo des Schreibens verschieden sind. Gemessen am Schreiben geht das Denken viel zu schnell, und gemessen am Denken geht das Schreiben viel zu langsam. Vor allem aber haben Denken und Schreiben verschiedene Dimensionalität. Das Denken ist keineswegs linear. Aber ist ein Gedanke, der sich nicht niederschreiben läßt, überhaupt ein richtiger Gedanke?
Das sind die Umstände, die das Schreiben so schwierig machen. Mir zum Beispiel fällt das Schreiben schwer. Ich bin mir allerdings sicher, daß jemand, dem das Schreiben leichtfällt, niemals als Schriftsteller etwas taugt.
Einer hat die Schwierigkeiten mit der Verschiedendimensionalität von Schreiben und Denken auf eigenwillige Weise überwunden: Arno Schmidt mit „Zettels Traum“. Mit seiner nichtlinearen Schreibweise hat er allerdings die Last, die er sich als Schreiber ersparte, dem Leser aufgeladen.
Dieser Text ist eine große Glosse für mich, aber nur eine kleine für die Menschheit.
Bissingheim
Warum Bissingheim Bissingheim heißt und wer da wohnt, will Margarete Unverzagt wissen (Kommentar zu „Das Foto zum Zwanzigsten“).
„Bissingheim“ könnte ein Synonym für „Abgeschiedenheit“ sein. Der Stadtteil im Duisburger Süden ist im Norden, Süden und Osten vom Wald umgeben und grenzt im Westen an den riesigen (stillgelegten) Wedauer Rangierbahnhof.
Bissingheim wurde von 1916 bis 1920 als Siedlung für Kriegsverletzte gebaut und benannt nach dem Gründer des „Vereins Mustersiedlungen für Kriegsbeschädigte“, dem preußischen General Moritz von Bissing (nach dem ist auch Bissingheim, Ortsteil von Hagen, benannt).
Zur gleichen Zeit wurde auch Wedau (auf der westlichen Seite des Rangierbahnhofs) als Eisenbahnersiedlung errichtet. Auch Bissingheim wurde zu einer reinen Eisenbahnersiedlung.
Die Stadtteile sind nicht „gewachsen“, sondern wurden „in einem Guß“ geplant. Beide Orte haben ein einheitliches Bild. Im Unterschied zu Wedau wurde Bissingheim kaum erweitert. Bissingheim und der Ortskern von Wedau haben ihren altmodisch-dörflichen Charakter erhalten. Die Eisenbahnersiedlungen unterschieden sich von den „Mietskasernen“ der um die großen Fabriken Es wurden großzügig Flächen für Gartenwirtschaft und Kleinviehhaltung eingeplant.
Da der Bahnhof und das Ausbesserungswerk stillgelegt wurden, wohnen dort kaum noch aktive Eisenbahner, aber noch viele Eisenbahnpensionäre. Bissingheim ist ein Alte-Leute-Viertel. Die Bahn hat ihre Immobilien verkauft, die Wohnungen sind also nicht mehr Bahnbeschäftigten vorbehalten. Wer nach Bissingheim ziehen will, hat wohl einen Hang zur kollektiven Einsiedelei.
Wedau und Bissingheim und der Rangierbahnhof liegen auf einem Gebiet, das vorher dem Grafen Spee gehörte. Der war durch die Bewirtschaftung seines riesigen Grundbesitzes schon sehr reich. Aber der Flächenbedarf für die Ansiedlung von Industriewerken und Wohnraum für die wachsende Bevölkerung machte ihn noch reicher.
Der Wedauer Bahnhof war der größte Rangierbahnhof der Welt (Foto: heutiger Zustand). Wegen des Eisenbahnanschlusses wollte Krupp sein Hüttenwerk im Norden von Wedau ansiedeln. Dann entschied er sich aber für den Stadtort Rheinhausen. Das Gelände zwischen Kalkweg und Masurenallee überließ er der Stadt für die Errichtung von Sportanlagen („Sportpark Wedau“). Wo das Wedaustadion und der Regattasee liegen, sollten zuerst Hochöfen hin. Krupp nutzte das Gelände für Werkswohnungen und für das Ablagern von Hochofenschlacke.
Auf dem Schlackeberg (Foto) hat man seine Ruhe. Kaum jemand kommt auf die Idee, da hochzuklettern (obwohl das keine alpinistische Höchstleistung verlangt). Darum kennt kaum noch jemand die Flak-Anlage (Foto), die seit dem Kriegsende vor sich hin verwittert.
Heute ist diese Anlage von Bäumen und Sträuchern verborgen. Als junger Mensch habe ich die Flak-Anlage entdeckt und hatte von dort einen Überblick über große Teile des Duisburger Südens. Dorthin hatte man 15jährige Jungens postiert, um sie zu verheizen für den Führer, das Arschloch.
Empfehlung aus der Weltbühne: „Rechte Diskurspiraterien“
Ich empfehle:
Regina Wamper / Helmut Kellershohn / Martin Dietzsch (Hg.): Rechte Diskurspiraterien. Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen. Unrast Verlag 2010 (Edition DISS). 288 S. 19.80 Euro
Rechte Adaptionen linker Symbole und Ästhetik und was dagegen getan werden kann. In den letzten Jahren ist ein verstärktes Bemühen auf Seiten der extremen Rechten zu beobachten, Themen, politische Strategien, Aktionsformen und ästhetische Ausdrucksmittel linker Bewegungen zu adaptieren und für ihren Kampf um die kulturelle Hegemonie zu nutzen. Dabei handelt es sich keineswegs mehr nur um ein Steckenpferd der intellektuellen Neuen Rechten, vielmehr wird dies auch von NPD und militanten Neonazis praktiziert. Im Resultat hat sich die extreme Rechte eine Bandbreite kultureller und ästhetischer Ausdrucksformen angeeignet, indem sie sich am verhaßten ‚Vorbild’ der Linken abgearbeitet hat. Man könnte auch sagen: Um überzeugender zu wirken, hat sie kulturelle Praktiken und Politikformen der Linken ‚entwendet’ – allerdings nicht, ohne sie mit den eigenen Traditionen zu vermitteln. Solche Phänomene sind keineswegs neu. Auch der Nationalsozialismus bediente sich der Codes und Ästhetiken politischer Gegner und suchte Deutungskämpfe gerade verstärkt in die Themenfelder zu tragen, die als traditionell links besetzt galten. Auch in den 1970er Jahren waren solche Strategien vorhanden. Es stellt sich die Frage, warum und in welcher Form diese Diskurspiraterien heute wieder verstärkt auftreten.
Aus dem Inhalt:
Helmut Kellershohn, Martin Dietzsch: Aktuelle Strategien der extremen Rechten in Deutschland – Sabine Kebir: Gramscismus von rechts? – Volker Weiss: Sozialismusbegriff bei Moeller van den Bruck und Oswald Spengler – Volkmar Woelk: Strasserismus und Nationalbolschewismus – Renate Bitzan: Feminismus von rechts? – Richard Gebhardt: Völkischer Antikapitalismus – Fabian Virchow: Antikriegs-Rhetorik von rechts – Helmut Kellershohn: Das Institut für Staatspolitik und die Konservativ-subversive Aktion – Lenard Suerman: Autonome Nationalisten – Regina Wamper, Britta Michelkens: Gegenstrategien – Jens Zimmermann: – Kritik des Rechtsextremismusbegriffs.
Von Zeit zu Zeit werden Sie an dieser Stelle über Standardtitel in der Buchhandlung Weltbühne informiert – nicht immer das Neueste, aber immer empfehlenswert.
Wenn Sie bestellen wollen, dann hier. Erinnern Sie sich stets an den Slogan:
„LIEBE leute BESTELLT bücher IN der BUCHHANDLUNG weltbühne UND sonst NIRGENDS.“
Weltbühne muß bleiben.
Wer nichts zu verbergen hat ist ein Idiot
In der Sendung von Anne Will ist immer einer dabei, der für das Quatschreden zuständig ist. Meistens nimmt man dafür Arnulf Baring. Der erfüllt diese Rolle zuverlässig, und nach spätestens 40 Minuten flippt er aus. Letztens, beim Thema Terrorgefahr, war es Don Jordan, Deutschlandkorrespondent, Deutschlandkenner, US-Amerikaner und Patriot. Als solcher hat er für den patriot act was übrig. Die Deutschen, so meinte er, bräuchten den patriot act ja nicht wortwörtlich zu übernehmen. Aber, so sagte er, „zu sozial ist unsozial und zu liberal ist auch unsozial“. Es wäre doch besser, mal auf ein paar Grundrechte zu verzichten als in die Luft zu fliegen. Und wer nichts zu verbergen hat…
Der Argwohn, daß Freiheit unsicher mache, begleitet die Patrioten ebenso durchs Leben wie die Idee, daß Sicherheit durch den Verzicht auf so ein paar lumpige Grundrechte zu erreichen sei und daß die Nation einem so viel wert sein müßte, daß man ihr seine persönliche Freiheit gern in den Rachen schmeißt. Es will mir allerdings nicht einleuchten, daß ich die Gefahr, in die Luft zu fliegen, dadurch heraufbeschwöre, daß ich in meinen vier Wänden mache was ich will, und daß die Gefahr, in die Luft zu fliegen, dadurch gebannt werden könnte, daß die Regierung weiß, mit wem ich wann und wie oft und wie lange telefoniert habe. Die Formel je-mehr-Freiheit -desto-weniger-Sicherheit-und-je-weniger-Freiheit-desto-mehr-Sicherheit ist nicht nur unsympathisch, sondern auch illusionär. Und wer nichts zu verbergen hat ist ein Idiot.
Freiheit und Demokratie sind nicht sehr beliebt beim deutschen Menschendurchschnitt. Denn die Freiheit stellt Ansprüche. Freiheit strengt beim Denken mehr an als Unfreiheit. Die Freiheit der Meinung schützt zwar vor der Zensur, aber nicht vor der Kritik. Die Freiheit der Meinung ist die Freiheit der Intelligenz, die als störend oft empfunden.
Der legendäre Kleine Mann hat an der Freiheit der Meinung keine rechte Freude, weil sie mir die Freiheit gibt, ihm das Herumschwadronieren seiner Gehässigkeiten übel zu nehmen. Dann mault er: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ Soll heißen: „Das wird man doch nicht kritisieren dürfen“.
Eine bestimmte Sorte Mensch, die im Inneren des Landes keineswegs eine kleine Randgruppe bildet, kann sich mangels besserer Einsicht unter der Freiheit der Meinung nichts anderes vorstellen als das Recht, Sauereien von sich zu lassen. Und dann wird dauernd gefragt, ob die Menschen, die den schnauzbärtigen Haßprediger verachten, sein Machwerk überhaupt gelesen haben. Nein. Ich habe das Buch von Thilo Sarrazin nicht gelesen. Ich muß es auch nicht lesen. Es ist viel daraus zitiert worden, und ich kann mich nicht entsinnen, daß der Autor jemals reklamiert hätte, seine Kernthesen seien falsch dargestellt worden. Darum bin ich befugt, das, was ich über das Buch von Hörensagen kenne, beim Wort zu nehmen.
Es ist auch Quatsch, wenn der Duisburger Museumsdirektor Raimund Stecker erzählt, man dürfe „diese Themen nicht totschweigen“ und dem Sarrazin im Lehmbruck-Museum ein Forum bietet (WAZ: „Bühne für Haß“). Über das Indiskutable nicht zu diskutieren hat nichts mit Totschweigen zu tun. Ich diskutiere auch nicht mit einem Handtaschenräuber darüber, wem die Handtasche gehört.
Die Phrasen des Stammtisches und solche Ansichten wie der Herr Sarrazin von sich gibt waren noch nie der Zensur unterworfen. Darum hat der legendäre Kleine Mann gegen Zensur nichts einzuwenden.
Viele sind bereit, auf Freiheit zu verzichten. Nicht weil sie mehr Sicherheit wollen, sondern weil sie weniger Freiheit wollen.
aus DER METZGER 93 (2011)
Die Fädenzieher
Wer hat eigentlich das Attentat auf die New Yorker Hochhäuser am 11. September 2001 verübt? Darüber gibt es Bekanntmachungen. Diese aber werden hier und da angezweifelt. Es gibt Leute, die argwöhnen, der US-Geheimdienst CIA könnte es gewesen sein beziehungsweise „dahinterstecken“. Manche halten das für sehr wahrscheinlich, manche halten es sogar für ausgemacht: Der CIA war‘s, anders kann es gar nicht gewesen sein. Die Leute, die sowas meinen, werden als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet, obwohl ihre Betrachtungen eher an Wünschelrutengängerei als an Theorie erinnern.
Das Attentat von New York gehört – ähnlich wie der Mord an Kennedy – zu jenen Ereignissen, bei denen „viele Fragen offenbleiben“. Nicht alles, was man weiß, will man wissen. Nicht alles, was der Regierung bekannt ist, gibt sie bekannt. Nicht alles, was sie bekanntgibt, ist wahr. Man ist kaum geneigt, das, was der Präsident Bush gesagt hat, für sehr viel seriöser zu halten als das, was dem Publikum an Verschwörungen aufgetischt wird.
Zu den Auftischern gehört zum Beispiel ein Journalist namens Wisnewski. Er ist kein Neuling. Ihm hat schon einmal geschwant, daß der RAF-Terrorismus von den Herrschenden trefflich ausgenutzt wurde, etwa nach der Devise: Wenn es den Terrorismus der RAF nicht gäbe, müßte man ihn erfinden. Daraus schloß er messerscharf: Der Terrorismus der RAF ist erfunden worden. Dann hat er ein Buch geschrieben, daß die ganze RAF eine Inszenierung der Geheimdienste war.
Nicht weniger verrückt aber ist das Lamento über die diversen Verschwörungs-Verkäufer. Ach, warum sollen die Kaffeesatzleser nicht das Publikum mit zusammenphantasierten Räuberpistolen in Atem halten! Das ist zwar bekloppt, aber auch nicht bekloppter als die Yellow-Press, deren unendliche Geschichte vom Schwesternzwist im Hause Grimaldi das Weltbild eines wahlberechtigen Millionenpublikums vernebelt.
Die Lamentierer sehen das anders: „Könnte das daran liegen, daß der Haß auf die Amerikaner zur Zeit im Trend liegt?“ fragte Ivo Bozic in Jungle World, und Henryk M. Broder antwortete: „Ich glaube, daß der Antiamerikanismus teilweise an die Stelle des Antisemitismus getreten ist, als Bindemittel nationaler Emotionen.“ Na? Wittert man da nicht die Verschwörung, die von den Vietnam-Protestierern der 60er Jahre bis zu den Hakenkreuzschmierern reicht? – Broder weiter in diesem Sinne: „Radikale Linke wie Rechte leben davon, daß sie…“ Das ist das Lieblingsthema derer, die im übrigen eine Verschwörung der Verschwörungstheoretiker beklagen. Ihre Logik: Weil die Verschwörungstheorien verrückt sind, kann es keine Verschwörungen geben. Klar! Sonst würde noch am Ende jemand glauben, der Sender Gleiwitz wäre gar nicht von polnischen Soldaten angegriffen worden…
Also wenn Sie mich fragen, könnte es so gewesen sein:
Die Twin-Towers von New York hat der CIA selbst umgeschmissen – ohne es zu wissen.
Man muß bedenken: Wenn in irgendwelche Angelegenheiten Geheimdienste verwickelt sind, spielt sich alles nach ganz anderen Regeln ab als nach denen von Ursache und Wirkung, die wir kennen. Geheimdienste haben ihre eigene Logik. Man denkt dort um sieben Ecken herum.
Etwa so: Wenn etwas so geheim ist, daß der Gegner es auf keinen Fall erfahren darf, müssen wir es ihm mitteilen. Wenn etwas so geheim ist, daß es auf keinen Fall bekanntwerden darf, müssen wir es bekanntgeben. Denn wenn wir es geheimhalten, dann findet die Gegenseite es heraus. Was wir bekanntgeben, glaubt die Gegenseite nicht. Also geben wir das bekannt, was niemand erfahren darf. Da die Gegenseite aber genauso schlau ist, wissen die, daß das Bekannte in Wirklichkeit geheim und das Geheime in Wirklichkeit bekannt ist. Also sind wir noch schlauer und glauben das, was wir nicht glauben und glauben nicht, was wir glauben. Und so weiter ad infinitum. Wer in dieser Logik befangen ist, weiß am Ende alles, also gar nichts. Da der US-Geheimdienst CIA alles weiß, weiß er nicht, was er tut.
Was man den Verschwörungstheoretikern also vorhalten muß, ist, daß ihre Verschwörungstheorien zwar verrückt sind, aber nicht verrückt genug, um hinter das Geheimnis zu kommen. Es stimmt zwar, daß da hinter den Kulissen an irgendwelchen Fäden gezogen wird. Aber es stimmt nicht, daß die Fädenzieher sich alles ausgedacht haben und alles lenken, wie sie es sich ausgedacht haben. Es sind nicht die Fäden eines Marionettentheaters, sondern eher die Fäden eines Gordischen Knotens. Einmal dran gezogen, und – schwupp – fallen die Hochhäuser um, ohne daß der Fädenzieher merkt, daß er sie umgeschmissen hat. So war es, oder? Aber auf mich hört ja keiner. Aus einem Fenster der alten Villa ließen Schwester Irene Graves und Fräulein Über schaufelweise Cornflakes auf die ganze Sanatoriumsgesellschaft hinabrieseln.
..
Neu in der Weltbühne: „Das hat doch nichts mit uns zu tun!“
Ich empfehle:
Regina Wamper / Ekaterina Jadtschenko / Marc Jacobsen (Hg.): „Das hat doch nichts mit uns zu tun!“ Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien. Edition DISS im Unrast Verlag 2011. 184 S. Pb. 18 Euro
Verlagstext: Am 22. Juli 2011 explodierte in Oslo eine Autobombe, die acht Menschen tötete. Wenig später tötete der selbe Täter auf der Insel Utøya 69 junge Sozialdemokratinnen. Nach seiner Festnahme äußerte er antimuslimische und antimarxistische Ansichten. Die Autorinnen analysieren deutsche Medien unter dem Gesichtspunkt, wie dort dieses Ereignis eingeordnet wurde, ob und welche Diskursverschiebungen stattgefunden haben. Verschränkungen mit antimuslimischen Diskursen und deren der Extremismusbekämpfung werden besonders beachtet. Analysen zu der Reaktion extrem rechter Medien beleuchten Distanzierungen und Solidarisierungen.
Beiträge von Jonas Bals, Martin Dietzsch, Sebastian Friedrich, Astrid Hanisch, Margarete Jäger, Helmut Kellershohn, Sebastian Reinfeldt, Bernhard Schmid, Hannah Schultes.
Von Zeit zu Zeit werden Sie an dieser Stelle über Neueingänge in der Buchhandlung Weltbühne informiert – nicht immer das Neueste, aber immer empfehlenswert.
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„Liebe LEUTE bestellt BÜCHER in DER buchhandlung WELTBÜHNE und SONST nirgends.“
Weltbühne muß bleiben.
Mehr Bürokratie täte uns allen gut
Im Fernsehen redet einer dieser neoliberalen Schwätzer, der als „Philosoph“ Unternehmer berät, und er beklagt sich dabei, daß wir seit Generationen von Politikern regiert werden, die den Bürgern mißtrauen.
Was für eine Erkenntnis aber auch! Als ob Regierung und Gesetzgebung jemals etwas anderes gewesen wäre und etwas anderes sein könnte!
Werfen wir doch mal einen Blick in eines der Hauptwerke der Gesetzgebung: in das Strafgesetzbuch. Das ganze Werk ist durchweht vom Geist des Mißtrauens. Der Gesetzgeber traut uns zu, daß wir die Leute betrügen (§ 263), in einer Kirche ruhestörenden Lärm verursachen (§ 167), jemandem widerrechtlich etwas wegnehmen (§ 242), Amtspersonen beleidigen (§ 196), unbefugt in Küstengewässern fischen (§ 296a) und groben Unfug anstellen (§ 360). Der Gesetzgeber hat sich in seiner Weisheit keineswegs damit begnügt, den Menschen von derlei Handlungen abzuraten, sondern diese unter Strafe gestellt. Denn der Gesetzgeber vermutet, daß die Leute sich nicht aus Freundlichkeit, Wohlerzogenheit und Einsicht an die Gesetze halten, sondern, täten sie es nicht, Nachteile auf sich ziehen würden, die sie lieber vermeiden. Im Strafgesetzbuch steht nicht: „Wenn du nicht klaust, kriegst du ein Bonbon“, sondern: „Wenn du klaust, wirst du eingesperrt“.
So kann man also annehmen, daß all die Mißstände, die die Neoliberalen beklagen, gar keine Mißstände sind, sondern nur als solche an die Wand gemalt werden. Subventionen? Wieso eigentlich nicht? Die Steuern sind zu hoch? Ach was! Die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden? Wieso eigentlich? Straßenverkehrsordnung? Ja bitte! Die Neoliberalen wollen nämlich am liebsten die Verkehrsregeln durch die Kräfte des Marktes ersetzen, will heißen: Je dicker das Auto desto Vorfahrt. Und wenn immer wieder die „Bürokratie“ beklagt wird, dann ist damit nichts anderes gemeint als die simple Verwaltung, auf die eine hochentwickelte, diversifizierte Industriegesellschaft lieber nicht verzichten sollte.
aus DER METZGER 73 (2005)
Chonique Scandaleuse
Mit der Einrichtung von Bundesamt und Landesämtern für Verfassungsschutz 1950 begann eine Chronik der Skandale und Merkwürdigkeiten. Eine Übersicht (Stand: Februar 2012).
1953: Die „ Vulkan-Affäre“. Aufgrund eines Dossiers des Verfassungsschutzes wurden in einer Operation mit dem Decknamen „Vulkan“ über dreißig Personen verhaftet, denen Wirtschaftsspionage für die DDR vorgeworfen wurde. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos. Einer der zu Unrecht Verdächtigten beging in der Haft Selbstmord.
1954: Die John-Affäre: Otto John, erster Chef des Verfassungsschutzes, floh in die DDR. Johns Motive wurden nie geklärt. John kehrte in die BRD zurück und erklärte – wenig glaubhaft –, er sei entführt worden.
Sein Nachfolger, Hubert Schrübbers, wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, weil seine Verwicklung in die Terrorjustiz des Naziregimes herausgekommen war.
1956 ff: Das KPD-Verbot. Das vom Bundesverfassungsgericht erlassene Verbot der KPD wurde von herrschenden Kreisen in der BRD dazu genutzt, den Kalten Krieg im Inneren des Landes zu führen und alle oppositionellen fortschrittlichen Bestrebungen zu kriminalisieren (siehe DER METZGER 78 et al). Hunderttausende Ermittlungsverfahren wurden eröffnet, tausende Verhaftungen durchgeführt. Die Verfassungsschutzämter versorgten Polizei, Justiz und Presse mit „Informationen“.
1963: Die Telefon-Affäre. Das Kölner Amt hatte Weiterlesen
Neu in der Weltbühne: „Von Arisierung bis Zwangsarbeit“
Ich empfehle:
Ulrich Sander (Hg.): Von Arisierung bis Zwangsarbeit. Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 bis 1945. PapyRossa Verlag 2012. 348 S. mit zahlreichen s/w-Abbildungen. 16,90 Euro
Verlagstext: „Zum Beispiel Krupp. Der Konzern habe sich stets um einen humanen Kapitalismus bemüht, berichtete das Fernsehen zum 200jährigen Firmenjubiläum. Ob da auch an die zwölf Jahre nach 1933 gedacht war? Das letzte Tabu sei gebrochen, hatte es mit Blick auf die verdienstvolle Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ geheißen. Aber „blinde Flecken“ blieben trotzdem. So in einem Bereich, der weniger lautstark diskutiert wird, jedoch mindestens ebenso wichtig war für die Funktionsweise der faschistischen Herrschaft in Deutschland wie die Wehrmacht: Die Rolle von Wirtschaftsführern und Unternehmen bei faschistischen Planungen für Krieg und Massenmord, als Akteure und insbesondere als Profiteure. Das Buch stützt sich auf selbstrecherchiertes Material von Geschichtswerkstätten und VVN-BdA, um an Verbrechen der wirtschaftlichen Eliten an Rhein und Ruhr zu erinnern: Von Abs bis Zangen, von Flick bis Quandt, von IG Farben bis Oetker-Pudding, von Arisierung bis Zwangsarbeit. Und auch Krupp wird nicht vergessen.“
Ulrich Sander ist METZGER-Autor.
Die Abkürzung VVN-BdA steht für Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten.
Eine ausführliche Buchbesprechung folgt in einer der nächsten METZGER-Ausgaben.
Von Zeit zu Zeit werden Sie an dieser Stelle über Neueingänge in der Buchhandlung Weltbühne informiert – nicht immer das Neueste, aber immer empfehlenswert.
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Weltbühne muß bleiben.
Die Nation in der Gestalt einer Leberwurst
Das berichtete die Zeitung Standard (Wien):
„Italienischstämmiger Moderator verkündete das Ausscheiden Deutschlands
aus der EURO mit einem Lächeln
Berlin/Wien – Das nächste Grinsen wird sich Ingo Antonio Zamperoni
verkneifen: Der italienischstämmige Moderator verkündete Donnerstagabend
in den ARD- Tagesthemen das Ausscheiden Deutschlands aus der EURO mit
einem Lächeln: „Und beenden möchte ich diese Tagesthemen – aus gegebenem
und persönlichem Anlass – mit Worten des italienischen Dichter-Fürsten
Dante: ,Das Gesicht verrät die Stimmung des Herzens.‘ Ich weiß nicht,
was Ihnen mein Gesicht jetzt verrät, aber seien Sie versichert, dass ich
innerlich ziemlich zerrissen bin. In diesem Sinne: ,che vinca il
migliore‘, möge der Bessere gewinnen.“
So weise sah es das deutsche Publikum nicht. Über Zamperoni ergoss sich
eine Welle der Empörung: Von einer „Lawine der Reaktionen“, berichtet
blog.tagesschau.de.“
„Lawine der Reaktion“ würde eher zutreffen.
Deutsches Sprache
Vor ein paar Tagen, um Mitternacht, hörte ich von der Straße her folgende, von mehreren Personen männlichen Geschlechts vorgetragene Äußerung (ich zitiere wörtlich):
„Wööööh! Öbbööö! Wööhöö Deutschlandöööh!“
Letzte Nacht, um Mitternacht, hörte ich von der Straße her eine Frauenstimme:
„Wir haben Deutschland geschlaggeeen!“
Was hört sich besser an?
Der Sprachpflege wäre es zuträglich, wenn
a) man mehr Ausländer ins Land holt,
b) die deutsche Nationalmannschaft öfter ein entscheidendes Fußballspiel verliert.
Beflaggung
Frau Fischer hat in der WAZ einen Kommentar zusammenphilosophiert
„Die Generation 30+ … Jobs gibt es nicht, Rente kaum. Die Beiträge steigen, die Erträge sinken, nicht einmal Riestern wird noch reichen. Gearbeitet wird mehr, verdient weniger. Und was reinkommt, fließt in Versicherungen, die wohl nie leisten werden, was sie nun noch versprechen. In einem Alter, in dem sie angekommen sein wollten, hangeln sich Zigtausende von Praktikum zu Befristung, und wenn sie in ihre Träume investieren wollen, zeigt ihnen der Finanzberater ihre Rentenlücken. Die Generation hat Ausbildung, Auslandserfahrung und trotzdem Angst… Der Staat führt das Rundum-Sorglos-Paket nicht mehr…“
Ein Kommentar, der (wie sagt man?) „schonungslos offenlegt“ – ja, was legt er offen? Das, woran man sich mittlerweile gewöhnt zu haben hat.
Es wäre ja schon ein kleiner Erkenntnisgewinn, wenn Journalisten aufhören könnten, dauernd alberne Bezeichnungen für „Generationen“ zu erfinden, wenn es in Wahrheit um Gesellschaft geht, und wenn sie damit aufhören könnten, selbstverliebt schnittige Formulierungen zu erfinden. Das „Rundum-Sorglos-Paket“ ist ein schicker Spruch und zugleich eine Diffamierungs-Floskel für den Sozialstaat, den es hier wohl mal in Ansätzen gegeben haben soll und der nun perdu ist. Der Staat verweigert die sozialstaatlichen Leistungen, und zwar nicht etwa deshalb, weil er diese Leistungen nicht mehr erbringen kann, sondern weil er sie nicht mehr erbringen will. Er könnte schon, wenn er wollte. Aber er will nicht. Und auch das hat sich verändert in den letzten 16 Jahren: Die, die in dieser Gesellschaft die Entscheidungen treffen, halten es nicht mehr für nötig, das System, in dem wir leben, als die beste aller Welten anpreisen zu lassen. Sollen die Leute doch maulen!
Ja, in Ansätzen hat es den hier wohl mal gegeben, den Sozialstaat. Hier konnte man zwar krank werden oder einen Unfall erleiden. Hier konnte man zwar infolge von Invalidität oder wegen fortgeschrittenen Alters seine Arbeitskraft einbüßen. Hier konnte man zwar (anders als in der DDR) arbeitslos werden. Aber in einem gewissen Maße sollte sich die Gesellschaft für die Sicherung gegen die Lebensrisiken zuständig fühlen, was heute als „Rundum-Sorglos-Paket“ bemäkelt wird.
Das Gegroll der Frau Annika Fischer ist der Katzenjammer, der sich immer einstellt, wenn man billigen Sekt getrunken hat. Am 3. Oktober 1990 knallten die Korken, weil man glaubte, fröhlich sein zu müssen, als die alte Tante DDR sich verabschiedete (Annika Fischer hat damals bestimmt mitgeprostet). Nur hat man übersehen, daß damals eben nicht nur die DDR zu Ende ging. Auch die gute alte Bonner Republik ging damals mit zugrunde. Die Bundesrepublik Deutschland, die wir mal kannten, konnte den Fall der Mauer ebenso wenig überleben wie die DDR – sie hat ihn nicht überlebt.
Den Katzenjammer der Leute, die sich mal für die Sieger hielten, will ich nicht hören.
aus DER METZGER 76 (2006)
In Griechenland…
…wurden die Parteien, die das Land in die Krise gewirtschaftet haben, wiedergewählt.
Folglich ist unsere Bundesregierung mit der Regierungsbildung in Athen sehr zufrieden.
DER METZGER wird 100: Atmosphäre der Beobachtung (Beobachtung der Atmosphäre)
Ein weiterer Auszug aus „‚Über sowas könnte ich mich kaputtlachen.‘ 33 1/3 Fragen an den METZGER-Herausgeber Helmut Loeven, ersonnen von A.S.H. Pelikan und Heinrich Hafenstaedter“ in DER METZGER Nr. 100 (Mai 2012):
Hafenstaedter: Im Verfassungsschutzbericht des Bundes über das Jahr 1973 wird in einer Collage linker Zeitschriften auch ein Ausschnitt des Titelblatts des METZGER Nr. 19 mit dem behördlichen Zusatz „Anarchistische Blätter“ abgebildet. Hast du eine Ahnung, wie es dazu kam? Hatte dieses staatliche Stigma damals irgendwelche Auswirkungen positiver oder negativer Art? Gab es unabhängig von diesem Ereignis später direkte staatliche Repressionen gegen den METZGER, z.B. im sogenannten deutschen Herbst?
Zunächst würde ich ja gerne mal erfahren: Wie ist eigentlich das Bundesamt für Verfassungsschutz in den Besitz dieses Heftes gekommen? Nun, in der Zeit war die Auflage hoch. Vielleicht haben die irgendwelche linken Buchhandlungen abgeklappert. Vielleicht war auch irgendein Abonnent Mitarbeiter des Bundesamtes. Und dann ist die Frage: Wie kommen die auf „anarchistisch“? Bei Wikipedia wird DER METZGER auch als eine Zeitschrift mit anarchistischer Tendenz geführt. Und ich war auch überrascht, daß die anarchistischen Archive wie z.B. von Stowasser und von Schmück in ihren Bibliografien und in ihren Sammlungen diese Zeitschrift auch führen. Ich hab den Stowasser auch gefragt: Wieso, ist das denn eine anarchistische Zeitschrift? Paßt das denn dazu? Und dann schrieb der mir zurück: Jaja, das lassen wir als anarchistisch gelten. Aber ich hab mich ja nie zum Anarchismus bekannt. Allein schon deshalb, weil die Gralshüter des Anarchismus mich erschrecken mit ihrem Dogmatismus. Ich bin ja nie Anarchist gewesen, ich war immer Stalinist.
Ich finde, Anarchismus ist als Lebenskonzept eine gute Sache. Daß man sich von keinem befehlen läßt und niemandem befiehlt. Das ist ein gutes Lebenskonzept, aber ein miserables Gesellschaftskonzept. Das ist ja nicht auszuhalten.
Die Frage ist auch, wie lange dauerte denn der Deutsche Herbst? Nicht so lange wie ein meteorologischer oder botanischer oder astronomischer Herbst, nicht drei Monate. Der dauerte eigentlich ein ganzes Jahrzehnt. Schon Anfang der 70er Jahre gab es eine Repressionswelle, und es gab eine sehr aggressive Tätigkeit der Polizei und der Sicherheitsbehörden. Und dann ist die Frage: Was bedeutet in dem Zusammenhang der Begriff „anarchistisch“? Ich erinnere daran, daß der erste Steckbrief, mit dem die RAF-Mitglieder gesucht wurden, die Überschrift hatte „anarchistische Gewalttäter“. Das waren ja gar keine Anarchisten. Die richtigen Anarchisten haben die RAF als „Leninisten mit Knarre“ bezeichnet, abfällig. Der Begriff „anarchistisch“ war kein geistesgeschichtlicher Begriff, sondern ein Kampfbegriff, nach dem Motto: Das sind die Allerschlimmsten. Und deshalb ist es dann schon sehr brisant, wenn man in diese Kategorie eingeordnet wird.
Ich wurde in den 70er Jahren vom Bundeskriminalamt beobachtet. Die haben sich auch nicht die geringste Mühe gegeben, ihre Beobachtung geheimzuhalten, die haben sich auffällig benommen, sind z.B. mit Fotoapparat in Nachbars Garten herumgestapft, um um mich herum eine Atmosphäre der Observation zu schaffen. Es gab auch die „Beobachtende Fahndung“, in Zeiten, in denen der Computer noch nicht eine so große Rolle spielte wie später, hat man da schon Methoden der Rasterfahndung entwickelt. Wer in der „Beobachtenden Fahndung“ war, das waren etliche tausend Leute, der konnte sicher sein, beim Grenzübertritt rausgewunken zu werden. Wir sind früher oft nach Holland gefahren, um da billig Tabak und billig Kaffee zu kriegen. Wenn man nicht durchgewunken wurde, sondern der Ausweis vorgezeigt werden mußte, dann wurden wir rausgewunken, und der Wagen wurde von oben bis unten durchsucht.
Die Herren vom Bundeskriminalamt haben sich mir auch vorgestellt. Weiterlesen
Die WAZ-Leser schreiben Leserbriefe an die WAZ
„Der Streik im öffentlichen Dienst ist unverschämt. Während in der privaten Wirtschaft Tausende Menschen um ihre Jobs bangen, tiefgreifende Gehaltseinbußen hinnehmen müssen und mit erhöhtem Leistungsdruck ihre Arbeit verrichten, leben die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes immer noch auf der Insel der Glückseligen. Dieser Streik ist ein Schlag ins Gesicht für alle Beschäftigten in der privaten Wirtschaft“, meint Thomas Doof aus Essen (Name geändert), der zwar nicht durchblickt, aber den Phrasen-Jargon des Christiansen-Palavers aufsagen kann („Insel der Glückseligen“, „Schlag ins Gesicht“). Und Schweinchen Schlau aus Bottrop meint: „Daß Verdi wegen 18 Minuten Mehrarbeit am Tag ohne Lohnausgleich, in dieser Zeit, gleich streikt, finde ich übertrieben, sinnlos. Die Bevölkerung leidet darunter am meisten. Man sollte verhandeln, daß wenn die 40-Stunden-Woche kommt, es fünf Jahre keine Entlassungen mehr gibt.“
Von dem Vorschlag, als Gegenleistung für längere Arbeitszeit fünf Jahre lang auf Entlassungen zu verzichten, werden die Arbeitgeber so angetan sein, daß sie dem ohne Arbeitskampf glatt zustimmen, nachgiebig und einsichtig, wie sie nun mal sind. Fragt sich nur, warum die Arbeitgeber gerade auf das verzichten sollen, was sie mit der Arbeitszeitverlängerung doch erreichen wollen, nämlich die Vernichtung von Arbeitsplätzen. „Stelleneinsparungen“ sind das erklärte Ziel der Arbeitgeber im öffentlichen Dienst. Die erreicht man allerdings nicht bloß durch Entlassungen, sondern viel eleganter durch Nicht-Neubesetzung. Darunter leidet die Bevölkerung letztlich mehr als unter den zeitweiligen Auswirkungen eines Streiks.
Und dem Thomas Doof aus Essen (Name passend) müßte mal erklärt werden, daß die „Insel der Glückseligen“, der öffentliche Dienst nämlich, in den letzten 15 Jahren der Wirtschaftsbereich mit dem größten Verlust von Arbeitsplätzen war. Die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes spielen für die Arbeitgeber der „privaten Wirtschaft“ die Vorreiterrolle bei der Arbeitsplatzvernichtung.
aus: DER METZGER 76 (2006)
Einer meinte, die unbedingt notwendigen Reformen wären jetzt unbedingt notwendig
Der Kündigungsschutz müßte abgeschafft werden, weil nur so neue Arbeitsplätze entstehen. Die Arbeitszeiten müßten verlängert werden, weil nur so neue Arbeitsplätze entstehen. Sozial sei, was Arbeit schafft, Subventionen müßten weg, es müßte noch viel mehr „privatisiert“ und „dereguliert“ werden, und die Löhne müßten gesenkt werden, damit die Gewinne steigen, aus denen dann Investitionen gemacht werden, aus denen neue Arbeitsplätze entstehen.
Das ist ja nun wirklich nicht originell. Seltsam ist aber: Das sagte kein Politiker, kein Publizist und kein Arbeitgeberfunktionär, sondern das sagte ein ganz gewöhnlicher Zeitgenosse in einem Internetforum.
Solche Leute gibt es anscheinend tatsächlich. Eine seltsame Spezies! Die glauben an die „soziale Marktwirtschaft“ wie man an der Weihnachtsmann glaubt. Nur eins hat diese Randgruppe nicht begriffen: Daß derlei Propaganda nicht in ihren Zuständigkeitsbereich gehört. In der Kirche predigt der Pastor. Es ist unpassend, das, was der Pastor von der Kanzel predigt, dem Nebenmann ins Ohr zu sagen.
Die Politiker, Publizisten und Arbeitgeberfunktionäre predigen den Leuten, daß die unbedingt notwendigen Reformen jetzt unbedingt notwendig sind undsoweiter. Dabei glauben die selber nicht an das, was sie predigen. Die wissen, daß das nicht stimmt, daß auf diese Weise keine neuen Arbeitsplätze entstehen und entstehen sollen. Und die Leute, denen das gepredigt wird, glauben denen das auch nicht. Die wählen Kohl oder Schröder oder Merkel und sind fest davon überzeugt, daß sie von denen nur beschissen werden. Und sie wählen sie trotzdem. Und die Politiker, Publizisten und Arbeitgeberfunktionäre wissen, daß die, denen sie predigen, ihnen längst nicht mehr glauben. Aber das macht nichts. Es funktioniert trotzdem.
Und da geht einer daher, und wiederholt das, was ihm gepredigt worden ist. Die Politiker, Publizisten und Arbeitgeberfunktionäre finden das bestimmt nicht gut. Sie sagen: „Was soll das denn? Hält der jetzt unsere Reden?“
aus DER METZGER 76 (2006)
Der Dichter
Der Dichter dichtete, und die Empörer empören sich. Das kostet sie gar nichts.
Die Empörer bieten dem Antisemitismus Einhalt. Das sagen sie. Die Empörer sind in diesem Staat, in dieser Gesellschaft zu Hause.
Staat und Gesellschaft sind an der Überwindung von Antisemitismus und Faschismus nach 1945 gescheitert (wo kein Wille ist ist auch kein Weg). Man glaubte, den Antisemitismus abschaffen zu können, ohne sich mit den Antisemiten anlegen zu müssen. Man „findet“ den Antisemitismus lieber da, wo es nichts kostet, sich über ihn zu empören. Und Henryk M. Broder, der sich zum Liebling der Rechtspopulisten runtergeschrieben hat, darf in diesem Spektakel wieder Richter spielen.
Zitat aus dem Kommentar, den Sie kennen sollten: „Die ebenso kalkulierbare wie ritualisierte Inflation des Antisemitismusvorwurfs trägt zu seiner Überwindung nichts bei. ‚Antisemitismus‘ wird von Broder und seinen Bewunderern zur Bedeutungslosigkeit heruntergequasselt.“
Und noch ein Satz (Wer hat den geschrieben?): „Die Aufklärung über den Nationalsozialismus findet durch seine Anhänger statt, nicht durch seine Gegner.“
Lesen Sie den Kommentar von Lina Ganowski zu Günter Grass und den Empörern aus DER METZGER Nr. 100.